Zusatz- oder Sonderversicherung der neuen Bundesländer; Geltendmachung zusätzlicher Arbeitsentgelte in Form von Jahresendprämien
- Jahresendprämie; Glaubhaftmachung; Schätzung
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte als Versorgungsträger für das Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1
zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) verpflichtet ist, für den Kläger den Zeitraum vom 1. November 1977 bis 30. Juni 1990, der als Zeit der Zugehörigkeit zur
Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVItech) anerkannt ist, höhere Arbeitsentgelte in Form von Jahresendprämien
festzustellen.
Der 1948 geborene Kläger ist seit dem 9. November 1977 berechtigt, die Berufsbezeichnung "Ingenieur" zu führen (vgl. Bl. 12
Verwaltungsakte [VA]). Ab dem 1. November 1977 war er als Fachingenieur Instandhaltung und ab dem 1. Mai 1987 bis zum 30.
Juni 1990 als Fachingenieur Anlageninstandhaltung im Volkseigenen Betrieb Gaskombinat S... P... (nachfolgend: VEB) beschäftigt.
Mit Feststellungsbescheid vom 26. Juli 2002 (Bl. 5 VA) stellte die Beklagte die Zeiten der Zugehörigkeit zur zusätzlichen
Altersversorgung der technischen Intelligenz für den Zeitraum vom 1. November 1977 bis 30. Juni 1990 mit entsprechenden Arbeitsentgelten
fest. Mit Überprüfungsantrag vom 12. September 2007 (Bl. 85 VA) begehrte der Kläger die Feststellung höherer Entgelte unter
Einbeziehung von Prämien. Mit Bescheid vom 12. März 2003 und bestätigendem Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 2008 lehnte die
Beklagte die Feststellung höherer Entgelte mit der Begründung ab, der VEB sei am 30. Juni 1990 lediglich eine sog. "leere
Hülle" gewesen und der Feststellungsbescheid vom 26. Juli 2002 deshalb rechtswidrig. Im anschließenden Gerichtsverfahren vor
dem Sozialgericht Dresden (S 42 RS 1333/11) schlossen die Beteiligten einen Vergleich, in dem sich die Beklagte unter Anerkennung, dass § 1 Abs. 1 AAÜG anwendbar sei, zur Prüfung verpflichtete, in welchem Umfang höhere Verdienste unter Berücksichtigung von Jahresendprämien
und Bergmannstreuegeld festzustellen seien. Mit Feststellungsbescheid vom 10. Oktober 2011 stellte sie höhere Arbeitsentgelte
unter Einbeziehung von zusätzlichen Belohnungen im Bergbau, die von der R. Logistics GmbH mit Schreiben vom 15. Juni 2011
mitgeteilt wurden (Bl. 111 VA), fest. Mit seinem hiergegen gerichteten Widerspruch wandte sich der Kläger gegen die Nichteinbeziehung
von (weiteren) Sonderzahlungen. Er legte eine notariell beglaubigte Erklärung vom 26. Januar 2009 der Zeugen Dr. R... (ehemaliger
Generaldirektor), Dr. T... (ehemaliger Ökonomischer Direktor), K... (ehemaliger stellv. Hauptbuchhalter) und S... (ehemaliger
Direktor für Arbeitsversorgung und Sozialökonomie) vor, in denen sie u.a. die jährliche Zahlung von Jahresendprämien in Höhe
eines durchschnittlichen Monatsbruttogehalts bestätigen (B. 137 ff. VA). Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 7. Februar 2012 zurück. Die Gewährung und Höhe von zusätzlichen Belohnungen im Bergbau seien von Bedingungen abhängig
gewesen, die ohne Nachweis nicht mehr zweifelsfrei nachvollziehbar seien und daher nicht berechnet werden könne. Die im Zeitraum
1. Januar 1977 bis 30. Juni 1990 durch Auskunft der R. Office Systems GmbH "nachgewiesenen" Zahlungen der zusätzlichen Belohnungen
seien berücksichtigt worden. Die Zahlung von Jahresendprämien sei hingegen nicht nachgewiesen.
