Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II; Übernahme der Kosten für eine kieferorthopädische Wunschbehandlung
Gründe:
I.
Die Klägerinnen wenden sich mit ihrer Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 28. September 2011. Dieses
hat ihre Klage auf Übernahme der Kosten nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für eine kieferorthopädische Wunschbehandlung der Klägerin zu 2. i.H.v. 335 EUR abgelehnt.
Die Klägerinnen bezogen im streitigen Zeitraum als Mitglieder einer sechsköpfigen Bedarfsgemeinschaft, bestehen aus den Eltern
und vier Kindern, ergänzende Leistungen nach dem SGB II. Der Vater der Klägerin zu 2. erzielte in der ersten Jahreshälfte 2010 ein Nettoeinkommen i.H.v. 997,71 EUR/Monat. Dieses
wurde abzüglich eines Grund- und eines einkommensabhängigen Freibetrags i.H.v. 285,07 EUR/Monat auf den Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft
angerechnet (Bescheid vom 20. Januar 2010 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 5. März 2010, 6. April 2010, 10. Mai 2010
und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Mai 2010).
Die Klägerin zu 1. beantragte am 7. Januar 2010 die Übernahme der Kosten für eine kieferorthopädische Wunschbehandlung der
Klägerin zu 2., die von der gesetzlichen Krankenkasse nicht übernommen wurde. Beigefügt war eine "Vereinbarung zur kieferorthopädischen
Behandlung" mit der Fachzahnärztin für Kieferorthopädie Dr. W. Dort waren Leistungen, die von der gesetzlichen Krankenkasse
nicht übernommen würden, i.H.v. insgesamt 335 EUR vereinbart. Es handelte sich um "hypoallergene und komfortable Miniaturbrackets",
"superelastische Drahtbögen", eine zweimalige "professionelle Zahnreinigung" und einen "Retainer" für die Zeit nach Abschluss
der kieferorthopädischen Behandlung. Die Kosten sollten ratenweise i.H.v. 41,88 EUR/Quartal beglichen werden.
Der Beklagte lehnte die Leistungsübernahme mit Bescheid vom 20. Januar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.
April 2010 ab. Die geltend gemachten Kosten seien von der Regelleistung erfasst. Eine Sonderleistung im Rahmen des § 23 SGB II komme nicht in Betracht. Es handele sich auch nicht um einen unabweisbaren Bedarf im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG) vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1,3 und 4/09).
Dagegen haben die Klägerinnen am 17. Mai 2010 Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau erhoben. Kosten, die von der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht übernommen würden, seien nicht in der Regelleistung enthalten. Die kieferorthopädische Behandlung
sei ein Sonderbedarf. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprächen nicht dem Stand der Wissenschaft.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 28. September 2011 als unbegründet abgewiesen. Die Klägerinnen hätten keinen
Anspruch auf Erstattung der im Rahmen der kieferorthopädischen Behandlung aufgewendeten Kosten. Die Vorschrift des § 21 Abs. 6 SGB II sei erst zum 3. Juni 2010 in Kraft getreten und finde keine Anwendung. Auch nach dem Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010
bestehe kein Anspruch. Es handele sich um einen einmaligen und nicht um einen laufenden, besonderen Bedarf. Dieser sei auch
nicht unabweisbar. Es handele sich um eine von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr gedeckte Wunschleistung. Das
Sozialgericht hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Gegen das Ihnen am 24. Oktober 2011 zugestellte Urteil haben die Klägerinnen am 23. November 2011 Berufung eingelegt und die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Es handele sich entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und laufende Kosten,
je nach dem Anfall der jeweiligen medizinischen Leistungen. Die Kosten seien auch unabweisbar. Die Basisversorgung der gesetzlichen
Krankenversicherung entspreche nicht dem Stand der ärztlichen Wissenschaft. Erforderlich sei die Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Die Klägerinnen haben eine Bescheinigung der Fachzahnärztin für Kieferorthopädie Dr. W. vom 1. November 2011 vorgelegt. Danach
habe aus medizinischer Indikation eine festsitzende Apparatur mit geringen, dosierten Kräften eingesetzt werden müssen. Dies
lasse sich nur mit programmierten Brackets und superelastischen Drähten zuverlässig umsetzen. Professionelle Zahnreinigung
und bilingualer Retainer gehörten nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiter haben die Klägerinnen
ausgeführt, auch ein Anspruch der Klägerin zu 1. bestehe. Diese sei sorgeberechtigt für die Klägerin zu 2. und habe sich vertraglich
zur vereinbarten Ratenzahlungen verpflichtet.
