LSG Hessen, Urteil vom 04.05.2011 - 6 AL 86/10
Ablehnung des Antragsrechts nach § 109 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren bei Verzögerung des Rechtsstreits; grobe Nachlässigkeit; Zurückverweisung des Rechtsstreits
aufgrund eines wesentlichen Verfahrensmangels
1. Die Ablehnung eines Antrages nach § 109 SGG ist nur unter den engen Voraussetzungen des § 109 Abs. 2 SGG möglich, mithin der Antrag in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt worden ist.
2. Grobe Nachlässigkeit liegt vor, wenn jede nach sorgfältiger Prozessführung erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen ist
und nicht getan wird, was jedem einleuchten muss. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn ein innerhalb einer gesetzten
Antragsfrist gestellter Antrag auf Fristverlängerung durch das Sozialgericht nicht beantwortet wird, das Verfahren bis dahin
bereits mehr als zwei Jahre gedauert hat und eine Fristüberschreitung von lediglich 16 Tagen eingetreten ist.
3. Eine Verzögerung des Rechtsstreits ist grundsätzlich nur anzunehmen, wenn sich durch die Einholung des beantragten Gutachtens
der aufgrund bereits erfolgter Terminierung konkretisierte voraussichtliche Zeitpunkt der Beendigung des Rechtsstreits tatsächlich
verschiebt. Dies kann nicht offen bleiben bzw. unterstellt werden und es ist durch Rückfrage bei dem als Sachverständigen
benannten Arzt zu klären, ob das Gutachten noch rechtzeitig vor dem bereits angesetzten Verhandlungstermin vorgelegt werden
kann.
4. Die rechtsfehlerhafte Ablehnung des Beweisantrags nach § 109 SGG stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar, der die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht im Rahmen einer Ermessensentscheidung des Berufungsgerichts
eröffnet. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Vorinstanzen: SG Kassel 13.04.2010 S 3 AL 215/07
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 13. April 2010 aufgehoben und der Rechtsstreit
zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten - an das Sozialgericht Kassel zurückverwiesen.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist das Ruhen des Anspruches auf Arbeitslosengeld wegen Eintritts einer 12-wöchigen Sperrzeit (und
die Minderung der Anspruchsdauer um 90 Tage) streitig.
Der 1952 geborene Kläger war seit 1987 bei der ON. AG in B-Stadt als Anlagenführer versicherungspflichtig beschäftigt. Das
Beschäftigungsverhältnis endete zum 31. Oktober 2006 laut Arbeitsbescheinigung (Bl. 5 der Verwaltungsakte) durch "Künd. beiders.
Einvern. m. Abfind.". Der Kläger meldete sich am 28. September 2006 mit Wirkung zum 1. November 2006 arbeitslos und gab dabei
unter anderem an, er leide unter psychischer Erschöpfung sowie Schlafapnoe, weshalb er das Beschäftigungsverhältnis gelöst
habe. Zuvor habe er versucht, seine Arbeitssituation zu verbessern, indem er vom 3-Schicht-Rhythmus zur Dauerfrühschicht gewechselt
sei. Die Beklagte veranlasste die Erstellung eines Gutachtens ihres ärztlichen Dienstes vom 15. Dezember 2006 (Medizinaldirektorin
RS), wonach der Kläger noch gelegentlich mittelschwere Arbeit vollschichtig verrichten könne. Ausgeschlossen seien unter anderem
Wechselschicht und Nachtschicht. Hinsichtlich der zuletzt ausgeübten Tätigkeit sei eine genauere arbeitgeberseitige Arbeitsplatzbeschreibung
erforderlich. Eine entsprechende Auskunft vom 27. Februar 2007 holte die Beklagte bei der ON. AG in B-Stadt ein. Danach handele
es sich bei der Tätigkeit des Anlagenführers an Prüfständen um eine überwiegend mittelschwere Arbeit, die in Tagesschicht,
Früh-/Spätschicht und Nachtschicht verrichtet werde. Hierauf gab Medizinaldirektorin RS. eine weitere Stellungnahme vom 28.