Mit seiner am 8. März 2012 vor dem Sozialgericht Dresden erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren hinsichtlich der Feststellung
höherer Entgelte in Form von Jahresendprämien weiterverfolgt. Er habe durch eine vorgelegte eidesstattliche Erklärung früherer
Arbeitskollegen und Vorgesetzter nachgewiesen bzw. glaubhaft gemacht, dass jeder Beschäftigte Jahresendprämien in Höhe von
mindestens zehn Prozent des Jahresverdienstes erhalten habe. In der Berechnung der R. Office System GmbH seien die mindestens
zugeflossenen Beträge nachvollziehbar dargestellt. Mit Urteil vom 23. Oktober 2014 hat das Sozialgericht die Beklagte unter
Abänderung des Feststellungsbescheides vom 10. Oktober 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Februar 2012
verurteilt, für die Jahre 1978 bis 1989 sowie für das erste Halbjahr 1990 weitere Arbeitsentgelte wegen zu berücksichtigender
Jahresendprämien für die Planjahre 1977 bis 1989 in Höhe von 5/6 von 70 Prozent der im Feststellungsbescheid vom 26. Juli
2002 festgestellten und durch zwölf geteilten Jahresentgelte im Rahmen der festgestellten Zusatzversorgungszeiten der zusätzlichen
Altersversorgung der technischen Intelligenz festzustellen. Zwar habe der Kläger keinen Nachweis für die Zahlung der Prämien
erbringen können. Jedoch habe er glaubhaft gemacht, in den geltend gemachten Jahren eine Jahresendprämie erhalten zu haben.
Ausgehend von der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Erklärung der ehemaligen Funktionsträger des VEB sowie den sonstigen
Unterlagen, aus denen hervorgehe, dass dem Kläger leistungsabhängige Zulagen zugestanden wurden, sei glaubhaft gemacht, dass
das Arbeitskollektiv, dem er angehörte, die vorgegebenen Leistungskriterien in der festgelegten Mindesthöhe erfüllte habe.
Die Höhe habe er nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere beziehe sich die Berechnung der R. Office GmbH ausschließlich auf das
im Feststellungsbescheid vom 10. Oktober 2011 bereits berücksichtigte Bergmannsgeld. Die Höhe der Jahresendprämien könne jedoch
geschätzt werden.
Gegen das am 30. Oktober 2014 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 5. November 2014 Berufung eingelegt. Sie wendet sich
gegen die Schätzung der Jahresendprämien. Sie genüge nicht den Anforderungen, die an eine willkürfreie Schätzung zu richten
seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 23. Oktober 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Auf Aufforderung des Gerichts hat der Zeuge S... Auszüge aus dem Betriebskollektivvertrag für die Jahre 1975 und 1987 sowie
der Kläger u.a. Protokolle über Leistungsgespräche, eine Mitteilung über eine Prämiengewährung, Vorschläge zur Auszeichnung
"Aktivist der sozialistischen Arbeit", Mitteilung über eine Auszeichnungsreise sowie Leistungseinschätzungen übersandt (Bl.
178 ff. GA).
Dem Gericht lagen die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakte beider Rechtszüge vor, worauf zur Ergänzung des
Sach- und Streitstandes Bezug genommen wird.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte, ohne mündlich zu verhandeln, entscheiden, weil die Beteiligten hiermit einverstanden sind, §§
153 Abs.
1,
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG).
Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Sozialgericht Dresden hat die Beklagte mit Urteil vom 23. Oktober 20014 zu
Recht verurteilt, unter Änderung des Feststellungsbescheides vom 10. Oktober 2011 höherer Arbeitsentgelte unter Berücksichtigung
gezahlter Jahresendprämien festzustellen. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Oktober 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 7. Februar 2012 ist (insoweit) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Wie das Sozialgericht zutreffend entschieden hat, ist der Feststellungsbescheid der Beklagten vom 10. Oktober 2011 dahingehend
abzuändern, dass für die Jahre 1978 bis 1990 aufgrund zu berücksichtigender Jahresendprämien höhere Arbeitsentgelte im tenorierten
Umfang) festzustellen sind.
