Einstweilige Verpflichtung zur Gewährung von Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs nach SGB II
Anwendbarkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II
Entscheidung anhand einer Folgenabwägung
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Bewilligung
von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Der Antragsteller ist italienischer Staatsbürger. Er lebt zur Zeit in einem Männerwohnheim. Seit 2011/2012 lebt er in Deutschland.
Bis zum 24.06.2013 arbeitete der Antragsteller bei der Firma F Ltd. Im Juni 2013 verdiente der Antragsteller 690,00 EUR brutto
bzw. 543,54 EUR netto.
Mit Bescheid vom 31.07.2013 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller für die Zeit vom 01.07.2013 bis zum 31.12.2013
Leistungen in Höhe von monatlich 770,79 EUR.
Den Weiterbewilligungsantrag vom 22.11.2013 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 25.11.2013 ab. Auf den Widerspruch des
Antragsstellers bewilligte der Antragsgegner für die Monate Januar 2014 bis Mai 2014 mit Bescheiden vom 07.03.2014 den Regelbedarf
in Höhe von monatlich 391,00 EUR. Mit Widerspruchsbescheid vom 12.05.2014 wies der Antragsgegner den Widerspruch in Bezug
auf die Kosten für Unterkunft und Heizung als unbegründet zurück.
Der Antragsteller beantragte am 05.05.2014 beim Antragsgegner die Weiterbewilligung von Leistungen. Diesen Antrag lehnte der
Antragsgegner mit Bescheid vom 20.05.2014 ab. Der Aufnahme einer Beschäftigung habe die Bundesagentur für Arbeit nicht zugestimmt.
Es könne dem Antragsteller nicht erlaubt werden, eine Beschäftigung aufzunehmen. Daher sei der Antrag abzulehnen.
Hiergegen wandte sich der Antragsteller mit Widerspruch von 06.06.2014. Er sei als Italiener Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaates,
und habe daher freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Es bedürfe keiner weiteren Zustimmung oder Zulassung.
Am 30.11.2014 beantragte der Antragsteller erneut beim Antragsgegner die Bewilligung von Leistungen. Diesen Antrag lehnte
der Antragsgegner mit Bescheid vom 11.12.2014 ab. Der Antragssteller habe keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Er verfüge über keinen Daueraufenthaltsstatus und er gehe auch keiner Erwerbstätigkeit nach.
Hiergegen wandte sich der Antragsteller mit Widerspruch vom 12.12.2014. Der Leistungsausschluss sei nicht europarechtskonform.
Abgesehen davon habe er auf Grund des europäischen Fürsorgeabkommens einen Anspruch auf Leistungen. Der diesbezüglich erklärte
Vorbehalt sei ebenfalls nicht europarechtskonform.
Am 12.12.2014 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Köln beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu verpflichten
und ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin U zu gewähren. Er lebe seit 2011 wieder in Deutschland und
habe als Eisenflechter gearbeitet. Er suche weiter Arbeit, egal ob als Eisenflechter, Hausmeister oder auf einer Baustelle.
Er hoffe, es gebe im Frühjahr wieder Arbeit für ihn. Es sei ihm nicht möglich, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Er wisse nicht, wovon er leben solle. Er habe kein Geld mehr, auch nicht für Lebensmittel. Zudem werde er substituiert. Einmal
pro Tag müsse er zu Herrn Dr. T in L.
Mit Beschluss vom 29.12.2014 hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie auf die Bewilligung
von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Der Antragsteller sei gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Der Leistungsausschluss sei auf den Antragsteller anwendbar.
Gegen den Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 05.01.2015. Der Leistungsausschluss sei nicht europarechtskonform.
Dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs liege ein Sachverhalt zu Grunde, welcher mit dem hiesigen nicht vergleichbar sei.
Er sei von Beruf Eisenflechter und er habe in diesem Beruf auch jahrelang gearbeitet. Er sei weiterhin auf Arbeitsuche. Vor
diesem Hintergrund müsste zumindest eine Folgenabwägung erfolgen. Dies gelte vor allem im Hinblick auf seine gesundheitliche
Situation. Vor diesem Hintergrund hätte auch Prozesskostenhilfe gewährt werden müssen.
II.
1.
Die zulässige Beschwerde ist, soweit Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs betroffen sind, begründet. Insoweit zu Unrecht
hat das Sozialgericht den Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie
die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht der Hauptsache (Anordnungsanspruch)
und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 S. 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 ZPO). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art.
19 Abs.
4 GG, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen
können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn
es - wie hier - im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums
während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht (vgl. Beschlüsse des Senats vom 22.01.2015 - L 7 AS 2162/14 B ER und vom 10.09.2014 - L 7 AS 1385/14 B ER). Ist eine abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist im Wege der Folgenabwägung
zu entscheiden, in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange der Antragsteller einzustellen sind (BVerfG Beschlüsse
vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 und 06.02.2013 - 1 BvR 2366/12; Beschluss des Senats vom 11.07.2014 - L 7 AS 1035/14 B ER).
