LSG Bayern, Urteil vom 10.05.2016 - 15 VG 39/12
Beschädigtenversorgung nach dem OEG
Ärztlicher Heileingriff
Strafbarkeit eines Eingriffs
1. Grundvoraussetzung für die Bewertung eines ärztlichen Eingriffs als "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" i.S.
des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist, dass dieser als vorsätzliche Körperverletzung strafbar ist.
2. Deshalb ist die einschlägige Rechtsprechung der Strafgerichte, insbesondere des BGH, zu beachten: Danach erfüllt jeder
ärztliche Eingriff den Tatbestand einer (vorsätzlichen) Körperverletzung i.S. des § 223 Abs. 1 StGB; er bedarf grundsätzlich der Einwilligung, um rechtmäßig zu sein.
3. Diese Einwilligung kann nur wirksam erteilt werden, wenn der Patient in der gebotenen Weise über den Eingriff, seinen Verlauf,
seine Erfolgsaussichten, seine Risiken und mögliche Behandlungsalternativen aufgeklärt worden ist; Aufklärungsmängel können
eine Strafbarkeit des Arztes wegen (vorsätzlicher) Körperverletzung jedoch nur begründen, wenn der Patient bei einer ordnungsgemäßen
Aufklärung nicht in den Eingriff eingewilligt hätte.
4. Das Fehlen einer "hypothetischen Einwilligung" ist dem Arzt nachzuweisen.
5. Nach Auffassung des erkennenden Senats wird ein Patient unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des OEG dann zum Gewaltopfer, wenn ein als vorsätzliche Körperverletzung strafbarer ärztlicher Eingriff objektiv - also aus der Sicht
eines verständigen Dritten - in keiner Weise dem Wohl des Patienten dient.
Vorinstanzen: SG Bayreuth 01.08.2012 S 4 VG 5/11
Tenor I.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 1. August 2012 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand
Die 1974 geborene Klägerin war zunächst als Bäckerin tätig, absolvierte sodann eine Umschulung zur Bürokauffrau und hat zuletzt
eine Ich-AG geführt; seit 01.07.2007 erhält sie Rente wegen voller Erwerbsminderung. Sie begehrt Beschädigtenversorgung nach
dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten ( Opferentschädigungsgesetz - OEG) in Verbindung mit den Vorschriften des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG).
Am 16.08.2008 teilte die Klägerin dem Beklagten im Rahmen ihres schwerbehindertenrechtlichen Widerspruchsverfahrens mit, dass
sie um Prüfung bitte, "in wie weit versorgungsrechtliche Grundsätze nach § 5 SGB I in meinem besonderen Fall anzuwenden sind und welche versorgungsrechtlichen Ansprüche/Konsequenzen sich daraus hinsichtlich
des OEG respektive des BVG für mich ergeben." Der Beklagte wertete dies als Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG und bestätigte dies mit Schreiben vom 13.11.2008, zugleich bat er um Ausfüllung und Rücksendung des beigefügten Antragformulars.
Nachdem er die Klägerin hieran mit Schreiben vom 29.12.2008 erinnert hatte, teilte diese laut Telefonnotiz vom 15.01.2009
mit, "daß sie bisher keinen Antrag nach dem OEG stellen wollte, sondern sich nur über event. Ansprüche erkundigen möchte. Sie möchte erst das Klageverfahren in ihrer SGB IX Angelegenheit abwarten und wird dann ggf. die Antragsunterlagen übersenden."
Am 20.02.2010 ging sodann das von der Klägerin ausgefüllte und unterschriebene Antragsformular nebst medizinischen Unterlagen
beim Beklagten ein. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, sie habe sich im Juni 1994 an die Gynäkologin Dr. W. gewandt,
weil sie keine Menstruation bekommen habe. Dr. W. habe eine Hormonuntersuchung und eine Chromosomenanalyse veranlasst und
ihr sodann mitgeteilt, dass eine primäre Sterilität bestehe, und sie zur weiteren Abklärung an die Universitätsklinik E-Stadt
überwiesen. Dort habe man zunächst zur Inspektion ihrer inneren Genitalorgane eine Laparoskopie durchgeführt und sie nach
weiteren Untersuchungen mit den Diagnosen Adreno-Genitalen-Syndrom (AGS) und Vergrößerung der Klitoris entlassen, wobei sie
ab September 1994 weibliche Geschlechtshormone habe einnehmen sollen. In der Folgezeit sei sie jedoch schwer unter anderem
an Knochenschwund erkrankt, weshalb im Januar 1995 das Hormonmedikament umgestellt worden sei. Infolge dringender ärztlicher
Empfehlung, dass eine chirurgische Verkleinerung der krankhaft vergrößerten Klitoris erforderlich sei, habe sie sich am 06.07.1995
in der Universitätsklinik E-Stadt operieren lassen. Anschließend sei sie erneut schwer erkrankt, weshalb sie ab Februar 2005
zunächst arbeitsunfähig gewesen und seit Juni 2007 erwerbsunfähig sei. Zwischenzeitlich wisse sie, dass sie mit einer Störung
der männlichen Geschlechtsentwicklung bei rein männlichem Chromosomensatz 46, XY geboren worden und keine der ihr mitgeteilten
Diagnosen bzw. Indikationen zutreffend gewesen seien. Aus den beigefügten Patientenakten ergebe sich sogar, dass ihre behandelnden
Ärzte sie vorsätzlich über ihre gesundheitliche und geschlechtliche Konstitution getäuscht hätten. Dadurch hätten sie erwirkt,
verweiblichende medizinische Behandlungen durchführen zu können, worin ein vorsätzlicher rechtswidriger, tätlicher Angriff
auf ihre körperliche Unversehrtheit im Sinne des § 223 Strafgesetzbuch ( StGB) zu sehen sei. Mit Bescheid vom 26.07.2010 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher
Angriff im Sinne des OEG sei nicht nachgewiesen. Ein ärztlicher Heileingriff stelle, sofern er lege artis durchgeführt werde und medizinisch indiziert
sei, keinen tätlichen Angriff im Sinne des OEG dar, da die körperliche Integrität nicht rechtswidrig in strafbarer Weise verletzt werde.
Hiergegen legte die Klägerin am 22.08.2010 Widerspruch ein, welchen ihr Prozessbevollmächtigter am 10.02.2011 begründete.
Die vorgenommenen ärztlichen Eingriffe seien keine lege artis durchgeführten Heileingriffe. Die Klägerin sei von den behandelnden
Ärzten vorsätzlich über ihre gesundheitliche und geschlechtliche Konstitution falsch informiert worden. Die vorgenommenen
chirurgischen Eingriffe seien medizinisch nicht notwendig gewesen. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.03.2011 wies der Beklagte
den Widerspruch zurück. Jeder ärztliche Eingriff erfülle grundsätzlich den Tatbestand einer vorsätzlichen Körperverletzung
und bedürfe daher der Einwilligung des Patienten, um rechtmäßig zu sein. Nach den vorliegenden Unterlagen habe die Klägerin
ihre Einwilligung zu der maßgeblichen Operation erteilt. Dabei werde davon ausgegangen, dass der Operation, wie vorgeschrieben,
eine ausführliche Aufklärung vorausgegangen sei, auch wenn sich nur eine Dokumentation über das Aufklärungsgespräch mit dem
Anästhesisten in den Krankenakten befinde. Unbeschadet dessen könne zwar nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ein Patient,
der mangels hinreichender Aufklärung keine wirksame Einwilligung zum ärztlichen Eingriff erteilt habe, Gewaltopfer im Sinne
des OEG sein, sofern eine feindselige Angriffshandlung des Arztes gegeben sei. Bei vorhandener Heilungsabsicht sei es jedenfalls
nicht gerechtfertigt, den ärztlichen Eingriff als eine gezielte gewaltsame Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit des
Patienten zu bewerten. Die Grenze zur Gewalttat im Sinne des OEG sei danach nur dann überschritten, wenn der Eingriff aus Sicht eines objektiven verständigen Dritten in keiner Weise dem
Wohle des Patienten diene. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn sich der Arzt im Wesentlichen von eigenen finanziellen
Interessen leiten lasse, wofür es vorliegend keine Anzeichen gebe.