Gemäß § 8 Abs. 1 AAÜG hat die Beklagte als der unter anderem für das Zusatzversorgungssystem der zusätzlichen Altersversorgung der technischen
Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben zuständige Versorgungsträger in einem dem Vormerkungsverfahren
nach §
149 Abs.
5 des
Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (
SGB VI) ähnlichen und außerhalb des Rentenverfahrens durchzuführenden (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 18. Juli 1996
- 4 RA 7/95 - SozR 3-8570 § 8 Nr. 2) Verfahren durch jeweils einzelne Verwaltungsakte bestimmte Feststellungen zu treffen. Vorliegend
hat die Beklagte mit Feststellungsbescheid vom 26. Juli 2002 in der Gestalt des Feststellungsbescheides vom 10. Oktober 2011
die Zeit vom 1. November 1977 bis zum 30. Juni 1990 als Zeit der Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage
1 zum AAÜG (vgl. § 5 AAÜG) sowie die während dieser Zeiten erzielten Arbeitsentgelte unter Berücksichtigung zusätzlicher Belohnungen im Bergbau festgestellt
(§ 8 Abs. 1 Satz 2 AAÜG). Weitere Entgelte in Form von Jahresendprämien hat die Beklagte zu Unrecht nicht berücksichtigt.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 AAÜG ist den Pflichtbeitragszeiten nach diesem Gesetz (vgl. § 5 AAÜG) für jedes Kalenderjahr als Verdienst (§
256a Abs.
2 SGB VI) das erzielte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zugrunde zu legen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
ist dabei dem Entgeltbegriff im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 AAÜG der bundesdeutsche Begriff des Arbeitsentgelts im Sinne von §
14 Abs.
1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (
SGB IV) zugrunde zu legen (BSG, Urteil vom 23. August 2007 - B 4 RS 4/06 R -, SozR 4-8570 § 6 Nr. 4 - juris Rn. 25 m.w.N.).
1.
Arbeitsentgelt in diesem Sinne sind nach der Rechtsprechung des BSG auch die in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) an Arbeitnehmer rechtmäßig gezahlte Jahresendprämien, weil es sich
um eine Gegenleistung des Betriebs für die von dem Werktätigen im jeweiligen Planjahr erbrachte Arbeitsleistung handelte,
wobei es nicht darauf ankommt, dass dieser Verdienst nach DDR-Recht nicht steuer- und sozialversicherungspflichtig gewesen
ist (BSG, Urteil vom 23. August 2007 - B 4 RS 4/06 R - SozR 4-8570 § 6 Nr. 4 - juris Rn. 21 ff.). Denn der Gesetzestext des § 6 Abs. 1 S. 1 AAÜG besagt, dass den Pflichtbeitragszeiten im Sinne des § 5 AAÜG als Verdienst (§
256a SGB VI) unter anderem das "erzielte Arbeitsentgelt" zugrunde zu legen ist. Aus dem Wort "erzielt" folgt nach den Ausführungen des
BSG im Zusammenhang mit § 5 Abs. 1 S. 1 AAÜG, dass es sich um Entgelt oder Einkommen handeln musste, das dem Berechtigten während der Zugehörigkeitszeiten zum Versorgungssystem
"aufgrund" seiner Beschäftigung "zugeflossen", ihm also tatsächlich gezahlt worden ist. In der DDR konnten die Werktätigen
unter bestimmten Voraussetzungen Prämien als Bestandteil ihres Arbeitseinkommens bzw. -entgelts erhalten, die im Regelfall
mit dem Betriebsergebnis verknüpft waren und eine leistungsstimulierende Wirkung ausüben sollten. Lohn und Prämien waren "Formen
der Verteilung nach Arbeitsleistung" (vgl. BSG, Urteil vom 23. August 2007, a.a.O. Rn. 30 unter Verweis auf: Arbeitsrecht - Lehrbuch, herausgegeben von einem Autorenkollektiv,
Staatsverlag der DDR, Berlin 1983, S. 193). Die Prämien wurden aus einem zu bildenden Betriebsprämienfonds finanziert, wobei
die Voraussetzungen ihrer Gewährung in einem Betriebskollektivvertrag vereinbart werden mussten. Über ihre Gewährung und Höhe
entschied der Betriebsleiter mit Zustimmung der zuständigen betrieblichen Gewerkschaftsleitung nach Beratung im Arbeitskollektiv.