Ob ein Anordnungsanspruch im Sinne eines im Hauptsacheverfahren voraussichtlich durchsetzbaren Anspruchs auf Gewährung von
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II glaubhaft gemacht ist, muss offen bleiben. Zwar erfüllt der Antragsteller die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 4 SGB II. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig, hat seine Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht und seinen gewöhnlichen Aufenthalt
in der Bundesrepublik Deutschland. Umstritten und fraglich ist, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eingreift, weil sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 11.11.2014 (Az. C-333/13, Rechtssache E) die europarechtliche Konformität des in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II geregelten Leistungsausschlusses nicht ausdrücklich bestätigt. Die Entscheidung des EuGH beruht ausdrücklich auf der Feststellung,
dass Frau E sich nicht um Arbeit bemüht habe und es sich damit um eine Unionsbürgerin handele, die mit dem Ziel eingewandert
sei, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen (Rn. 78 der Entscheidung). Eine Entscheidung des EuGH für Personen, bei denen
die Arbeitsuche zu bejahen ist, steht noch aus (BSG EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R; Az. beim EuGH C-67/14, Rechtssache Alimanovic).
Der Antragsteller hat sich um Arbeit bemüht. Er hat in Deutschland bereits langjährig als Eisenflechter gearbeitet. An seinem
Willen, auch künftig einer Arbeitstätigkeit nachzugehen, gibt es keine belastbaren Zweifel, auch der Antragsgegner äußert
diese nicht. Da bei dem Antragsteller die Arbeitsuche zu bejahen ist, unterfällt er nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen
Prüfung jedenfalls nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt nicht der Entscheidung des EuGH vom 11.11.2014.
Die Komplexität der gesetzlichen Regelungen unter Berücksichtigung der Einwirkungen der europarechtlichen Rechtsnormen auf
die nationalen Gesetze lässt sich dem beim BSG unter dem Aktenzeichen B 4 AS 9/13 R geführten Verfahren, in dem Ansprüche von schwedischen Staatsangehörigen streitig sind, entnehmen. Das BSG hat das vorgenannte Verfahren ausgesetzt, um eine Vorabentscheidung des EuGH zu den verschiedenen Fragen einzuholen, u.a.,
ob das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004
auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1, 2 VO (EG) 883/2004 gilt (BSG, EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R, Az. beim EuGH C-67/14, Rechtssache Alimanovic).
Auf Grund der Komplexität der Rechtsfragen kann die Rechtslage in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend
beurteilt werden, so dass anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden ist. Diese fällt zu Gunsten des Antragstellers aus. Hierbei
sind die besondere Bedeutung der beantragten Leistungen für den Antragsteller gegen das fiskalische Interesse des Antragsgegners,
die vorläufig erbrachten Leistungen im Falle des Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurück zu erhalten, abzuwägen.
Vorliegend tritt das Interesse des Antragsgegners hinter das Interesse des Antragstellers zurück. Die Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem SGB II dienen der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Ohne die beantragten Leistungen drohten bzw. drohen dem Antragsteller
für den tenorierten Zeitraum existentielle Nachteile, welche er aus eigener Kraft nicht abwenden können, da der Lebensunterhalt
nicht gesichert ist. Hinzu kommt, dass der Antragsteller glaubhaft gemacht hat, aufgrund der Heroinsubstitution dringend auf
den durch die Zubilligung des Regelbedarfs gewährleisteten gesetzlichen Krankenversicherungsschutz (hierzu LSG Nordrhein-Westfalen,
Beschluss vom 24.09.2014 - L 19 AS 1680/14 B ER) angewiesen zu sein. Der Antragsgegner hingegen hat allein finanzielle Nachteile durch die vorläufige Auszahlung der
Leistungen. Daher kann dem Antragsteller im Lichte des in Art.
1 i.V.m. Art.
19 Abs.
4 GG verankerten Gebots des effektiven Rechtsschutzes und der Menschenwürde nicht zugemutet werden, ohne jede staatliche Existenzsicherung
eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (vgl. Beschlüsse des Senats vom 22.01.2015 - L 7 AS 2162/14 B ER und vom 08.09.2014 - L 7 AS 1231/14 B mit Verweis auf Beschluss vom 03.04.2013 - L 7 AS 2403/12 B und Beschluss vom 28.04.2014 - L 7 AS 550/14 B ER). Durch die zeitliche Beschränkung der vorläufigen Gewährung sind die nachteiligen Folgen auf Seiten des Antragsgegners
begrenzt. Hinsichtlich des Bewilligungszeitraums hat der Senat sich an § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II orientiert.
Der Antragsteller hat hinsichtlich der Unterkunftskosten hingegen keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da eine Gefährdung
der Unterkunft im Männerwohnheim nicht im Ansatz belegt worden ist. Insoweit war die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
2.
Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor (§§ 73a Abs. 1 S. 1
SGG, 114, 119
ZPO). Die Beiordnung der Rechtsanwältin ist unter Berücksichtigung der Schwierigkeit von Sach- und Rechtslage als erforderlich
anzusehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).