März 2007 dahingehend ab, dass dem Kläger die zuletzt ausgeübte Tätigkeit wegen des 3-Schicht-Systems nicht mehr zumutbar
gewesen sei. Die Beklagte fragte daraufhin mit Schreiben vom 4. April 2007 bei der ON. AG in G-Stadt an, ob eine Umsetzung
des Klägers in ein Nicht-Schicht-System möglich gewesen wäre. Die ON. AG L-Stadt teilte mit Schreiben vom 25. April 2007 mit,
ohne Schweigepflichtentbindung sei sie zur Auskunftserteilung nicht verpflichtet. Aus einem Beratungsvermerk vom 29. Mai 2007
(Bl. 41 der Verwaltungsakte) ergibt sich der Hinweis, der Kläger sei bereits vom Schichtsystem befreit gewesen und habe nur
noch in Frühschicht gearbeitet. Dies wäre auch weiterhin möglich gewesen.
Durch Bescheid vom 29. Mai 2007 teilte die Beklagte dem Kläger mit, in dem Zeitraum vom 1. November 2006 bis 23. Januar 2007
sei eine Sperrzeit eingetreten, während der sein Anspruch auf Arbeitslosengeld ruhe. Der Kläger habe sein Beschäftigungsverhältnis
bei der ON. AG durch Abschluss eines Aufhebungsvertrages selbst gelöst. Hierdurch habe er voraussehen müssen, dass er arbeitslos
werde. Soweit der Kläger vorgetragen habe, die Tätigkeit nicht mehr ausüben zu können, sei ihm jedoch die Fortsetzung des
Beschäftigungsverhältnisses zumutbar gewesen. Insoweit habe er einen anderen Arbeitsplatz im Ein-Schicht-System erhalten,
auf dem er nach dem ärztlichen Gutachten weiterhin hätte tätig sein können. Die Sperrzeit dauere 12 Wochen und mindere den
Anspruch auf Arbeitslosengeld um 90 Tage, ein Viertel der Anspruchsdauer.
Der Kläger erhob Widerspruch am 14. Juni 2007 und machte geltend, entgegen den Ausführungen im angefochtenen Bescheid sei
ihm die Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses mit der ON. AG nicht mehr zumutbar gewesen. Es habe auch keine erfolgreiche
innerbetriebliche Umsetzung stattgefunden. Im Übrigen würden dieselben gesundheitlichen Probleme auch bei einer Tätigkeit
ausschließlich in Frühschicht auftreten. Aufgrund der Schlafapnoe leide er unter Müdigkeit und starken Konzentrationsschwierigkeiten
sowie unter Vergesslichkeit. Hinzu komme eine ausgeprägte Antriebslosigkeit. Wegen seiner Symptome befinde er sich in hausärztlicher
und psychotherapeutischer Behandlung. Ergänzend legte der Kläger ein ärztliches Attest seines Hausarztes Dr. AK. vom 3. Juli
2007 vor.
Durch Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 2007 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung verwies
sie auf die Vorschrift des § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - ( SGB III) und führte aus, der Kläger habe sein Beschäftigungsverhältnis bei der ON. AG durch Aufhebungsvertrag gelöst, ohne hierfür
einen wichtigen Grund zu haben. Insofern habe sein (Rest-) Leistungsvermögen der Fortführung seiner Tätigkeit nicht entgegengestanden.
Dies ergebe sich aus der Arbeitsplatzbeschreibung des Arbeitgebers sowie dem eingeholten ärztlichen Gutachten. Der Kläger
habe zuletzt ausschließlich im Frühschicht-Modell gearbeitet, ohne dass Zeiten der Arbeitsunfähigkeit aufgetreten seien. Die
Sperrzeit betrage 12 Wochen. Insoweit liege ein Sachverhalt, der eine Verkürzung der Sperrzeit zulasse, nicht vor. Insbesondere
bedeute die 12-wöchige Sperrzeit für den Kläger keine besondere Härte.