Diese allgemeinen Vorgaben galten für alle Prämienformen (§ 116 des Arbeitsgesetzbuches der DDR [AGB-DDR]) und damit auch
für die Jahresendprämie (§ 118 Abs. 1 und 2 AGB-DDR). Sie diente als Anreiz zur Erfüllung und Übererfüllung der Planaufgaben,
war bezogen auf das Planjahr und hatte den Charakter einer Erfüllungsprämie. Nach § 117 Abs. 1 AGB-DDR bestand ein "Anspruch"
auf Jahresendprämie, wenn
- die Zahlung einer Jahresendprämie für das Arbeitskollektiv, dem der Werktätige angehörte, im Betriebskollektivvertrag vereinbart
war,
- der Werktätige und sein Arbeitskollektiv die vorgesehenen Leistungskriterien in der festgelegten Mindesthöhe erfüllt hatte
und
- der Werktätige während des gesamten Planjahres Angehöriger des Betriebs war (BSG, Urteil vom 23. August 2007, a.a.O. Rn. 31).
Die Feststellung von Beträgen, die als Jahresendprämie gezahlt wurden, hing davon ab, dass der Empfänger die Voraussetzungen
der §§ 117, 118 AGB-DDR erfüllt hatte. Hierfür und für den Zufluss trägt er die objektive Beweislast. Mithin wird deutlich,
dass die Zahlung von Jahresendprämien von mehreren Voraussetzungen abhing. Der Kläger hat, um eine Feststellung zusätzlicher
Entgelte beanspruchen zu können, nachzuweisen oder glaubhaft zu machen, dass alle diese Voraussetzungen in jedem einzelnen
Jahr erfüllt gewesen sind und zusätzlich, dass ihm ein bestimmter, berücksichtigungsfähiger Betrag auch zugeflossen, also
tatsächlich gezahlt worden ist.
Nach §
128 Abs.
1 Satz 1
SGG entscheidet das Gericht hierbei nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Dabei ist
neben dem Vollbeweis, d.h. der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, auch die Möglichkeit der Glaubhaftmachung des
Vorliegens weiterer Arbeitsentgelte aus Jahresendprämien gegeben. Dies kann aus der Vorschrift des § 6 Abs. 6 AAÜG abgeleitet werden, wonach, wenn ein Teil des Verdienstes nachgewiesen und der andere Teil glaubhaft gemacht wird, der glaubhaft
gemachte Teil des Verdienstes zu fünf Sechsteln berücksichtigt wird (st. Rspr. des 5. Senats des LSG Chemnitz, vgl. u.a. Urteile
vom 21. Juli 2015 - L 5 RS 668/14 -, vom 12. Mai 2015 - L 5 RS 424/14 - und vom 28. April 2015 - L 5 RS 450/14 - sowie LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. Oktober 2014 - L 33 R 151/13 - juris Rn. 38).
Der Kläger hat den Zufluss von Jahresendprämien in den Jahren 1978 bis 1990 (für die Beschäftigungsjahre 1977 bis 1989) zwar
nicht nachgewiesen, jedoch glaubhaft gemacht. Die Höhe der Jahresendprämien hat er weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht.
Hierbei hat das Sozialgericht jedoch zutreffend von der Möglichkeit der Schätzung Gebrauch gemacht.
a)
Ihr Zufluss konnte nicht nachgewiesen, jedoch glaubhaft gemacht werden.
Der Kläger verfügt nicht über die Quittungen, auf denen die (Bar-)Auszahlung der jeweiligen Prämie bestätigt wird. Eine solche
geht auch nicht aus dem Schreiben der R. Office Systems GmbH vom 15. Juni 2011 hervor. Darin sind lediglich die - fiktiv -
ermittelten "zusätzlichen Belohnungen" im Bergbau aufgeführt, nicht jedoch die vom Kläger darüber hinaus geltend gemachten
Jahresendprämien.