Mit diesem Ergebnis des Verwaltungsverfahrens hat sich die Klägerin nicht einverstanden gezeigt und am 14.04.2011 beim Sozialgericht
Bayreuth (SG) Klage erhoben. Sie sei von den Ärzten des Universitätsklinikums E-Stadt nicht über ihre männliche Grunddisposition aufgeklärt
worden, vielmehr habe man ihr eine rein weibliche Geschlechtszugehörigkeit bestätigt. Ebenso falsch sei die Information gewesen,
dass sie als weiblicher Mensch an einer krankhaften Hypertrophie ihrer Klitoris leide, die operativ reduziert werden könne.
Dass sie stattdessen einen unterentwickelten Penis habe und dieser zur Herstellung eines weiblichen Genitals amputiert werden
müsse, habe man ihr wiederum nicht mitgeteilt. Es sei davon auszugehen, dass sie bewusst falsch informiert worden sei, und
die behandelnden Ärzte zur Rechtfertigung ihres vor den Eingriffen liegenden Verhaltens diese dann tatsächlich durchgeführt
hätten. Eine Heilungsabsicht könne in keiner Weise vorgelegen haben. Die von ihr als defizitär empfundene körperliche Situation
habe durch das Vorgehen der Ärzte nicht bereinigt, sondern nur verschlimmert werden können.
Nach richterlichem Hinweis, es komme maßgeblich darauf an, ob sich die behandelnden Ärzte aus rein egoistischen Motiven über
das Wohl der Klägerin hinweggesetzt und ihre Belange missachtet hätten, wobei die egoistischen Motive die ärztliche Heilungsabsicht
eindeutig überwogen haben müssten, hat die Klägerin weiter vorgetragen, dass es sich bei den an ihr vollzogenen Behandlungen,
den Medikamentengaben und Operationen um den Versuch gehandelt habe, ihr ein Geschlecht zuzuweisen, ihr Geschlecht mit chemischen
Mitteln zu feminisieren und optisch anzugleichen. Daraufhin hat das SG mit Urteil vom 01.08.2012 die Klage im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, der Bescheid des Beklagten vom 26.07.2010
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2011 sei nicht zu beanstanden. Die Klägerin sei nicht Opfer eines vorsätzlichen,
rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des OEG geworden. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung sei nicht jeder als vorsätzliche Körperverletzung strafbare ärztliche Eingriff
zugleich auch ein entschädigungspflichtiger vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne einer in feindseliger
Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung. Neben der Strafbarkeit als Vorsatztat
müssten weitere Voraussetzungen hinzukommen, bei deren Vorliegen erst die Grenze zur Gewalttat, also zum vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriff im Sinne des OEG, überschritten sei. Unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des OEG werde ein Patient dann zum Gewaltopfer, wenn ein als vorsätzliche Körperverletzung strafbarer ärztlicher Eingriff objektiv
- also aus Sicht eines verständigen Dritten - in keiner Weise dem Wohl des Patienten diene. Gemessen an diesen Grundsätzen
sei die Klägerin nicht Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Ärztliche Eingriffe in Heilungsabsicht
könnten grundsätzlich nicht feindselig sein. Der bei der Klägerin durchgeführte Eingriff sei zudem im System der gesetzlichen
Krankenversicherung vorgenommen worden, das nicht von der Gewinnerzielung, sondern der Kostendeckung geprägt sei. Die Annahme
einer egoistischen Motivlage negiere zudem den Rollenkonflikt, in dem sich die Klägerin befinde. Bei Auslegung des Begriffs
Feindseligkeit schließlich könnten gesellschaftliche Wertvorstellungen nicht ausgeklammert bleiben. Fehlerhafte ärztliche
Eingriffe zur Behandlung von Intersexualität könnten allenfalls dann feindselig sein, wenn die gesellschaftspolitische Diskussion
in einem entsprechenden Exekutivakt geendet hätte.
Gegen das am 06.11.2012 ihr zugestellte Urteil hat die Klägerin am 28.11.2012 beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) Berufung
eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, unstreitig sei, dass es sich bei einem ärztlichen Eingriff um eine
vorsätzliche Körperverletzung handele, die vorhandene Heilungsabsicht jedoch einen Rechtfertigungsgrund darstelle. Eine solche
habe vorliegend nicht bestanden, die sie behandelnden Ärzte hätten vielmehr ihr Unwissen und ihre Angst ausgenutzt, um eigene
Vorstellungen über ihre Geschlechterzugehörigkeit umzusetzen. Entgegen der Auffassung des SG könnten vorliegend sehr wohl die ärztlichen Behandlungsmaßnahmen, bestehend aus einer Operation und einer medikamentösen
Behandlung, in ihrer Gesamtheit als tätlicher Angriff gewertet werden.
Das Gericht hat unter anderem die die Klägerin betreffenden Behindertenakten des Beklagten beigezogen. Danach hat der Beklagte
in Ausführung eines Gerichtsbescheides des SG vom 28.11.2013 ab 01.06.2007 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 anerkannt, wobei der Feststellung folgende Gesundheitsstörung
zugrunde liegt: "Folgen von Hormonmangel bei Gonadendysgenesie." Weiter hat es die Akten des Landgerichts C-Stadt (LG) - -
betreffend die Arzthaftungsklage der Klägerin beigezogen. Ausweislich dieser hat das LG am 17.12.2015 ein Teilgrund- und Teilendurteil
erlassen, wonach das Universitätsklinikum E-Stadt wegen eines ohne wirksame Einwilligung am 06.07.1995 erfolgten operativen
Eingriffs dem Grunde nach verpflichtet ist, die immateriellen Schäden zu ersetzen, die der Klägerin aufgrund der ärztlichen
Behandlung am 06.07.1995 entstanden sind. Weiter wurde festgestellt, dass das Universitätsklinikum E-Stadt verpflichtet ist,
der Klägerin bereits entstandene und zukünftige materielle Schäden zu ersetzen, die aus der Behandlung vom 06.07.1995 entstanden
sind bzw. noch entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind oder noch übergehen
werden. Im Übrigen wurde die Klage gegen Prof. Dr. S., der die Klägerin am 06.07.1995 operiert hatte, abgewiesen. Das Urteil
ist noch nicht rechtskräftig, da das Universitätsklinikum E-Stadt Rechtsmittel eingelegt hat.
Dem Tatbestand des Urteils ist folgender unstreitiger Sachverhalt zu entnehmen: "Im Juni 1994 stellte sich A. bei der niedergelassenen
Frauenärztin Dr. med. W. vor. Es handelte sich um die erste frauenärztliche Vorstellung von A ... In der Anamnese erfasste
Dr. med. W., dass eine primäre Amenorrhoe (kein Eintritt der Regelblutung nach dem 16. Lebensjahr) abzuklären sei und die
Patientin unter der mangelnden Ausprägung der Mammae leide. Geschlechtsverkehr habe sie bereits einmal durchgeführt. A. sei
als normales Mädchen aufgewachsen und von Seiten ihrer Eltern oder von ärztlicher Seite nie auf die Amenorrhoe angesprochen
worden, eben so wenig wie auf die körperlichen Veränderungen. Dies sei in der ländlich konservativ geprägten sozialen Umgebung
totgeschwiegen worden. Dr. med. W. führte palpatorische und eine sonographische Untersuchung durch und veranlasste serologische
und zytologische Untersuchungen sowie eine Chromosomenanalyse. Anschließend überwies sie A. an die Frauenklinik der Beklagten
zu 1) ... zur weiteren Abklärung und ggf. operativen Intervention. Im Arztbrief vom 08.08.1994 sind folgende Befunde aufgeführt:
... Als Diagnose war angegeben: "Maskulinisierung bei Psychosexuell weiblicher Ausprägung, phänotypisch überwiegend weibliche
Ausprägung, chromosomal männlichen Chromosomensatz (Karyotyp: 46,XY)". Desweiteren enthält der Arztbericht folgende Ausführungen:
"Ich darf Ihnen Frau A. nun zur weiteren Abklärung und ggf. operativen Intervention vorstellen. Natürlich habe ich die Patientin
nicht auf den männlichen Chromosomensatz hingewiesen. Ich habe ihr erklärt, dass primäre Sterilität besteht. Kohabitationsfähigkeit
ist wohl gegeben."