Der Kläger erhob Klage zum Sozialgericht Kassel am 20. August 2007 und hielt an seinem bisherigen Vortrag fest, wonach ihm
die Fortführung des Beschäftigungsverhältnisses bei der ON. AG gesundheitlich nicht mehr zumutbar gewesen sei, so dass ihm
für die Beendigung ein wichtiger Grund zur Seite gestanden habe. Damit sei aber die Arbeitslosigkeit weder vorsätzlich noch
grob fahrlässig herbeigeführt worden. Im Hinblick auf das Gutachten des ärztlichen Dienstes sei zu bemängeln, dass sich dieses
nicht mit dem vorgelegten Attest des Dr. AK. auseinandersetze. Insgesamt sei die Annahme der Beklagten, ihm sei die Tätigkeit
in dem Ein-Schicht-System weiterhin zumutbar gewesen, unzutreffend. Vielmehr seien für ihn unabhängig davon, ob er in Früh-,
Spät- oder Nachtschicht arbeite, die auftretenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen jeweils die gleichen. Hierbei berief
sich der Kläger erneut auf die bei ihm bestehende Schlafapnoe sowie auf seine psychischen Probleme, die im Rahmen der sozialmedizinischen
Beurteilung keine ausreichende Berücksichtigung gefunden hätten. Der Kläger legte im Verlauf des Verfahrens ein amtsärztliches
Gutachten zur Leistungs- und/oder Erwerbsfähigkeit der Stadt B-Stadt vom 15. Juni 2009 sowie einen Bericht des Diakonischen
Werks in B Stadt vom 8. Mai 2009 (ambulante Behandlung vom 7. Januar 2008 bis 29. April 2009) vor.
Demgegenüber verwies die Beklagte auf ihre Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid und trug ergänzend vor, der
Arbeitgeber sei nicht bereit gewesen, ihr nähere Auskünfte zu den Gründen für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mitzuteilen.
Gegenüber ihrer Widerspruchsstelle habe die ON. AG eine pauschale Erklärung für alle Arbeitnehmer abgegeben, welche im Zeitraum
Juli bis Oktober 2006 mit der sog. Turboprämie (weit überhöhte Abfindung, wenn der Arbeitnehmer kurz entschlossen einen Aufhebungsvertrag
abschließe) ausgeschieden seien. Danach seien, sofern gesundheitliche Gründe für den Abschluss des Aufhebungsvertrages maßgeblich
gewesen seien, diese in der Arbeitsbescheinigung oder im Aufhebungsvertrag vermerkt worden. Im Falle des Klägers finde sich
keine diesbezügliche Anmerkung. Der Aufhebungsvertrag liege ihr, der Beklagten, nicht vor.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Beiziehung von Befundberichten des Hausarztes Dr. AK., des Psychiaters Dr. RE.,
der Psychiaterin PL., des Psychotherapeuten ZU., der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie N-Stadt und des Orthopäden
Dr. PN. Darüber hinaus hat das Sozialgericht eine Arbeitsplatzbeschreibung der ON. AG L-Stadt sowie den Aufhebungsvertrag
vom 27. September 2006 beigezogen. In der Auskunft vom 15. April 2008 gab die ON. AG u.a. zur Arbeitsschwere an, es habe sich
bei der Tätigkeit als Anlagenführer um eine leichte Arbeit gehandelt.
Sodann hat das Sozialgericht dem Kläger mit Schreiben vom 28. Juli 2009 mitgeteilt, weitere Ermittlungen von Amts wegen seien
nicht beabsichtigt, und auf das Antragsrecht nach § 109 Sozialgerichtsgesetz ( SGG) verwiesen. Mit Schriftsatz vom 24. September 2009 hat der Kläger gemäß § 109 SGG beantragt, ein psychologisches Gutachten bei dem Dipl.Psych. NX. in B-Stadt einzuholen. Das Sozialgericht hat hierauf einen
Kostenvorschuss in Höhe von 1.500,00 EUR eingeholt (Eingang: 18. Oktober 2009) und mit Schreiben vom 21. Oktober 2009 ergänzend
darauf hingewiesen, dass sich das Antragsrecht gemäß § 109 SGG lediglich auf die Anhörung eines Arztes, nicht jedoch eines Diplom-Psychologen erstrecke. Es bestehe Gelegenheit, den Antrag
innerhalb von vier Wochen gerechnet ab Erhalt des Schreibens nachzubessern. Das Schreiben des Gerichts ist ausweislich des
entsprechenden Empfangsbekenntnisses am 26. Oktober 2009 bei dem Prozessbevollmächtigten des Klägers eingegangen. Mit Schreiben
vom 23. November 2009 hat der Kläger im Hinblick auf die gesetzte Antragsfrist Fristverlängerung bis zum 15. Dezember 2009
beantragt, hilfsweise den Antrag hinsichtlich Dipl.-Psych. NX. zurückgenommen und ergänzend mitgeteilt, die erneute Stellung
eines Antrages gemäß § 109 SGG bleibe ausdrücklich vorbehalten. Er rege an, dass das psychologische Gutachten durch das Gericht von Amts wegen eingeholt
werde. Am 9. Dezember 2009 ist bei dem Sozialgericht ein weiteres Schreiben des Klägers eingegangen mit dem Antrag, das Gutachten
anstelle bei Dipl. Psych. NX. bei dem Arzt Dr. OR. in B-Stadt einzuholen.
Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 13. April 2010 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Beklagte habe
mit dem angefochtenen Bescheid zutreffend eine 12-wöchige Sperrzeit verhängt, weil der Kläger sein Beschäftigungsverhältnis
gelöst habe, ohne hierfür einen wichtigen Grund zu haben. Soweit dieser sich auf gesundheitliche Probleme berufen habe, ergebe
sein gesundheitliches Leistungsvermögen zum Zeitpunkt der Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses keine Hinweise auf das
Vorliegen eines wichtigen Grundes. Unstreitig seien zwar gesundheitliche Einschränkungen vorhanden. Diese hätten jedoch nach
Überzeugung des Gerichts noch nicht das Ausmaß einer relevanten Leistungseinschränkung im Hinblick auf die zuletzt ausgeübte
Tätigkeit erreicht, was sich aus den beigezogenen Befundberichten sowie dem zeitnah erstellten arbeitsamtsärztlichen Gutachten
ergebe. Im Übrigen sei der von dem Kläger gestellte Antrag nach § 109 SGG gemäß § 109 Abs. 2 SGG abzulehnen gewesen, da die Erledigung des Rechtsstreits ansonsten verzögert worden wäre und der Antrag aus grober Nachlässigkeit
nicht früher gestellt worden sei. Mit Schreiben des Gerichts vom 28. Juli 2009 sei der Kläger darauf hingewiesen worden, dass
weitere Sachermittlungen von Amts wegen nicht beabsichtigt seien. Hierauf habe der Kläger mit Schreiben vom 24. September
2009 beantragt, ein psychologisches Gutachten nach § 109 SGG einzuholen. Auf den weiteren Hinweis des Gerichts vom 21. Oktober 2009, dass der Antrag den Anforderungen des § 109 SGG nicht genüge, habe der Kläger mit Schreiben vom 23. November 2009 Fristverlängerung beantragt, dem nicht nachgekommen worden
sei. Ein nachgebesserter Antrag sei erst am 9. Dezember 2009 eingegangen. Dem Kläger hätten mithin ausgehend von dem gerichtlichen
Schreiben vom 28. Juli 2009 nahezu drei Monate zur Verfügung gestanden, einen ordnungsgemäßen Antrag nach § 109 Abs. 1 SGG zu stellen. Aus diesem Grund gehe die Kammer davon aus, dass der Antrag vom 9. Dezember 2009 aus grober Nachlässigkeit nicht
früher gestellt worden sei mit der Folge der Ablehnung.