Jedoch konnte der Kläger den Zufluss der Prämien glaubhaft machen. Gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist eine Tatsache dann als glaubhaft gemacht anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf
sämtliche erreichbare Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun
überwiegender Wahrscheinlichkeit, das heißt der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus
gewisse Zweifel bestehen bleiben können (BSG, Urteil vom 22. September 1977 - 10 RV 15/77 - BSGE 45, 9 ff - juris Rn. 32, Urteil vom 17. Dezember 1988 - 12 RK 42/80 - BSG SozR 5070 § 3 Nr. 1 - juris Rn. 26 und Beschluss vom 10. August 1989 - 4 BA 94/89 - juris Rn. 7). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit
des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Vielmehr genügt es,
wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten
ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht; von mehreren ernstlich in Betracht
zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss den übrigen gegenüber einer das Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben
- Vollbeweis und hinreichende Wahrscheinlichkeit - reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, die Beweisanforderungen
zu erfüllen. Das Gericht ist aufgrund der Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung nach §
128 Abs.
1 Satz 1
SGG grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 - B 9 V 23/01 B -, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, SozR 3-1500 § 160a Nr. 33, SozR 3-1500 § 170 Nr. 9 - juris Rn. 5).
Ausgehend von diesen Maßstäben hat der Kläger glaubhaft gemacht, dass die oben genannten Voraussetzungen für den Bezug der
Jahresendprämien vorlagen und er sie jeweils erhalten hat.
(a) Ausweislich der Eintragungen in seinem Sozialversicherungsausweis (vgl. Anlage zur VA) war er während der gesamten Jahre
1977 bis 1989 im VEB Gaskombinat S... P... beschäftigt, was nach § 117 Abs. 1 Voraussetzung 3 AGB-DDR für den Anspruch auf
Zahlung einer Jahresendprämie vorausgesetzt war.
(b) Glaubhaft gemacht ist auch, dass die Zahlung von Jahresendprämien für das Arbeitskollektiv, dem der Kläger angehörte,
im Betriebskollektivvertrag vereinbart war sowie der Kläger und sein Arbeitskollektiv die vorgegebenen Leistungskriterien
in der festgelegten Mindesthöhe erfüllt haben, § 117 Abs. 1 Voraussetzungen 1 und 2 AGB-DDR.
Zum einen sprechen hierfür die in der DDR geltenden gesetzlichen Regelungen im AGB-DDR, das in den §§ 28 ff. einen eigenen
Abschnitt für den Betriebskollektivvertrag enthielt. Nach § 28 Abs. 1 AGB-DDR war er zwischen dem Betriebsleiter und der Betriebsgewerkschaftsleitung
abzuschließen, was mithin zwingend vorgesehen war. Nach Absatz 1 Satz 3 dieser Vorschrift sind darin u.a. die arbeitsrechtlichen
Regelungen zu treffen, die "entsprechend den Rechtsvorschriften" in ihm zu vereinbaren sind, wozu nach § 118 Abs. 1 AGB-DDR
auch die Voraussetzungen für die Gewährung und die Höhe der Jahresendprämien gehörten. Dass die Voraussetzungen für die Gewährung
von Jahresendprämien in den jeweiligen Betriebskollektivverträgen zwingend zu vereinbaren bzw. festzulegen waren, ergibt sich
zudem aus den diese Festlegungen konkretisierenden Verordnungen. Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung über die Planung, Bildung
und Verwendung des Prämienfonds und des Kultur- und Sozialfonds für volkseigene Betriebe im Jahr 1972 - Prämienfond-VO 1972
- (GBl. DDR II S. 49), die durch die Zweite Verordnung über die Planung, Bildung und Verwendung des Prämienfonds und des Kultur-
und Sozialfonds für volkseigene Betriebe vom 21. Mai 1973 (GBl. DDR I S. 293) geändert wurde, und § 8 Abs. 3 Satz 1 und 2
der Verordnung über die Planung, Bildung und Verwendung des Prämienfonds für volkseigene Betriebe - Prämienfond-VO 1982 -
(BGl. DDR I S. 595) ist die Verwendung des Prämienfonds in den Betriebskollektivverträgen zu vereinbaren. Nach § 5 Abs. 2
Satz 2 Spiegelstrich 2 Prämienfond-VO 1972 bzw. § 8 Abs. 3 Satz 3 Spiegelstrich 4 Prämienfond-VO 1982 ist dabei u.a. zu vereinbaren,
unter welchen Voraussetzungen Jahresendprämien als Form der materiellen Interessiertheit der Werktätigen an guten Wirtschaftsergebnissen
des Betriebes im gesamten Planjahr angewendet werden.