A. wurde am 12.08.1994 in der Klinik für Frauenheilkunde mit Poliklinik der Beklagten zu 1) stationär aufgenommen. A. wurde
von den Ärzten der Beklagten zu 1) diagnostisch in die Gruppe der "Störungen der Geschlechtsentwicklung" und hier zur Gruppe
von Menschen mit einer "46, XY DSD" ("Disorder of sex development") eingeordnet. Das Behandlungskonzept der Beklagten zu 1)
sah vor, zunächst die bei A. vorliegende Störung der Geschlechtsentwicklung bzw. deren Ursachen näher zu klären und im Anschluss
hieran eine geschlechtszuweisende Therapie einzuleiten. Im Rahmen der weiterführenden Diagnostik sollte ermittelt werden,
ob sich bei A. sogenannte "Müller-Derivate", d.h. weibliche Genitalwege finden oder nicht, sowie, ob sich Hoden nachweisen
ließen. Die Ärzte der Beklagen zu 1) gingen davon aus, dass im Falle des Nachweises weiblicher Genitalwege als Ursache der
Störung der Geschlechtsentwicklung die sogenannte "Reine Gonadendysgenesie" nach der Klassifikation von T. Allen von 1976
anzunehmen sei. Im Falle, dass keine weiblichen Genitalwege vorhanden seien oder stattdessen ein Hoden nachweisbar sei, war
bei den Ärzten der Beklagten zum Behandlungszeitpunkt als Ursache die sogenannte "Androgeninsensivität" oder "testikuläre
Feminisierung" bekannt ... Am 12.08.1994 erfolgte eine Ultraschalluntersuchung ... Diese ergab den Befund: "1. keine sichtbaren
Ovarien, 2. kein Uterus darstellbar, 3. die im Speculum dargestellte kl. Portio war ultrasonographisch ebenfalls n. darstellbar."
Da die tatsächliche Anlage der vorhandenen Genitalorgane mittels Ultraschall und als Befund nur eingeschränkt beurteilbar
war, wurde für den 15.08.1994 eine diagnostische Laparoskopie zur weiteren Abklärung geplant. Am 12.08.1994 erfolgte hierzu
ein Aufklärungsgespräch, bei dem ein Standardaufklärungsbogen für Patientinnen zur Bauchspiegelung Anwendung fand, auf dem
handschriftlich unter vorgeschlagene weiterführende Eingriffe vermerkt ist: "diagnost. LSK, ev. Probeentnahmen". Unter der
Rubrik "Ärztlicher Vermerk zum Aufklärungsgespräch" ist handschriftlich eingetragen: "Über Risiken und Verfahren ausführlich
besprochen, eine Erweiterung des Eingriffs ist nicht geplant". Der Aufklärungsbogen mit Einwilligung wurde von A. unterschrieben.
Im Rahmen der Laparoskopie ergaben sich laut dem Operationsbericht vom 15.08.1994 folgende Feststellungen: Der Uterus fehle,
auf der rechten Seite finde sich rudimentär angelegt eine Struktur, die Adnexen entsprechen könne aus Gewebe, das vom makroskopischen
Aspekt her zunächst einer ganz kleinen Streakgonade entspreche. Hier werde eine Biopsie entnommen. Bei der näheren Inspektion
finde sich dahinter noch etwas mehr weißlich aussehendes Gewebe. Rechts davon lasse sich eine peritonealisierte Struktur erkennen,
die möglicherweise einer aufgetriebenen rudimentären Tube entspreche. Ein in die Scheide eingeführter Tupfer zeige eindeutig,
dass die Vagina bei der Patientin blind ende. Von dem rechts entnommenen Gewebe werde ein Teil zur histologischen, der andere
zur zytogenetischen Untersuchung gegeben. Der dokumentierte patho-histologische Befund des Biopsiepräparats vom 16.08.1994
ergab, dass die Gewebsstücke weder Ovarialstroma noch Hodengewebe enthielten. Der zyto-genetische Untersuchungsbefund vom
09.09.1994 ergab einen männlichen Karyotyp 46,XY und die Analyse der Zellen der Gewebeprobe einen unauffälligen männlichen
Chromosomensatz. Darüber hinaus erfolgten während des stationären Aufenthalts bei der Beklagten zu 1) am 22.08.1994 hormonelle
Untersuchungen zur Komplettierung der Diagnostik hinsichtlich einer gemischten Gonadendysgenesie sowie zum Ausschluss eines
Androgen-Insensitivitäts-Syndroms und eines 5-alpha-Reductase-Mangels ... Nach Abschluss der geschilderten Diagnostik stellten
die Ärzte der Beklagten zu 1) die Diagnose einer gemischten Gonadendysgenesie als Ursache des intersexuellen Genitals der
Klagepartei. Aufgrund dieser Diagnose, der psychosexuellen und phänotypisch überwiegend weiblichen Ausprägung und aufgrund
des Umstands, dass sie bei A. keine unsichere Geschlechtsidentität erkannten, empfahlen die Ärzte der Beklagten zu 1) eine
hormonelle Substitutionstherapie mit dem Präparat Cycloprogynova, die bis einschließlich Dezember 1994 durchgeführt wurde.
Ab Januar 1995 kam es zu einer Umstellung auf das Präparat Lyndiol.
Vom 28.06.1995 bis 30.06.1995 wurde A. erneut bei der Beklagten zu 1) stationär aufgenommen. Die Patientendokumentation enthält
unter den Rubriken "jetzige Anamnese" bzw. "Aufnahmebefund und Verlauf" u. a. den Vermerk: "Seit ca. 3 Monaten leichte Bltg.
sowie Regelschmerzen lt. Pat.; jetzt eingewiesen zur plast. Operation bei Klitorishyperplasie". Unter dem 29.06.1995 ist unter
"Befund:" u. a. vermerkt: "deutliche, phallische Klitorishypertrophie, am Scheidenende meint man, eine winzige Portio zu sehen;
Patientin berichtet von Blutungen!". Der stationäre Aufenthalt diente der Vorbereitung einer geplanten plastischen Operation
bei Klitorishyperplasie. Am 05.07.1995 erfolgte die stationäre Wiederaufnahme bei der Beklagten zu 1). Unter dem 05.07.1995
unterschrieb A. ein einseitiges Formblatt "Zustimmung zur Operation", auf dem handschriftlich eingetragen ist: "plastische
Korrektur bei Klitorishyperplasie". Am 06.07.1995 nahm der Beklagte zu 2) als Operateur unter interdisziplinärer Beteiligung
der urologischen Klinik den Eingriff vor. Es wurde eine Klitorisreduktionsplastik unter nutritiver und sensibler Protektion
der Glans in Kombination mit der Anlage einer Labioplastik vorgenommen. Der resezierte Schwellkörper betrug 2,0 x 2,5 cm.
In der Patientenakte vom 09.07.1995 ist vermerkt, die Patientin sei "sehr glücklich über das Operationsergebnis". A. wurde
am 12.07.1995 aus der stationären Behandlung entlassen.
In den Folgejahren setzte A. die Hormonsubstitution mit dem Präparat Lyndiol fort. Als dieses Präparat vom Markt genommen
wurde, erfolgte im März 2001 durch die Gynäkologische Endokrinologie der Beklagten zu 1) eine Umstellung auf das Präparat
Marvelon. Im Februar 2004 wandte sich A. wieder an die Frauenklinik der Beklagten zu 1). Der Behandlungsdokumentation der
Gynäkologischen Endokrinologie der Beklagten zu 1) ist zu entnehmen, dass A. geschildert habe, sie habe unter der Einnahme
von Marvelon seit Oktober 2003 Schwindel, Parästhesien am ganzen Körper und seit vier Wochen zusätzlich Ödembildung festgestellt
... In einem Arztbrief von Dr. C. vom 14.09.2004 an das Humangenetische Institut der Beklagten zu 1) heißt es auszugsweise:
"Im Rahmen der Gespräche und Untersuchungen ergab sich der Eindruck, dass die Patientin kaum oder nur unzureichend über ihre
Grunddisposition aufgeklärt ist (Fragen nach Fertilität wurden gestellt) und sich nur schwer mit der Hormonbehandlung abfindet.