Gegen dieses dem Kläger am 26. April 2010 zugestellte Urteil richtet sich seine am 21. Mai 2010 vor dem Hessischen Landessozialgericht
eingelegte Berufung. Er wiederholt seine Auffassung, dass er für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses einen wichtigen
Grund gehabt habe und trägt weiter vor, das erstinstanzliche Verfahren sei fehlerhaft. Zum einen hätten sein Vorbringen sowie
der Inhalt der beigezogenen Befundberichte das Sozialgericht dazu veranlassen müssen, ein Sachverständigengutachten von Amts
wegen einzuholen. Zum anderen ergebe sich ein wesentlicher Verfahrensmangel daraus, dass sein Antrag gemäß § 109 SGG unzutreffend abgelehnt worden sei. Bereits der Ansatz des Sozialgerichts, er habe nahezu drei Monate Zeit gehabt, einen ordnungsgemäßen
Antrag nach § 109 Abs. 1 SGG zu stellen, treffe nicht zu, denn erstmals mit dem am 26. Oktober 2009 bei ihm eingegangenen Schreiben des Gerichts sei darauf
hingewiesen worden, dass sich das Antragsrecht nicht auf einen Diplom-Psychologen erstrecke. Weiter liege eine lediglich geringfügige
Überschreitung der gesetzten 4-Wochen-Frist vor und es sei rechtzeitig ein Fristverlängerungsantrag gestellt worden. Angesichts
des Umstandes, dass das Verfahren zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwei Jahre anhängig gewesen sei, könne von einer groben
Nachlässigkeit im Hinblick auf die späte Antragstellung nicht ausgegangen werden. Der Kostenvorschuss in Höhe von 1.500,00
EUR sei im Übrigen bereits am 16. Oktober 2009 eingezahlt worden. Darüber hinaus wäre es auch nicht zu einer Verzögerung der
Erledigung des Rechtsstreits gekommen, da das Gutachten unmittelbar nach Eingang des Antrags hätte in Auftrag gegeben werden
können. Der Termin zur mündlichen Verhandlung sei erst gut vier Monate später durchgeführt worden. Vorsorglich wiederholt
der Kläger seinen Antrag, ein Sachverständigengutachten bei Dr. OR. in B-Stadt einzuholen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 13. April 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Mai 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 18. Juli 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Arbeitslosengeld in der Zeit vom 1. November 2006 bis 23.
Januar 2007 in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist auf die Entscheidungsgründe sowie auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid.
Ergänzend trägt die Beklagte vor, aus keiner der bislang eingeholten ärztlichen Stellungnahmen lasse sich entnehmen, dass
die Arbeitsaufgabe zum 1. November 2006 aus gesundheitlichen Gründen notwendig gewesen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akte der Beklagten, die Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist auch im Sinne der Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Kassel vom 13. April 2010 und Zurückverweisung
des Rechtsstreits an das Sozialgericht begründet. Gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn
das erstinstanzliche Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Wesentlich ist ein Mangel, wenn das Urteil des Sozialgerichts
auf ihm beruhen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 9. Auflage, § 159 Rn. 3a).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, denn das Sozialgericht hat den Antrag des Klägers gemäß § 109 Abs. 1 SGG zu Unrecht gestützt auf § 109 Abs. 2 SGG abgelehnt. Gemäß § 109 Absatz 1 S. 1 SGG muss auf Antrag des Versicherten ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Dieses Antragsrecht, mit dem der Untersuchungsgrundsatz
(§§ 103 und 106 SGG) durchbrochen wird, stellt eine Besonderheit des sozialgerichtlichen Verfahrens dar, die der Herstellung von Waffengleichheit
zwischen den Beteiligten und dem Rechtsfrieden dient (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO., § 109 Rn. 1 m.w.N.). Die Ablehnung
des Antrages ist nur unter den engen Voraussetzungen des § 109 Abs. 2 SGG möglich. Danach kann das Gericht einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert
werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus
grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Für eine Verschleppungsabsicht sind vorliegend Anhaltspunkte nicht
ersichtlich, so dass von vornherein lediglich die Tatbestandsalternative einer Verspätung aus grober Nachlässigkeit in Betracht
kommt. Grobe Nachlässigkeit liegt vor, wenn jede nach sorgfältiger Prozessführung erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen
ist, wenn nicht getan wird, was jedem einleuchten muss (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO., § 109 Rn. 11, m.w.N.). Die Bejahung