Der Beklagte hält die Berufung der Klägerin zu 1. für unzulässig, da nur ein Anspruch nach dem SGB II für die Klägerin zu 2. bestehen könne. Hinsichtlich der Klägerin zu 2. sei die Berufung unbegründet. Ein Mehrbedarf gemäß
§ 21 Abs. 2 bis 5 SGB II oder ein Bedarf gemäß § 21 Abs. 6 SGB II schieden aus.
II.
Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf die beantragte Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren.
Nach §
73a Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) i.V.m. §§
114 ff.
Zivilprozessordnung (
ZPO) ist auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, soweit der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte
Rechtsverfolgung oder -verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dabei hat der Antragsteller
gemäß §
115 ZPO für die Prozessführung sein Einkommen und Vermögen einzusetzen, soweit ihm dies nicht aufgrund der dort genannten Tatbestände
unzumutbar ist.
Als hinreichend sind die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels einzuschätzen, wenn der Erfolg in der Hauptsache zwar nicht
gewiss, eine Erfolgschance jedoch nicht unwahrscheinlich ist (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13. März 1990,
1 BvR 94/88, NJW 1991, S. 413 f.). Prozesskostenhilfe kommt hingegen nicht in Betracht, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht gänzlich ausgeschlossen,
die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (Bundessozialgericht, Urteil vom 17. Februar 1998, B 13 RJ 83/97 R, SozR 3-1500 § 62 Nr. 19).
1.
Die Berufung der Klägerin zu 1. ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide verletzten diese nicht in ihren subjektiv-öffentlichen
Rechten gegenüber dem Beklagten. Ein Leistungsanspruch scheidet nämlich schon deshalb aus, weil diese keine Leistungen nach
dem SGB II für die kieferorthopädische Behandlung ihrer Tochter beanspruchen kann. Zu Recht weist der Beklagte darauf hin, dass gemäß
dem Individualisierungsgrundsatz im SGB II Leistungen für jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft gesondert zu erbringen sind. Nach § 7 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch u.a. Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft
leben. Da streitgegenständlich nur die Erstattung von Kosten für eine kieferorthopädische Behandlung der Klägerin zu 2. ist,
kann auch nur diese anspruchsberechtigt gegenüber dem Beklagten sein. Die Frage der zivilrechtlichen Zahlungsverpflichtung
der Klägerin zu 1. gegenüber der behandelnden Fachzahnärztin für Kieferorthopädie ist insoweit nicht von Bedeutung. Die Klägerin
zu 1. ist somit nicht beschwert i.S.v. §
54 Abs.
1 SGG durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten.
2.
Auch hinsichtlich der Klägerin zu 2. besteht keine hinreichende Aussicht auf Erfolg des Berufungsverfahrens.
a.
Eine einfachgesetzliche Grundlage für die von der Klägerin zu 2. geltend gemachte Kostenerstattung findet sich im SGB II nicht.
§ 23 Abs. 1 SGB II a.F. sieht bei im Einzelfall von den Regelleistungen umfassten und nach den Umständen unabweisbaren Bedarfen zur Sicherung
des Lebensunterhalts lediglich ein Darlehen vor. Die Klägerin zu 2. begehrt jedoch ausschließlich eine Leistungsbewilligung
im Wege eines Zuschusses. Daher scheidet diese Norm als Anspruchsgrundlage aus.
Ein Mehrbedarf i.S.v. § 23 Abs. 3 SGB II liegt nicht vor.
Auch eine Kostenübernahme durch den - gegebenenfalls beizuladenden Sozialhilfeträger gemäß § 73 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) kommt hier nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Betracht. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) konnte jedenfalls bis zum Jahr 2010 bei atypischen, besonderen Bedarfslagen ein Anspruch gemäß § 73 SGB XII bestehen. Voraussetzung ist ein besonderer Bedarf, die eine Nähe zu den in den §§ 47 bis 74 SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist. Es muss ein den Grundrechtsbereich tangierender Bedarf ungedeckt bleiben, der vom Rechtssystem
eigentlich gedeckt werden müsste. Bagatellbedürfnisse oder Bedürfnisse ohne Grundrechtsbezug sollen dabei außer acht bleiben
(BSG, Urteil vom 19. August 2010, B 14 AS 13/10 R (15)).
Hier ist eine Gefährdung des Grundrechts auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit gemäß Art.
2 Abs.
2 Grundgesetz (
GG) nicht erkennbar. Denn es hat eine kieferorthopädische Grundversorgung im Rahmen der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung
stattgefunden. Streitig ist lediglich die Übernahme der darüber hinausgehenden Wunschleistungen. Eine Gefährdung des Grundrechts
auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit vermag der Senat insoweit nicht zu erkennen. Selbst wenn die gesetzliche Grundversorgung
nicht dem aktuellsten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen sollte, birgt diese nicht die Gefahr einer Gesundheitsstörung
oder einer Verletzung der körperlichen Unversehrtheit.