Den Akteneinträgen nach hat eine solche Aufklärung auch noch nicht ausreichend stattgefunden. Diese Aufklärung erscheint umso
wichtiger, als nachfolgende empfohlene diagnostische und therapeutische Schritte (Laparoskopie zur Gonadektomie sowie weitere
Hormonsubstitution) auf dem Verständnis und der Compliance der Patientin beruhen." Am 15.09.2004 erfolgte im Humangenetischen
Institut der Beklagten zu 1) eine humangenetische Begutachtung und Beratung von A. durch PD Dr. R ... Diese führte anschließend
im Arztbrief vom 15.09.2004 an die Abteilung für Endokrinologische Gynäkologie aus: "Frau A. zeigte sich als selbstbewusste,
patente Frau, die über ihre Situation aufgeklärt werden wollte. Wir erklärten ihr daher die Rolle der Geschlechtschromosomen
an sich und, dass ihr Chromosomensatz eigentlich zu einer männlichen Körperausprägung führen sollte. Da jedoch anscheinend
ein nicht mehr bekannter Defekt vorliegt, konnte dies nicht geschehen, so dass sie trotz des XY-Chromosoms eine Frau ist.
Frau A. akzeptierte diese Diagnose mit Fassung und betonte, dass es schlimmeres gäbe und sie ja nicht krank sei. Frau A. gab
auch an, als Mädchen aufgewachsen zu sein und keine Probleme mit der Identifizierung als Frau zu haben. Wir bestätigten sie
darin, dass sie auch eine Frau sei."
Den beigezogenen Akten des LG ist weiter zu entnehmen, dass mit Beweisbeschlüssen vom 28.03.2013, 28.10.2013 und 12.05.2014
Prof. Dr. H., Arzt für Kinder- und Jugendmedizin, mit der Erstellung eines medizinischen Sachverständigengutachtens nebst
Ergänzungsgutachten beauftragt worden ist. Der gerichtlich bestellte Sachverständige hat die beauftragten Gutachten unter
dem 12.08.2013, 03.02.2014 und 05.08.2014 erstattet. Ergänzend wurde er in der Sitzung des LG am 26.02.2015 mündlich angehört.
Der Sachverständige hat unter anderem Folgendes ausgeführt:
"Zusammenfassend liegt damit bei A. am ehesten eine partielle Gonadendysgenesie vor. Im Jahr 1994 wurde die Behandlung von
Menschen mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung im wesentlichen nach den Vorstellungen einer klaren Zuordnung zu den
beiden Geschlechtern männlich/weiblich unter dem Gedanken eines erheblichen Sozialisierungspotentials des Menschen in einem
zugeordneten Geschlecht vorgenommen ... Ich gebe daher zunächst eine deutsche Quelle, nämlich das Fachbuch "Pädiatrische Endokrinologie",
..., erschienen im Enke Verlag 1993, an. In Kapitel 5 ... gibt der Autor Prof. Gernot Sinnecker die damalige Meinung zur Geschlechtszuordnung
und zum Vorgehen an. Er schreibt: "Die rasche, richtige und sichere Festlegung des Geschlechts, in dem ein Kind mit zwittrigem
Genitale aufwachsen soll, ist für seine weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Die Entscheidung basiert auf der
Einschätzung, in welchem Geschlecht am ehesten mit einer normalen Genitalfunktion gerechnet werden kann. Diese Einschätzung
ist abhängig von anatomischen Verhältnissen, insbesondere von der Größe und dem Entwicklungspotential des Phallus. Die operativen
Korrekturmöglichkeiten und auch die kulturellen Gegebenheiten der betroffenen Familie müssen berücksichtigt werden. Deshalb
soll diese Entscheidung gemeinsam mit Fachvertretern der Gynäkologie, der Urologie, Kinderchirurgie, Psychologie und Humangenetik
getroffen werden." Im Verlauf heißt es: "Der äußere Aspekt des Genitale sollte weder bei den Eltern, noch bei dem Kind selbst
und bei seinen Spielgefährten Zweifel an seiner Geschlechtsidentität aufkommen lassen. Deshalb ist bei allen Kindern, die
ein zwittriges Genitale haben und als Mädchen aufwachsen, eine möglichst frühzeitige Korrektur des äußeren Genitale (Vulvaplastik)
anzustreben. Eine Reduktionsplastik der Klitoris, bei der unter Erhaltung der Gefäßnervenstränge und der Glans nur der Phallusschaft
entfernt wird, kann bei phallusähnlicher Klitorishypertrophie indiziert sein." Dieser Beitrag, in einem damals anerkannten
Textbuch, gibt die damals vorherrschende Meinung wieder." (Gutachten vom 12.08.2013) "Auch in der "Erwachsenenmedizin" wurde
das Vorgehen bei Menschen mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung dargestellt. Jean Wilson und James Griffin gehörten
zu jener Zeit zu den international bekanntesten Internisten, die sich damit beschäftigten. Diese beiden Ärzte und Wissenschaftler
haben das Kapitel "Disorders of Sexual Differentiation" ... geschrieben ..., in dem es heißt, dass "die Entscheidung zum Vorgehen
der Genitalauffälligkeiten vom individuellen Fall" abhängen. Hier heißt es auch, dass "männliche Neugeborene mit ambivalenten
Genitale" bei "schwerwiegenden Fehlbildungen als Mädchen aufwachsen sollten und Korrekturoperationen des Genitale und Entfernung
der Hoden so früh wie möglich vorgenommen werden sollten". "In diesen Menschen ist auch eine Östrogentherapie indiziert zum
angemessenen Zeitpunkt, um die Entwicklung normaler weiblicher sekundärer Geschlechtsmerkmale zu ermöglichen" ... Bei den
geschlechtsangleichenden Operationen ist damals am ehesten von einer relativen Indikation ausgegangen worden, um die Lebensqualität
der Patienten zu verbessern. Nach den gängigen Lehrbuchartikeln waren diese Operationen "angebracht" ... Die Bestimmung des
Chromosomensatzes allein lässt also keine Zuordnung Richtung "männlich" oder "weiblich" zu. Dies ist aus den o.a. Ausführungen
von Wilson und Griffin im Jahr 1994 zu entnehmen und ist auch in der sogenannten Chicago Consensus Conference konstatiert
worden. Wir wissen, dass es bestimmte Unterschiede in manchen Organen gibt, die durch XX oder XY bedingt sind; jedoch sind
die meisten anatomischen Veränderungen durch den hormonellen Einfluss hervorgerufen." (Ergänzungsgutachten vom 03.02.2014)
"Die Klägerin kann sicherlich über die technischen und inhaltlichen Möglichkeiten der Behandlungen aufgeklärt werden und hierzu
ihre Zustimmung geben. Einen Vorsatz zur falschen Aufklärung kann ich nicht erkennen ... Die Behandlung wurde von der Klägerin
gewünscht, die dazu ihre Zustimmung gegeben hat. Die Behandlung ist auch heute noch lt. Consensus-Statement als medizinisch
sinnvoll zu erachten, sofern die behandelte Person im weiblichen Geschlecht leben möchte." (Ergänzungsgutachten vom 05.08.2014)
"Menschen mit einem Chromosomensatz von 46 XY können eine komplett weibliche Anatomie mit voll ausgebildeter Gebärmutter und
voll ausgebildeten Eileitern haben. Dies liegt daran, dass bei diesen die Keimdrüse nicht richtig ausgebildet ist ... Es gibt
heute wie damals keine Evidenz für eine klare Behandlungsmethode ... Grundsätzlich ist eine Hormonbehandlung indiziert, zum
einen als Prävention gegen Osteoporose, zum anderen zur Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität und der sexuellen Lebensqualität.