einer Verspätung kommt in Betracht, wenn der Beteiligte erkennen muss, dass das Gericht keine weiteren Ermittlungen von Amts
wegen durchführt, oder wenn ihm das Gericht eine Frist für den Antrag setzt. Die Frage, welche Mindestfrist - auch im Hinblick
auf die Einzahlung eines Kostenvorschusses - als angemessen anzusehen ist, wird in der Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet
(vgl. u.a. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Januar 2010, L 2 KN 212/09: 6 Wochen; Urteil vom 30. April 2009, L 2 KN 253/08: Einzelfallentscheidung; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. August 2008, L 1 R 303/08: 4 Wochen). Vorliegend hat das Sozialgericht mit Schreiben vom 21. Oktober 2009 (zugestellt an die Prozessbevollmächtigten
des Klägers mittels Empfangsbekenntnis am 26. Oktober 2009) Frist zur Nachbesserung des Antrages gemäß § 109 SGG von vier Wochen gesetzt. Es kann offen bleiben, ob es sich hierbei um eine angemessene Frist handelt, denn die Fristüberschreitung
ist nur entscheidungsrelevant, wenn sie auf grober Nachlässigkeit beruht, woran es hier jedoch mangelt. Zum einen ist zu berücksichtigen,
dass angesichts der Verfahrensdauer vom Eingang der Klage am 20. August 2007 bis zum Fristende mit Ablauf des 23. November
2009 bereits mehr als zwei Jahre vergangen waren, so dass eine Fristüberschreitung von 16 Tagen (Eingang des nachgebesserten
Antrages gemäß § 109 SGG am 9. Dezember 2009) als geringfügig anzusehen ist. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass der Kläger mit am 23. November
2009 eingegangenem Schreiben und damit noch innerhalb der Frist Antrag auf Fristverlängerung bis zum 15. Dezember 2009 gestellt
hatte, worauf das Sozialgericht nicht reagiert hat. Es entspricht üblichem Vorgehen der Sozialgerichte, Anträgen auf Fristverlängerung
stillschweigend stattzugeben und lediglich im Falle der Ablehnung den Prozessbeteiligten hierüber zu informieren (vgl. hierzu
die allg. Ausführungen zum rechtlichen Gehör in Meyer-Ladewig, § 62 Rdnrn. 8 ff.). Dementsprechend konnte der Prozessbevollmächtigte
des Klägers erwarten, dass sein Schreiben vom 23. November 2009 mit dem Antrag auf Fristverlängerung zeitnah beantwortet wird,
zumal darin die Anregung ausgesprochen war, das zunächst beantragte psychologische Gutachten nunmehr von Amts wegen einzuholen.
Es liegt auf der Hand, dass es eines Nachbesserungsantrages gemäß § 109 SGG nicht bedurft hätte, wenn das Sozialgericht der Anregung des Klägers gefolgt wäre und ein psychologisches Gutachten von Amts
wegen in Auftrag gegeben hätte. Demgegenüber wäre es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zwar möglich gewesen, unabhängig
von seiner Anregung einen vollständigen Antrag nach § 109 SGG vorzubringen. Der Senat vermag jedoch angesichts des hier gegebenen zeitlichen Ablaufs, bei dem nicht zuletzt auch zu berücksichtigen
ist, dass zwischen dem Eingang des nachgebesserten Antrags am 9. Dezember 2009 bis zur Terminierung mit Verfügung vom 22.
März 2010 bzw. Änderung der Terminierung mit Verfügung vom 29. März 2010 ein weiterer Zeitraum von etwa dreieinhalb Monaten
(bis zur Durchführung der Verhandlung vom 13. April 2010 von vier Monaten) liegt, jedenfalls keine grobe Nachlässigkeit im
Sinne der gesetzlichen Regelung zu erkennen, die aber Voraussetzung für die Ablehnung des Antrages ist. Weitere kumulative
Voraussetzung ist, dass die Zulassung des Antrages die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. Auch hieran mangelt es.
Insofern hat der Kläger zutreffend beanstandet, dass zum Zeitpunkt des erneuten und nunmehr auf einen Arzt bezogenen Antrages
am 9. Dezember 2009 das Verfahren noch nicht terminiert war und bis zur Durchführung der mündlichen Verhandlung am 13. April
2010 weitere vier Monate vergangen sind. Es spricht viel dafür, dass innerhalb dieses Zeitraumes das beantragte Gutachten
bei Dr. OR. hätte eingeholt werden können. Zwar sind Gutachtenlaufzeiten in der Sozialgerichtsbarkeit erheblich divergent
und überschreiten teilweise einen Zeitraum von sechs Monaten. Andererseits werden Gutachten teilweise auch kurzfristig innerhalb
eines Zeitraums von sechs Wochen bis drei Monaten erstellt, wie dies aktuellen Erfahrungen des Senats entspricht. Jedenfalls
ist aber davon auszugehen, dass die Frage, ob ausgehend von dem 9. Dezember 2009 ein Gutachten von Dr. OR. rechtzeitig vor
dem Verhandlungstermin vom 13. April 2010 vorgelegen hätte, offen ist, so dass sich die erforderliche Verzögerung des Rechtsstreits
durch Zulassung des Antrages nach § 109 SGG gerade nicht feststellen lässt. Tatsachen für die gegenteilige Annahme sind nicht ersichtlich und auch nicht ermittelt worden.