Darüber hinaus sprechen hierfür die vom Zeugen S... übersandten Auszüge aus den Betriebskollektivverträgen für die Jahre 1975
und 1987. So sind im Betriebskollektivvertrag für das Jahr 1975 unter Ziff. 2.4 Regelungen zur Jahresendprämie enthalten,
wobei deren Bildung unter Ziffer 2.4.1 bzw. ihre Verwendung unter Ziffer 2.4.2 konkretisiert ist. Danach ist bei der Festlegung
der Jahresendprämie von einem einheitlichen Prozentsatz des Monats(durchschnitts)verdienstes auszugehen. Weiter hat der Werktätige
Anspruch auf Jahresendprämie, wenn er während des gesamten Planjahres tätig war und die kollektiv und individuell festgelegten
Leistungskriterien erfüllt hat. Im Betriebskollektivvertrag für das Jahr 1987 ist der Anspruch auf Jahresendprämie in Anlage
5 (Bl. 170 GA) geregelt, wobei zunächst im Wesentlichen die Regelungen in § 117 AGB-DDR wiedergegeben werden. Weiter war die
Jahresendprämie für jeden Werktätigen nach Leistung zu differenzieren, wobei für die Differenzierung der Leiter des Kollektivs
verantwortlich war. Diese Regelungen sprechen für eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass auch in den übrigen in Rede stehenden
Planjahren Jahresendprämien in den jeweiligen Betriebskollektivverträgen vereinbart waren. Aufgrund der eidesstattlichen Versicherung
der Zeugen Dr. R..., Dr. T..., K... und S... ist zudem glaubhaft gemacht, dass der Kläger und das Arbeitskollektiv, dem er
angehörte, die vorgegebenen Leistungskriterien in der festgelegten Mindesthöhe erfüllt haben (§ 117 Abs. 1 Voraussetzung 2
AGB-DDR). So gaben sie übereinstimmend an, im VEB Gaskombinat S... P... sei in allen Kombinatsbetrieben in den Jahren 1969
bis 1989 jedem Beschäftigten zusätzlich eine Jahresendprämie gezahlt worden, wobei die Zahlungen in betrieblichen Listen erfasst
worden seien. Hinzu kommen die vom Kläger vorgelegten Leistungseinschätzungen und Würdigungen seiner Arbeit - u.a. in Form
einer Auszeichnung mit einer Freundschaftsreise -, die belegen, dass der Kläger zu den leistungsstarken Werktätigen im VEB
zählte. So wird ihm u.a. in der Leistungseinschätzung vom 7. Februar 1986 Pünktlichkeit, Einsatzbereitschaft und Initiative
bescheinigt. In der vorgelegten Abschlussbeurteilung vom 8. Mai 1987 wird eine sehr gute Erfüllung seiner fachlichen Aufgaben
bestätigt, weshalb er mehrfach ausgezeichnet worden sei.
b)
Die konkrete Höhe der Jahresendprämien konnte der Kläger - da bereits der Nachweis ihres Zuflusses nicht gelang - nicht nachweisen.
Auch eine Glaubhaftmachung ist nicht gelungen.