Es werden deshalb Sexualhormone danach verabreicht, wie es dem Wunschgeschlecht des Patienten entspricht ... In der noch nicht
verabschiedeten S2K-Leitlinie wird die Hormonbehandlung entsprechend dem Phänotyp empfohlen ... Zum Zeitpunkt der Behandlung
im vorliegenden Rechtsstreit bestand sowohl in Deutschland, als auch in Europa die vorherrschende Meinung, dass der Chromosomensatz
dem Betreffenden nicht mitgeteilt wird. Die Universitätsklinik Lübeck hat Mitte der 90-iger Jahre begonnen, das bestehende
Konzept zu ändern und weitergehend aufzuklären. Dies wurde unterschiedlich gehandhabt. So ist mir bekannt, dass die Universität
Münster eine solche Information den Patienten nicht gegeben hat. Meine Ausführungen gelten nicht nur für den Kinder- und Jugendbereich,
sondern auch für den Erwachsenenbereich ... In unserer Klinik in Lübeck hätten wir 1995 einen Menschen, vergleichend dem vorliegenden
Fall, über den Chromosomensatz aufgeklärt. Ich weiß aber, dass andere Kollegen in anderen Kliniken das nicht getan haben.
Hintergrund für die war es, dass gerade ein erwachsener Mensch in einem bestimmten Geschlecht bereits sozialisiert ist und
eine Information über diesen Chromosomensatz zu einer Unsicherheit führen könnte, so dass insbesondere bei erwachsenen Patienten
die Angabe dieses Chromosomensatzes vermieden wurde ... Die erste Leitlinie zu diesem Themenkomplex gab es glaub ich 2007.
Alle Leitlinien sind nicht evidenzbasiert ... 1995 wurde mehr dazu gedrängt, die Person einem bestimmten Geschlecht zuzuordnen,
während man heute eher zurückhaltend ist und auch je nach Patientenwunsch eine Operation unterlassen kann ... Im Alter von
A. war damals eine "Entweder-Oder-Entscheidung" typisch ... es bestand ja die medizinisch relative Indikation, um medizinischen
Schaden bzw. Nachteil abzuwenden, zum Beispiel um die Ausübung des Geschlechtsverkehrs ohne Schmerzen zu ermöglichen. Eine
Operation bei DSD wird dementsprechend auch von der Krankenkasse bezahlt ... Damals war das Denken so, dass eine Operation
in die weibliche Richtung einfacher ist, als in die männliche ... Die anatomischen Gegebenheiten bei A. machten sicher eine
Operation in die weibliche Richtung einfacher. Heute würde man dessen ungeachtet nach dem Sozialisationsgeschlecht entscheiden,
ob und in welche Richtung man operiert. Ob 1995 bei A. die Möglichkeit bestand, in die männliche Richtung zu operieren, kann
ich aus meiner Fachrichtung nicht beantworten ... Die Einbindung eines Psychologen bzw. Psychiaters dient dazu, herauszufinden,
ob der betreffende Mensch in dem ihm bislang zugewiesenen Geschlecht weiter leben möchte oder Zweifel an der Geschlechtsidentität
bestehen. Die Einbindung eines solchen Arztes ist aber kein Muss, sondern wird auch in der S2K-Leitlinie mit "sollte" beschrieben.
Die Einbindung anderer Fachbereiche war 1994 eine bloße Empfehlung in Lehrbüchern." (Protokoll der öffentlichen Sitzung am
26.02.2015)
Mit Schriftsatz vom 08.04.2016 hat der Beklagte unter Bezugnahme auf vorgenanntes Urteil des LG nochmals ausführlich zum Klagebegehren
Stellung genommen:
Zweifelhaft sei bereits die Strafbarkeit der durchgeführten ärztlichen Eingriffe als vorsätzliche Körperverletzung. Behandlungsfehler
der Ärzte des Universitätsklinikums E-Stadt hätten nicht nachgewiesen werden können. Insbesondere habe auch der Eingriff vom
06.07.1995 dem damaligen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprochen. Auch bleibe fraglich, ob der Nachweis geführt werden
könne, dass es an einer hypothetischen Einwilligung der Klägerin fehle. Im Verfahren nach dem OEG sei das Fehlen einer hypothetischen Einwilligung nachzuweisen, gleiches gelte auch im Strafrecht. Zudem sei die Frage, ob
die Klägerin auch bei pflichtgemäßer Aufklärung in den Eingriff eingewilligt hätte, aus der Sicht ex ante, das heiße im Vorfeld
des Eingriffs zu beurteilen. Mit Blick insbesondere auf die Berichte der Klinik für Frauenheilkunde der Universität E-Stadt-C-Stadt
vom 18.12.1995 sowie der Privatdozentin Dr. R. vom 15.09.2004 erscheine es zweifelhaft, ob die Klägerin tatsächlich aus Sicht
ex ante im Falle hinreichender vorheriger Aufklärung eine Behandlung mit Testosteron versucht hätte, anstatt sich operieren
zu lassen. Darüber hinaus habe die Behandlung der Klägerin dem damals üblichen Vorgehen bei der Behandlung von Menschen mit
Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung entsprochen mit der Folge, dass die behandelnden Ärzte gerade nicht aus eigennützigen
Motiven vom eigenen ärztlichen Heilauftrag abgewichen seien. Dies werde auch durch einen von der Klägerin im Verfahren auf
Feststellung einer Behinderung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) vorgelegten Aufsatz von Herta Richter-Appelt
und Katinka Schweizer mit dem Titel "Intersexualität oder Störung der Geschlechtsentwicklung: Zur Behandlung von Personen
mit nicht eindeutigem körperlichen Geschlecht" bestätigt. Soweit die Klägerin schließlich der Auffassung sei, dass die hormonelle
Substitutionstherapie durch Verabreichung von Östrogenen den Tatbestand der Beibringung von Gift im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG erfülle, habe die Behandlung nach den Bekundungen des Sachverständigen Prof. Dr. H. und den Feststellungen des LG in seinem
Urteil vom 17.12.2015 gerade einem üblichen Vorgehen entsprochen, in welchem kein grober Behandlungsfehler gesehen werden
könne. Damit entfalle jedenfalls der Vorsatz hinsichtlich der Beibringung von Gift im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG.
Im Nachgang des Termins zur Erörterung des Sachverhalts am 26.04.2016 hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 09.05.2016, eingegangen
bei Gericht gleichfalls am 09.05.2016, nochmals Stellung genommen und unter anderem vorgetragen, während Prof. Dr. H. in vorgenannten
Gutachten angegeben habe, es habe sich nach seiner Einschätzung bei der Klitorisreduktion nicht um eine Schönheitsoperation
gehandelt, sei einer Veröffentlichung in der Ärzte Zeitung online vom 20.05.2011 unter dem Titel "Lübeck: Protest gegen Tagung
zu Intersexualität" zu entnehmen, dass er öffentlich eine konträre Meinung vertrete. Zudem habe sie schon beim SG ein umfassendes Literaturverzeichnis als Beweismittel vorgelegt, welches zeige, dass der angebliche Behandlungsstandard in
Sachen Hormontherapie schon im Jahre 1994 gegen wissenschaftliche Erkenntnisse verstoßen habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG vom 01.08.2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 26.07.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 21.03.2011 zu verurteilen, Beschädigtenrente nach einem GdS von mindestens 80 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des SG vom 01.08.2012 als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Gerichtsakten (L 15 VG 39/12, insbesondere die Niederschrift über den Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 26.04.2016 nebst dort zu den Akten gereichten
weiteren Unterlagen, und ), die beigezogen Akten des Sozialgerichts Bayreuth (S 4 VG 5/11 und S 11 SB 26/09), des Beklagten ( OEG- und Behindertenakte) sowie des LG C-Stadt - Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht kann den Rechtstreit nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ( SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten ausweislich der Niederschrift des Termins zur Erörterung
des Sachverhalts am 26.04.2016 hierzu ihr Einverständnis erteilt haben.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat zu Recht die Klage gegen den Bescheid vom 26.07.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.03.2011 abgewiesen.
Der angefochtene Bescheid ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin
ist nicht Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs der sie behandelnden Ärzte im Sinne des OEG geworden.
Wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine
oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften
des BVG, wobei die Anwendung dieser Vorschrift gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes
gehandelt hat. Die vorsätzliche Beibringung von Gift steht nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 gleich.
Bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geht der Senat grundsätzlich von folgenden Erwägungen aus (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteile vom 26.01.2016 L 15 VG 30/09 -, 16.11.2015 - L 15 VG 28/13 -, 20.10.2015 - L 15 VG 23/11 - und 05.02.2013 - L 15 VG 22/09 -, m.w.N.; siehe auch: Bundessozialgericht (BSG), Urteile vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - und 17.04.2013 - B 9 V 1/12 R sowie B 9 V 3/12 R -): Nach dem Willen des Gesetzgebers ist die Verletzungshandlung im OEG eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt, obwohl sich die Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auch an der im Strafrecht zu den §§ 113, 121 StGB gewonnenen Bedeutung orientiert (vgl. BSG, Urteile vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - und 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R -, m.w.N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB wird der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person geprägt und wirkt damit körperlich auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R -, m.w.n.). Dieses Verständnis der Norm entspricht am ehesten dem strafrechtlichen Begriff der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, also einem tätigen Einsatz materieller Zwangsmittel wie körperlicher
Kraft (vgl. BSG, a.a.O., m.w.n.). Trotz seiner inhaltlichen Nähe zur Gewalttätigkeit nach § 125 StGB setzt der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus, sodass auch ein nicht zum körperlichen Widerstand fähiges Opfer
von Straftaten unter dem Schutz des OEG steht (vgl. BSG, a.a.O., m.w.n.).
Danach ist unter einem tätlichen Angriff im Sinne des OEG grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung
zu verstehen, wobei ein tätlicher Angriff jedenfalls dann nicht vorliegt, wenn es an einer unmittelbaren Gewaltanwendung fehlt
(vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.). Fehlt es an einem tätlichen - körperlichen - Angriff, ergeben sich für die Opfer allein psychischer Gewalt
aus § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG keine Entschädigungsansprüche (vgl. BSG, a.a.O., m.w.n.). Auch eine (bloß) objektive Gefährdung reicht ohne physische Einwirkung, z.B. Schläge, Schüsse, Stiche,
Berührung etc., für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht aus (vgl. BSG, a.a.O., m.w.n.).
Von der Rechtswidrigkeit eines strafbaren tätlichen Angriffs ist auszugehen, soweit nicht ein Rechtfertigungsgrund gegeben
ist. Ein Angriff, der den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllt, ist grundsätzlich rechtwidrig. Die Tatbestandsmäßigkeit
indiziert die Rechtswidrigkeit (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 17.08.2011 - L 15 VG 21/10 -, m.w.N.).
Mit Blick auf die hier vorliegende besondere Fallkonstellation des ärztlichen Eingriffs ist weiter maßgeblich zu beachten,
dass das BSG in seinem Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - hierzu insbesondere Folgendes ausgeführt hat:
"b) Grundvoraussetzung für die Bewertung eines ärztlichen Eingriffs als "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff"
iS des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist danach, dass dieser als vorsätzliche Körperverletzung strafbar ist. Deshalb ist die einschlägige Rechtsprechung der Strafgerichte,
insbesondere des BGH, zu beachten. Danach erfüllt jeder ärztliche Eingriff den Tatbestand einer (vorsätzlichen) Körperverletzung
iS des § 223 Abs. 1 StGB. Er bedarf grundsätzlich der Einwilligung, um rechtmäßig zu sein. Diese Einwilligung kann nur wirksam erteilt werden, wenn
der Patient in der gebotenen Weise über den Eingriff, seinen Verlauf, seine Erfolgsaussichten, seine Risiken und mögliche
Behandlungsalternativen aufgeklärt worden ist. Aufklärungsmängel können eine Strafbarkeit des Arztes wegen (vorsätzlicher)
Körperverletzung jedoch nur begründen, wenn der Patient bei einer ordnungsgemäßen Aufklärung nicht in den Eingriff eingewilligt
hätte. Das Fehlen einer "hypothetischen Einwilligung" ist dem Arzt nachzuweisen. Eine Beschränkung der Strafbarkeit kann sich
zudem unter dem Gesichtspunkt des Schutzzweckgedankens ergeben, wenn sich ein Risiko realisiert, das nicht in den Schutzbereich
der verletzten Aufklärungspflicht fällt. Dies wird etwa dann in Betracht zu ziehen sein, wenn sich der Aufklärungsmangel lediglich
aus dem unterlassenen Hinweis auf Behandlungsalternativen ergibt, der Patient jedoch eine Grundaufklärung über die Art sowie
den Schweregrad des Eingriffs erhalten hat und auch über die schwerstmögliche Beeinträchtigung informiert ist (vgl aus der
neueren Rechtsprechung: BGH, Urteil vom 29.06.1995 - 4 StR 760/94 - BGHR StGB § 223 Abs. 1 Heileingriff 4 = MedR 1996, 22, 24 (Verwendung von "Surgibone"-Dübeln); BGH, Urteil vom 19.11.1997 - 3 StR 271/97 - BGHSt 43, 306, 308 f = NJW 1998, 1802, 1803 (Strahlenbehandlung); BGH, Beschluss vom 15.10.2003 - 1 StR 300/03 - JR 2004, 251, 252 (Bandscheibenoperation); BGH, Urteil vom 20.01.2004 - 1 StR 319/03 - JR 2004, 469, 470 (Durchführung einer zweiten Operation zur Bergung einer bei der ersten Operation abgebrochenen Bohrerspitze); BGH, Urteil
vom 05.07.2007 - 4 StR 549/06 - BGHR StGB § 223 Abs 1 Heileingriff 8 = MedR 2008, 158, 159 (Fettabsaugung mit Todesfolge); BGH, Urteil vom 23.10.2007 - 1 StR 238/07 - MedR 2008, 435, 436 ("Turboentzug"); dazu auch Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 223 Rn. 9, 15 ff, § 228 Rn. 12 ff). c) Der erkennende Senat entwickelt seine bisherige Rechtsprechung zur Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher,
rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG für die besondere Fallkonstellation des als vorsätzliche Körperverletzung strafbaren ärztlichen Eingriffs weiter. In aller
Regel wird zwar eine Handlung, die den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder
die körperliche Unversehrtheit erfüllt, eine Angriffshandlung iS des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein. Die Verletzungshandlung im OEG hat jedoch durch das Tatbestandsmerkmal "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" - allerdings in Anknüpfung an die
Vorschriften des StGB - eine eigenständige gesetzliche Ausprägung gefunden (vgl hierzu BSG, Urteil vom 28.03.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 235 f = SozR 3800 § 1 Nr. 4 Satz 8 f; BSG, Urteil vom 24.04.1991 - 9a/9 RVg 1/89 - SozR 3-3800 § 1 Nr. 1 S. 2; BSG, Urteil vom 10.09.1997 - 9 RVg 1/96 - BSGE 81, 42, 43 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 11 Satz 38; BSG, Urteil vom 03.02.1999 - B 9 VG 7/97 R - SozR 3-3800 § 1 Nr. 14 S. 56). Das bedeutet, dass nicht jeder als vorsätzliche Körperverletzung strafbare ärztliche Eingriff
zugleich ein "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den
Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung sein muss. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass ärztliche Eingriffe
- wie die gesamte Tätigkeit des Arztes - von einem Heilauftrag iS des § 1 Abs. 1 Bundesärzteordnung (danach dient der Arzt der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes; vgl dazu auch § 1 Abs. 1 Musterberufsordnung
für die deutschen Ärztinnen und Ärzte) bestimmt werden (vgl hierzu Laufs in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 6. Aufl. 2009,
S. 17 f; Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, S. 233 f). Ärztliche Eingriffe werden demnach grundsätzlich in der Absicht
durchgeführt, zu heilen und nicht in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf die körperliche Unversehrtheit des Patienten
einzuwirken. Zum anderen ergibt sich die Strafbarkeit eines ärztlichen Eingriffs als vorsätzliche Körperverletzung gerade
aus der Verknüpfung von vorsätzlichem Aufklärungsmangel, Fehlen einer wirksamen Einwilligung und damit rechtswidrigem Eingriff
in die körperliche Unversehrtheit. Eine strafbare vorsätzliche Körperverletzung kann bei einem ärztlichen Eingriff bereits
dann vorliegen, wenn der Arzt nicht ordnungsgemäß aufgeklärt hat und der Patient die Einwilligung zum ärztlichen Eingriff
bei ordnungsgemäßer Aufklärung nicht erteilt hätte. Es sind deshalb durchaus Fälle denkbar, bei denen der vorsätzliche Aufklärungsmangel
zwar zu einer strafbaren vorsätzlichen Körperverletzung führt, es wegen einer vorhandenen Heilungsabsicht jedoch nicht gerechtfertigt
ist, den ärztlichen Eingriff als eine gezielte gewaltsame Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit des Patienten, mithin
als eine feindselige Angriffshandlung iS des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, zu bewerten (vgl. etwa den der Entscheidung des BGH vom 20.01.2004 - 1 StR 319/03 - JR 2004, 469 zugrunde liegenden Fall der Durchführung einer zweiten Operation zur Bergung einer bei der ersten Operation abgebrochenen
Bohrerspitze bei unterlassener Aufklärung über Grund und Anlass der Maßnahme).