Das Sozialgericht hat eine Anfrage bei dem als Sachverständigen benannten Arzt zur voraussichtlichen Bearbeitungsdauer unterlassen,
so dass diese ungewiss bleibt. Dementsprechend beschränken sich die Ausführungen des Sozialgerichts in den Entscheidungsgründen
des angefochtenen Urteils auf die pauschale Feststellung, durch die Zulassung des Antrages wäre die Erledigung des Rechtsstreits
verzögert worden, ohne dies jedoch mit Tatsachen zu untermauern. Nach alledem durfte das Sozialgericht den Antrag des Klägers
nach § 109 SGG nicht ablehnen. Die fehlerhafte Ablehnung eines solchen Antrages ist auch grundsätzlich als Verfahrensmangel im Sinne des
§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG anzusehen (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 28. Januar 2010 aaO.; 10. Juni 2009, L 2 KN 98/09; 30. April 2009 aaO.; 27. November 2008, L 2 KN 103/08; 8. Februar 2007, L 2 KN 236/06; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. August 2008 aaO.), weil eine das Verfahren regelnde Vorschrift auf dem Weg zu einer
Sachentscheidung betroffen ist. Der Mangel ist auch wesentlich, denn die Berücksichtigung zusätzlicher Beweismittel kann immer
zu einer anderen Sachentscheidung führen. Der Antrag des Klägers nach § 109 SGG durfte im Übrigen auch nicht deshalb übergangen werden, weil dieser in der mündlichen Verhandlung vom 13. April 2010 nicht
nochmals ausdrücklich zu Protokoll gestellt worden ist, wie dies die Sitzungsniederschrift ausweist. Insofern reicht ein entsprechender
Antrag im vorbereitenden Schriftsatz aus, es sei denn, aus den Gesamtumständen kann entnommen werden, dass der Beweisantrag
in der mündlichen Verhandlung nicht mehr aufrechterhalten wird. So liegt der Fall hier gerade nicht. Nach Zustellung der Terminsladung
am 24. März 2010 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 30. März 2010 nochmals darauf hingewiesen,
er habe im Dezember 2009 Antrag gemäß § 109 SGG gestellt, über den noch nicht entschieden sei. Angesichts dessen bedurfte es einer Wiederholung des Antrages in der mündlichen
Verhandlung nicht (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Januar 2010 aaO. m.w.N.).
Soweit der Kläger geltend gemacht hat, das erstinstanzliche Verfahren sei auch fehlerhaft, weil sich das Sozialgericht wegen
aufgetretener Widersprüche in den Befundberichten bzw. sozialmedizinischen Beurteilungen dazu veranlasst hätte sehen müssen,
ein Sachverständigengutachten von Amts wegen einzuholen, mit der Folge der Verletzung der Amtsermittlungspflicht, vermag der
Senat dem jedoch nicht zu folgen. Es ist zwar nicht zu übersehen, dass zum Teil divergierende Beurteilungen vorliegen. So
hat die Ärztin des ärztlichen Dienstes der Beklagten, Medizinerdirektorin RS., in ihrem Gutachten vom 15. Dezember 2006 ausgeführt,
das vollschichtige Leistungsvermögen des Klägers beschränke sich auf gelegentlich mittelschwere Arbeiten mit weiteren qualitativen
Einschränkungen. In der Arbeitsplatzbeschreibung des Arbeitgebers (Bl. 29 der Verwaltungsakte) ist ausgeführt, dass es sich
bei der von dem Kläger zuletzt ausgeübten Tätigkeit des Anlagenführers um eine überwiegend mittelschwere Arbeit gehandelt
hat. Bereits daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass dem Kläger die letzte Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen bzw.