Weder den Erklärungen der Zeugen noch denen des Klägers selbst konnte die Höhe der Jahresendprämien mit an Sicherheit grenzender
bzw. überwiegender Wahrscheinlichkeit entnommen werden. Zwar gaben die Zeugen Dr. R..., Dr. T..., K... und S... an, sie seien
in Höhe eines durchschnittlichen Monatsbruttogehaltes gezahlt worden. Aus den vorgelegten Auszügen der Betriebskollektivverträge
geht jedoch hervor, dass ihre Höhe jährlich differierte, weshalb ein Durchschnittsmonatsgehalt nicht pauschal zugrunde gelegt
werden kann. Zwar war danach für alle Beschäftigten bei der Berechnung der Jahresendprämie von einem einheitlichen Prozentsatz
des Monatsverdienstes auszugehen. Dies stellte jedoch nur den Anknüpfungspunkt dar, denn die Höhe der Prämien bestimmte sich
ausdrücklich nach der Leistung der Arbeitskollektive und des einzelnen Werktätigen.
Das Sozialgericht hat jedoch von seiner im Rahmen der Einzelfallwürdigung nach §
202 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) in Verbindung mit §§
287 Abs.
2 und Abs.
1 Satz 1
Zivilprozessordnung (
ZPO) gegebenen Möglichkeit der Schätzung Gebrauch gemacht (vgl. hierzu beispielhaft die Senatsurteile vom 4. Februar 2014 - L
5 RS 462/13 - und vom 12. Mai 2015 - L RS 382/14). Gemäß §
287 Abs.
1 Satz 1 Alt. 2
ZPO entscheidet das Gericht, wenn streitig ist, ob ein Schaden entstanden ist und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes
Interesse beläuft, unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung. Diese Vorschrift ist nach Absatz 2 bei vermögensrechtlichen
Streitigkeiten auch in anderen Fällen entsprechend anzuwenden, soweit unter den Parteien die Höhe einer Forderung streitig
ist und die vollständige Aufklärung aller hierfür maßgebenden Umstände mit Schwierigkeiten verbunden ist, die zu der Bedeutung
des streitigen Teiles der Forderung in keinem Verhältnis stehen. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Zum einen handelt es
sich bei dem Streit über die Feststellung (weiterer) Arbeitsentgelte zumindest mittelbar um eine vermögensrechtliche Streitigkeit.
Zwar ist der prozessuale Anspruch unmittelbar nicht auf Geld, sondern auf die Feststellung erzielter Arbeitsentgelte gerichtet.
Eine vermögensrechtliche Streitigkeit liegt jedoch auch dann vor, wenn der prozessuale Anspruch auf einem vermögensrechtlichen
Rechtsverhältnis beruht, das auf Gewinn oder Erhaltung von Geld oder geldwerten Gegenständen gerichtet ist (vgl. Reichold
in Thomas/Putzo,
Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2012, Einleitung IV Nr. 1). Dies ist der Fall, weil die von der Beklagten festzustellenden Entgelte Grundlage
für die Höhe des Anspruchs auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung und mithin einer Geldforderung sind, vgl.
§ 8 Abs. 1 AAÜG. Zum anderen wäre die vollständige Aufklärung der für die Berechnung der konkret zugeflossenen Jahresendprämien maßgebenden
Umstände mit Schwierigkeiten verbunden, die zur Bedeutung des streitigen Teils der Forderung in keinem Verhältnis stehen.
Als jährlicher Basiswert der Prämienhöhe ist mangels anderweitiger Anhaltspunkte der jeweils im Planungsjahr erzielte durchschnittliche
Bruttomonatslohn zu Grunde zu legen, wie er sich aus dem Feststellungsbescheid der Beklagten vom 26. Juli 2002 ergibt. Der
Feststellungsbescheid in der Fassung vom 10. Oktober 2011 hat das Sozialgericht hingegen zutreffend nicht zugrunde gelegt,
weil darin bereits "zusätzliche Belohnungen" im Bergbau berücksichtigt wurden, die den durchschnittlichen Bruttomonatslohn
erhöhen. Die Anknüpfung an den durchschnittlichen Bruttomonatslohn ist vor allem deshalb gerechtfertigt, weil auch die staatlichen
Prämienverordnungen, die die in den Betriebskollektivverträgen festzulegenden Voraussetzungen für die Zahlung von Jahresendprämien
konkretisierten, für die Höhe der Jahresendprämien an den durchschnittlichen Monatsverdienst anknüpften. So betrug die Jahresendprämie
nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 und 3 Prämienfond-VO 1972 mindestens ein Drittel und maximal das Zweifache des monatlichen Durchschnittsverdienstes
des Werktätigen. Diese Anknüpfung wird durch die benannten Regelungen in den vorgelegten Betriebskollektivverträgen bestätigt.