Es kann offen bleiben, ob § 22 Abs. 6 SGB II, der nach Abschluss des Wahlleistungsvertrags mit der behandelnden Fachzahnärztin für Kieferorthopädie eingeführt worden
ist, zumindest auf die von dieser nach dem 3. Juni 2010 erbrachten Leistungen Anwendung findet. Denn diese Vorschrift entspricht
den Vorgaben des BVerfG im Urteil vom 9. Februar 2010, das bis zur Einführung einer entsprechenden Norm im Sinne einer Übergangsregelung
eine einfachgesetzliche Anspruchsgrundlage geschaffen hat (BVerfG, Beschluss vom 24. März 2010, 1 BVR 395/09 (7)). Der Prüfungsmaßstab
unterscheidet sich insoweit nicht.
Voraussetzung ist jeweils ein unabweisbarer, laufender und besonderer Bedarf. Dieser muss im Einzelfall zur Deckung des menschenwürdigen
Existenzminimums zwingend erforderlich sein. Es handelt sich um eine Härtefallregelung mit der Erforderlichkeit einer engen
und strikten Auslegung der Voraussetzungen. Der Bedarf muss so erheblich sein, dass die Gesamtsumme der den Hilfebedürftigen
gewährten Leistungen einschließlich der Leistungen Dritter und unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten das menschenwürdige
Existenzminimum nicht mehr zu gewährleisten in der Lage ist (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 2010, B 4 AS 29/09 R (33)).
Unter Anlegung dieser Maßstäbe liegt kein Härtefall vor, der zur Vermeidung einer erheblichen Unterschreitung des menschenwürdigen
Existenzminimums die Kostenübernahme erfordert. Zu berücksichtigen ist insoweit die Vorgabe des BVerfG, wonach die Ausnahmevorschrift
nur auf eng begrenzte Härtefälle anzuwenden ist.
Es handelt sich nach Dafürhalten des Senats schon nicht um einen unabweisbaren Bedarf. Die Behandlung von Fehlstellungen der
Zähne über die Grundversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus ist für ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht
zwingende Voraussetzung. Dies ergibt sich schon aus der vorgelegten "Vereinbarung zur kieferorthopädischen Behandlung". Nach
dem von der behandelnden Fachärztin für Kieferorthopädie formulierten Text sei mit der derzeitig bestehenden vertragszahnärztlichen
Versorgung eine "notwendige, ausreichende und wirtschaftliche kieferorthopädische Versorgung gewährleistet". Die zur Anwendung
gekommenen Wunschleistungen mögen den Behandlungserfolg schneller und/oder zuverlässiger herbeiführen. Darauf deutet die im
Berufungsverfahren vorgelegte Stellungnahme der Fachärztin für Kieferorthopädie vom 1. November 2011 hin. Zwingend zur Aufrechterhaltung
eines menschenwürdigen Existenzminimums sind sie jedoch nicht. Anderenfalls müssten die entsprechenden Grundleistungen der
gesetzlichen Krankenversicherung als mit der Würde des Menschen nicht vereinbar erachtet werden.
Darüber hinaus liegt auch kein laufender Bedarf vor. Vereinbart waren Wahlleistungen, die insgesamt bei lediglich vier Behandlungen
zum Einsatz kamen (Anbringen von Miniaturbrackets und superelastischen Drahtbögen bei Beginn der Behandlung, zweimalige professionelle
Zahnreinigung während der Behandlung, Anbringung eines Retainers nach Abschluss der Behandlung). Angesichts der bekanntermaßen
längerfristigen Behandlungsdauer von kieferorthopädischen Fehlstellungen handelt es sich nicht um regelmäßig wiederkehrende
Bedarfe.
Schließlich ist zu beachten, dass der Vater der Klägerin zu 2., der als Sorgeberechtigter für ihren Unterhalt aufzukommen
hat, auf Einsparpotenziale zurückgreifen konnte. Denn von dessen Einkommen blieb in der ersten Jahreshälfte 2010 ein Betrag
von 285,07 EUR/Monat vollständig anrechnungsfrei und war zur Deckung des Gesamthilfebedarfs der Familie nicht einzusetzen.
Angesichts einer monatlichen Belastung von 13,96 EUR (41,88 EUR: 3) birgt der Verweis auf die Verwendung von Eigenmitteln
nicht die Gefahr einer Gefährdung des menschenwürdiges Existenzminimums der Bedarfsgemeinschaft.
3.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).