Hinblick auf sein Restleistungsvermögen nicht mehr zumutbar war. Soweit demgegenüber Medizinaldirektorin RS. in ihrer ergänzenden
Stellungnahme vom 28. März 2007 ausgeführt hat, nach der Arbeitsplatzbeschreibung sei die zuletzt ausgeübte Tätigkeit wegen
des 3-Schicht-Systems nicht mehr zumutbar, handelt es sich offensichtlich um eine verkürzte Beurteilung, denn nicht nur Schichtarbeit,
sondern auch mehr als nur gelegentlich mittelschwere Arbeiten waren dem Klägern nach ihrer eigenen Beurteilung nicht mehr
zumutbar. Soweit im Übrigen mit der im erstinstanzlichen Verfahren beigezogenen Arbeitgeberauskunft mitgeteilt worden ist,
bei der von dem Kläger verrichteten Tätigkeit des Anlagenführers habe es sich um eine leichte Arbeit gehandelt, steht dies
im Widerspruch zu der von der Beklagten eingeholten Auskunft der ON. AG vom 27. Februar 2007. Dort ist angegeben, die Tätigkeit
des Anlagenführers an Prüfständen sei eine überwiegend mittelschwere Arbeit. Insofern bedarf es einer Beurteilung, welcher
Auskunft - gegebenenfalls unter Berücksichtigung weiterer Informationen, beispielsweise über die Internetplattform der Beklagten
"berufenet" - zu folgen ist. Weiter fällt bei den Befundberichten auf, dass der Kläger von den jeweiligen Ärztinnen und Ärzten
zum Teil nur kurzzeitig oder nicht zeitnah zur Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses behandelt worden ist, und die Frage,
ob der Kläger aus gesundheitlichen Gründen seine letzte Tätigkeit bei der ON. AG nicht mehr ausüben konnte, entweder pauschal
bzw. ohne eigene Beurteilung (Dr. PN.) oder gar nicht (Dr. AK., Frau PL., Herr ZU., Klinik N-Stadt) beantwortet worden ist.
Lediglich Dr. RE. hat ausgeführt, er wisse nicht, warum der Kläger nicht in der Lage sein solle, seine Tätigkeit bei ON. AG
weiter auszuüben, und auf die Möglichkeit einer stufenweise Wiedereingliederung verwiesen. Allerdings hat er den Kläger lediglich
einige wenige Male (am 12. Februar 2001, 4. Juni 2007, 30. Juli 2007 und 15. Februar 2008) und nicht zeitnah zur Aufgabe der
Beschäftigung untersucht bzw. behandelt, so dass bereits aus diesem Grund seine Beurteilung wenig verwertbar erscheint. Dies
gilt gleichermaßen für die Untersuchung des Klägers bei dem Amtsärztlichen Dienst der Stadt B-Stadt (Gutachten vom 15. Juni
2009) sowie den Bericht des N. Werks in B-Stadt vom 8. Mai 2009 (ambulante Behandlung vom 7. Januar 2008 bis 29. April 2009).
Weist damit in der Gesamtschau die Befund- und Beurteilungslage Schwächen auf, so musste sich das Sozialgericht gleichwohl
nicht gedrängt sehen, ein medizinisches Sachverständigengutachten von Amts wegen in Auftrag zu geben. Insofern gehört es zu
den originären Aufgaben der Sozialgerichte, medizinische Befunde und sozialmedizinischen Beurteilungen - auch divergierende
- einer eigenen Prüfung auf Schlüssigkeit und Verwertbarkeit zu unterziehen und zu einer eigenen Überzeugung zu gelangen.
Dies setzt nicht stets die Einholung eines Gutachtens voraus.
Im Rahmen des ihm nach § 159 Abs. 1 SGG eingeräumten Ermessens hält es der Senat für sachgerecht und zweckmäßig, das Verfahren an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Insofern ist die Beweiserhebung durch das Sozialgericht unvollständig und nachzuholen. Es kann nicht ausgeschlossen werden,
dass die weitere Beweiserhebung durch Einholung eines Gutachtens bei Dr. OR. zu einem anderen Ergebnis führt. Weiter hat sich
der Senat davon leiten lassen, dass dem Kläger im Hinblick auf die Prüfung des noch einzuholenden Gutachtens zwei Tatsacheninstanzen
erhalten bleiben sollen, der Rechtsstreit erst 10 ½ Monate in der Berufungsinstanz anhängig ist, so dass die Verfahrensdauer
nicht unangemessen verlängert wird, und der Kläger im Übrigen durch sein Vorbringen in der mündlichen Verhandlung zu erkennen
gegeben hat, dass die Zurückverweisung auch in seinem Interesse liegt.
Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
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