Für die besondere Fallkonstellation des ärztlichen Eingriffs müssen deshalb - neben der Strafbarkeit als Vorsatztat - bestimmte
weitere Voraussetzungen hinzukommen, bei deren Vorliegen die Grenze zur Gewalttat, also zum "vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriff", überschritten ist. Nach Auffassung des erkennenden Senats wird ein Patient unter Berücksichtigung des
Schutzzwecks des OEG dann zum Gewaltopfer, wenn ein als vorsätzliche Körperverletzung strafbarer ärztlicher Eingriff objektiv - also aus der Sicht
eines verständigen Dritten - in keiner Weise dem Wohl des Patienten dient. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich der Arzt
bei seiner Vorgehensweise im Wesentlichen von eigenen finanziellen Interessen leiten lässt und die gesundheitlichen Belange
des Patienten hintangestellt hat. Mit dem Abstellen auf das Wohl des Patienten werden neben den Fällen der Heilung einer behandlungsbedürftigen
Erkrankung auch die Fälle reiner Schönheitsoperationen erfasst, also Fälle, in denen ohne jede medizinische Indikation allein
den Schönheitsvorstellungen des Patienten dienende Eingriffe (s. § 52 Abs. 2 SGB V) vorgenommen werden."
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe: Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette, nämlich schädigender Vorgang, Schädigung und
Schädigungsfolgen, des Vollbeweises; für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen
beziehen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen
verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen.
Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit
ausreichen mit der Folge, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen
Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R -, m.w.N.). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach
vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle
richterliche Überzeugungsbildung zu begründen (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R -, m.w.N.).
Auch das Fehlen rechtfertigender Gründe muss im Vollbeweis erwiesen sein (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteile vom
17.08.2011 - L 15 VG 21/10 - und 18.05.2015 - L 15 VG 17/09 ZVW -, m.w.N.), wobei der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG) greift. Die Beweiswürdigung des Gerichts hat sich an den individuellen Gegebenheiten des konkreten Falls zu orientieren,
soweit nicht gesetzliche Beweisregeln existieren. Letzteres ist nicht der Fall. Generalisierungen oder typisierende Betrachtungsweisen
sind daher unangebracht. Es gibt keinen beweisrechtlichen Automatismus, dass das Fehlen von Rechtfertigungsgründen anhand
von unmittelbaren Beweismitteln (z.B. Zeugenaussagen, Filmmitschnitten) nachgewiesen sein müsste (vgl. Bayerisches Landessozialgericht,
a.a.O.). Die Rechtswidrigkeit des Angriffs kann unter Umständen auch dann als erwiesen angesehen werden, wenn der genaue Tatablauf
im Übrigen nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht.
Unter Beachtung dieser Maßgaben ist die Klägerin nach Überzeugung des Gerichts nicht Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriffs der sie behandelnden Ärzte im Sinne des OEG geworden. Es geht dabei von einem Geschehensablauf aus, wie er im Tatbestand des Urteils des LG vom 17.12.2015 als unstreitig
festgehalten ist; er entspricht sowohl der Aktenlage als auch dem Vortrag der Klägerin im vorliegenden Verfahren.
Wie der Beklagte zu Recht in seiner erschöpfenden und zutreffenden Stellungnahme vom 08.04.2016 ausgeführt hat, bleibt vorliegend
bereits fraglich, ob die angeschuldigten ärztlichen Eingriffe und Behandlungsmaßnahmen überhaupt als vorsätzliche Körperverletzung
strafbar sind. Ein diesbezügliches Strafverfahren ist jedenfalls nicht durchgeführt worden.
So hat der anerkannte Experte Prof. Dr. H., der beispielsweise auch für den Deutschen Ethikrat als Sachverständiger eine schriftlichen
Stellungnahme zur Intersexualität erstellt hat und dessen gutachterliche Ausführungen und Bekundungen im Verfahren der Arzthaftungsklage
vor dem LG in vorliegendem Verfahren nicht nur als Urkundenbeweis, sondern auch als Sachverständigenbeweis verwertet werden
können (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 117 Rn. 6, m.w.N.), mit Blick auf die im Rahmen der Arzthaftungsklage vor dem LG geltend gemachten Behandlungsfehler auf der
Grundlage der Behandlungsdokumentation schlüssig und gut nachvollziehbar dargelegt, dass die Einleitung der feminisierenden
Behandlung durch die die Klägerin behandelnden Ärzte an sich dem Stand der medizinischen Wissenschaft im Jahre 1994 entsprach.
Dementsprechend hat das LG in seinem Urteil vom 17.12.2015 insoweit auch festgehalten, dass gegen die Behandlung an sich nach
Überzeugung der Kammer bei vorheriger hinreichender Aufklärung der Klägerin keine Bedenken bestünden, da sie als Mädchen aufgewachsen
und erzogen worden sei. Auch sei die am 15.08.1994 durchgeführte Laparoskopie indiziert gewesen und mit der erforderlichen
Sorgfalt durchgeführt worden. Weiterhin habe der Sachverständige zur Überzeugung der Kammer auch ausgeführt, dass die verordnete
Therapie mit weiblichen Geschlechtshormonen prinzipiell dem Stand der ärztlichen Wissenschaft entsprochen habe und diesem
Stand auch heute noch entspreche. Diese Einschätzung macht sich der Senat zu Eigen. Das von der Klägerin dem SG vorgelegte Literaturverzeichnis vermag insoweit keine andere Beurteilung zu rechtfertigen. Es erschöpft sich in der bloßen
Auflistung von 457 Fundstellen, ohne auch nur ansatzweise einen Bezug zum konkreten, hier zur Beurteilung stehenden Sachverhalt
erkennen zu lassen.
Weiter hat der Sachverständige Prof. Dr. H. bei seiner Anhörung durch das LG am 26.02.2015 bekundet, Hintergrund für das frühere
Unterlassen einer vollständigen Aufklärung sei gewesen, dass gerade ein erwachsener Mensch in einem bestimmten Geschlecht
bereits sozialisiert sei und eine Information über den Chromosomensatz zu einer Unsicherheit führen könne, weshalb insbesondere
bei erwachsenen Patienten dessen Angabe vermieden worden sei. Allerdings sei ihm nicht bekannt, ob es Fälle gegeben habe,
in denen weitere Angaben zum Beispiel über den Chromosomensatz gemacht worden seien, die dann zu schweren Folgen für den jeweiligen
Menschen geführt hätten. Allgemein seien Einzelfälle beschrieben, in denen erhebliche Traumatisierungen eingetreten seien,
ohne dass entschieden werden könne, ob diese aufgrund der DSD selbst eingetreten seien oder aufgrund einzelner Informationen
im Aufklärungsgespräch. Ein Weiteres kommt hinzu. Aufklärungsmängel können eine Strafbarkeit des Arztes wegen vorsätzlicher
Körperverletzung nur begründen, wenn der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung nicht in den Eingriff eingewilligt hätte,
wobei das Fehlen einer "hypothetischen" Einwilligung dem Arzt nachzuweisen ist. Angesichts der Sozialisation der Klägerin
als Frau, ihrem sozialen Umfeld und Alter sowie den gesellschaftlichen Verhältnissen zum Zeitpunkt der Behandlung erscheint
es durchaus fraglich, ob die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt nicht doch in die feminisierende Behandlung eingewilligt hätte.