Von diesem Wert ist ein Abschlag von 30 von Hundert vorzunehmen, weil die Höhe der jeweils an den Werktätigen ausgezahlten
Jahresendprämie von einer Vielzahl verschiedener Faktoren abhing, die im konkreten Einzelfall nicht mehr nachvollziehbar sind.
So erhielt der Werktätige nach § 117 Abs. 3 AGB-DDR bei einer im Planjahr vorliegenden vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit
die Jahresendprämie (nur) entsprechend seiner in diesem Jahr erbrachten Gesamtleistung. Auch konnte die Jahresendprämie nach
§ 117 Abs. 4 AGB-DDR bei "schwerwiegender Verletzung der sozialistischen Arbeitsdisziplin oder der staatsbürgerlichen Pflichten"
gemindert werden oder entfallen. Gemäß § 118 Abs. 2 Satz 1 AGB-DDR wurde die Jahresendprämie für den einzelnen Werktätigen
vom Betriebsleiter nach Beratung im Arbeitskollektiv festgelegt und bedurfte der Zustimmung der zuständigen betrieblichen
Gewerkschaftsleitung. Aufgrund dieser gesetzlich vorgesehenen individuellen Festlegung ist nicht davon auszugehen, dass die
Jahresendprämie stets 100 von Hundert oder mehr eines durchschnittlichen Bruttomonatsverdienstes entsprach. Von dem danach
geschätzten Betrag ist ein weiterer Abschlag in Höhe eines Sechstel sachlich gerechtfertigt, weil der Kläger bereits den Zufluss
der Jahresendprämie lediglich glaubhaft machen konnte. Dies folgt aus dem Rechtsgedanken des § 6 Abs. 6 AAÜG, wonach der glaubhaft gemachte Teil eines Verdienstes nur in dieser Höhe berücksichtigt wird. Dies muss erst recht gelten,
wenn lediglich der Zufluss des Verdienstes glaubhaft gemacht wurde.
Hieraus ergeben sich folgende zu berücksichtigende Jahresendprämien:
Anspruchsjahr
|
Jahresarbeits-verdienst in Mark
|
Monatsdurch-schnittsverdienst
|
70vH
|
5/6
|
Zuflussjahr
|
1977
|
1.960,43
|
980,22
|
686,15
|
571,79
|
1978
|
1978
|
13.746,72
|
1.145,56
|
801,89
|
668,24
|
1979
|
1979
|
13.840,52
|
1.153,37
|
807,36
|
672,80
|
1980
|
1980
|
14.941,37
|
1.245,11
|
871,58
|
726,32
|
1981
|
1981
|
13.487,17
|
1.123,93
|
786,75
|
655,63
|
1982
|
1982
|
13.487,22
|
1.123,94
|
786,75
|
655,63
|
1983
|
1983
|
15.406,80
|
1.283,90
|
898,73
|
748,94
|
1984
|
1984
|
15.406,80
|
1.283,90
|
898,73
|
748,94
|
1985
|
1985
|
15.257,69
|
1.271,47
|
890,03
|
741,69
|
1986
|
1986
|
16.274,07
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1.356,17
|
949,32
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791,10
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1987
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1987
|
17.250,49
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1.437,54
|
1.006,28
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838,57
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1988
|
1988
|
18.419,44
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1.534,95
|
1.074,47
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895,39
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1989
|
1989
|
17.829,00
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1.485,75
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1.040,03
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866,69
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1990
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Der Tenor war (lediglich) insoweit abzuändern, dass die Höhe der Jahresendprämien ausdrücklich benannt wird und dass der Feststellungsbescheid
vom 26. Juli 2002 in der Fassung des Bescheides vom 10. Oktober 2011 geändert wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183,
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.