Selbst wenn man unterstellt, dass die angeschuldigten ärztlichen Eingriffe und Behandlungsmaßnahmen als vorsätzliche Körperverletzung
strafbare ärztliche Eingriffe darstellten, ist die Klägerin unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des OEG nicht zum Gewaltopfer im Sinne des OEG geworden. Das Gericht ist davon überzeugt, dass diese zum Zeitpunkt ihrer Vornahme objektiv - also aus Sicht eines verständigen
Dritten - jedenfalls auch dem Wohl der Klägerin im Sinne der Rechtsprechung des BSG dienten. Dies ergibt sich aus den nachvollziehbaren und in sich schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. H.,
der auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendmedizin seit vielen Jahren als einer der führenden Experten für die Therapie und
Begleitung von Menschen mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung - auch aus dem Erwachsenenbereich - anerkannt ist. Er
war in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums bereits im streitgegenständlichen Zeitraum mit derartigen
Behandlungen befasst. Das Gericht macht sich auch dessen überzeugenden Ausführungen insoweit zu Eigen.
So hat der Sachverständige Prof. Dr. H., der den Stand der medizinischen Wissenschaft unter ausführlicher Auseinandersetzung
mit den führenden Literaturstimmen der damaligen Zeit dargestellt hat, in der mündlichen Verhandlung vor dem LG nochmals ausdrücklich
hervorgehoben, dass es Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts aus medizinischer Sicht üblich gewesen sei,
auf eine konkrete Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht hinzuwirken, insbesondere bei Personen im damaligen Alter der Klägerin.
Weiter hat er nochmals ausdrücklich bestätigt, dass auch eine medizinisch relative Indikation bestanden habe, um medizinischen
Schaden bzw. Nachteil abzuwenden, zum Beispiel um die Ausübung des Geschlechtsverkehrs ohne Schmerzen zu ermöglichen; dementsprechend
werde eine Operation bei DSD auch von der Krankenkasse bezahlt. Bereits in seinem Ergänzungsgutachten vom 03.02.2014 hatte
er insoweit herausgearbeitet, dass bei den geschlechtsangleichenden Operationen damals am ehesten von einer relativen Indikation
ausgegangen worden sei, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Nach den gängigen Lehrbuchartikeln seien diese
Operationen "angebracht" gewesen. Die Behandlung sei, so der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten vom 05.08.2014
weiter, laut Consensus-Statement auch heute noch als medizinisch sinnvoll zu erachten, sofern die behandelte Person im weiblichen
Geschlecht leben möchte. Im Übrigen sei in der sogenannten Chicago Consensus Conference auch konstatiert worden, dass der
Chromosomensatz allein keine Zuordnung zum männlichen bzw. weiblichen Geschlecht zulasse. Man wisse, dass es bestimmte Unterschiede
in manchen Organen gebe, die durch den Chromosomensatz bedingt seien, die meisten anatomischen Veränderungen bzw. Unterschiede
würden jedoch durch hormonellen Einfluss hervorgerufen. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist dem in der Ärzte Zeitung
online vom 20.05.2011 veröffentlichten Artikel letztlich keine hiervon abweichende Auffassung des Sachverständigen zu entnehmen.
Der Sachverständige wird dort nämlich wie folgt zitiert:
"Doch in den letzten 15 Jahren haben sich die Behandlungsmethoden dieser Störungen und auch der Zugang dazu grundlegend geändert.
Es gibt schonendere Operationsmethoden, verfeinerte Hormontherapien und vor allem werden die Familien von Anfang an bei der
Überlegung einbezogen, welche Behandlungsmethoden in Frage kommen." ... "Nicht in allen Fällen muss sofort operiert werden.
Aber früher oder später stehen Eltern doch vor der schwierigen Entscheidung, in welchem Geschlecht das Kind aufwachsen soll",
... "Im gewissen Sinne sind es tatsächlich kosmetische Operationen", ... "Aber es geht ja auch darum, Kindern und Jugendlichen
ein Aufwachsen möglichst nah an der Normalität zu ermöglichen", ...
Zudem ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen sowohl in seinen Gutachten als auch im Rahmen seiner Anhörung
in der öffentlichen Sitzung des LG am 26.02.2015 weiter davon auszugehen, dass Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts
- dem hier maßgeblichen Zeitraum - bei der Behandlung von Kindern mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung auf der Grundlage
der damals führenden Fachliteratur ein wissenschaftlicher Standard befolgt wurde, der darauf basierte, unter Einbeziehung
und mit Einwilligung der Eltern möglichst rasch eine - auch operative - Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht vorzunehmen
und diese Zuordnung ab Eintritt der Pubertät durch Hormonsubstitution weiter zu festigen. Die Behandlung sei damals, so der
Sachverständige weiter, im Wesentlichen mit Blick auf das Sozialisierungspotenzial des Menschen im Sinne einer klaren Zuordnung
zum männlichen bzw. weiblichen Geschlecht durchgeführt worden. So habe zum Beispiel in dem im Jahr 1993 erschienenen deutschen
Fachbuch "Pädiatrische Endokrinologie" Prof. Gernot Sinnecker stellvertretend für die damals vorherrschende Meinung eine rasche,
richtige und sichere Festlegung des Geschlechts, in dem ein Kind mit zwittrigen Genitale aufwachsen solle, für seine weitere
Entwicklung als entscheidend angesehen. Der äußere Aspekt des Genitale solle weder bei den Eltern, noch bei dem Kind selbst
und bei seinen Spielgefährten Zweifel an seiner Geschlechtsidentität aufkommen lassen. Das Vorgehen sei auch von Erwachsenenmedizinern
nicht anders beurteilt worden, wie sich etwa aus dem von Jean Wilson und James Griffin verfassten Kapitel "Disorders of Sexual
Differentiation" in dem Lehrbuch "Harrison s Principles of Internal Medicine" ergebe.
Auf dem Gebiet der Therapie von Kindern gebe es auch eine Veröffentlichung von Money aus dem Jahre 1955, zu der sich Diamond
in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dahingehend geäußert habe, dass die Meinungen von Money überholt und
weitere biologische Phänomene zu erklären seien. Dies habe sich zunächst bei amerikanischen Selbsthilfegruppen ausgewirkt
und in verschiedenen Fallbeschreibungen, in denen zum Teil auch nur die Wirkungsweise von Hormonen auf die Geschlechtsidentität
beschrieben worden sei. Gullbrandson und Diamond hätten sodann 1997 in einer wegweisenden Publikation auf die bereits pränatale
Prägung des Geschlechts hingewiesen und daraus abgeleitet, dass die Geschlechtszuordnung wesentlich differenzierter gesehen
werden müsste. Diamond habe dann Anfang dieses Jahrtausends eine vorbehaltlose Aufklärung gefordert, was letztlich zu der
Konsensuskonferenz im Jahre 2005 mit der Publikation Hughes et al. 2006 (Archives of Diseases in Childhood 2006, 91(7): 554-563)
geführt habe mit der Folge, dass sowohl die Nomenklatur als auch die Klassifikation verändert und weitergehende Handlungsempfehlungen
gegeben worden seien.
Die Veränderungen des Verständnisses und des Umgangs mit Besonderheiten der Geschlechtswicklung, die letztlich in die Konsensuskonferenz
im Jahre 2005 gemündet hätten, hätten sich jedoch erst nach der initialen Behandlung der Klägerin vollzogen. Zum Zeitpunkt
der Behandlung im vorliegenden Rechtsstreit habe sowohl in Deutschland als auch in Europa die vorherrschende Meinung gegolten,
dass der Chromosomensatz dem Betreffenden nicht mitgeteilt werde. Dies gelte nicht nur für den Kinder- und Jugendbereich,
sondern auch für den Erwachsenenbereich. Es gebe allerdings bis heute keine Statistiken, wie die Aufklärung und die Behandlung
im Einzelnen erfolgt seien. Hintergrund für den Verzicht auf eine vollständige Aufklärung sei es gewesen, dass gerade ein
erwachsener Mensch in einem bestimmten Geschlecht bereits sozialisiert sei und eine Information über den Chromosomensatz zu
einer Unsicherheit führen könnte, so dass insbesondere bei erwachsenen Patienten dessen Angabe vermieden worden sei. Die Universitätsklinik
Lübeck habe zwar Mitte der neunziger Jahre begonnen, das bestehende Konzept zu ändern und weitergehend aufzuklären. Er wisse
jedoch, dass andere Kollegen in anderen Kliniken das nicht getan hätten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
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