Kosten für Unterkunft
Berücksichtigung eines Kopfteils für Wehrdienst leistendes Kind
Kopfteilprinzip
Gemeinsame Nutzung einer Unterkunft
Tatbestand:
Die Kläger begehren im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens höhere Kosten für Unterkunft ohne Berücksichtigung eines Kopfteils
für ihren Wehrdienst leistenden Sohn.
Die Kläger, Bezieher von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), lebten mit ihrem 1986 geborenen Sohn in einer 72 qm großen Mietwohnung in S. und erhielten Leistungen unter Berücksichtigung
des Sohnes als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft.
Nachdem der Sohn zum 1. April 2008 seinen neunmonatigen Wehrdienst in P. (O., ca. 215 km von S. entfernt) angetreten hatte,
änderte der Beklagte die Bewilligung ab April 2008 dergestalt ab, dass dem Sohn keine Leistungen mehr gewährt und die Kosten
der Unterkunft (KdU) entsprechend dem auf ihn entfallenden 1/3-Anteil gekürzt wurden, weil er nur noch zur Haushaltsgemeinschaft
gehöre.
Im Dezember 2009 beantragten die Kläger die Überprüfung bisheriger Bescheide u. a. für den Zeitraum April 2008 bis Dezember
2009 im Hinblick auf die KdU und begehrten die Berücksichtigung der tatsächlichen Aufwendungen.
Im Anschluss an den Grundwehrdienst leistete der Sohn der Kläger zusätzlichen Wehrdienst, der am 28. Februar 2010 endete.
Mit Bescheid vom 5. Oktober 2011 wurden den Klägern auf den Überprüfungsantrag höhere KdU wegen der Müllentsorgung gewährt;
die vollständige Mietübernahme wurde unter Hinweis auf die Zugehörigkeit des Sohnes zur Haushaltsgemeinschaft abgelehnt. Der
Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 8. März 2013).
Im anschließenden, auf den Zeitraum April 2008 bis Dezember 2009 beschränkten Klageverfahren wurde die Klägerin persönlich
angehört. Sie erklärte im Termin der mündlichen Verhandlung, der Sohn sei in Bayern in einer Kaserne stationiert gewesen und
tatsächlich nur gelegentlich an den Wochenenden nach Hause gekommen, manchmal nur einmal im Monat. Über den gesamten Zeitraum
habe er sich wohl nur zweimal eventuell mit 100 EUR an den Mietkosten beteiligt; mehr habe er nicht dazu gezahlt.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 17. Februar 2015 abgewiesen, weil der Sohn der Kläger auch während des Wehrdienstes
seinen Lebensmittelpunkt bei ihnen gehabt habe. Er habe mit in die gemeinsame Kasse der Eltern für das Haus gewirtschaftet
und insgesamt 200,- EUR für diesen Zeitraum gezahlt, in dem er sein Zimmer genutzt habe. Die Klägerin habe sich auch um seine
Wäsche gekümmert. Nach dem Wehrdienst sei er wieder in sein Zimmer zurückgezogen.
Mit der Berufung verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Vor dem Wehrdienst sei vereinbart worden, dass sich ihr Sohn an
den Lebenshaltungskosten zu beteiligen und monatlich für Lebensmittel, Reinigung der Wäsche u. a. 200,- EUR an Kostgeld beizusteuern
habe.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 17. Februar 2015 und den Bescheid vom 5. Oktober 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 8. März 2013 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die für den Zeitraum April 2008 bis Dezember 2009 ergangenen
Bescheide abzuändern und ihnen höhere Kosten der Unterkunft ohne Berücksichtigung eines Kopfteils für ihren Wehrdienst leistenden
Sohn zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angegriffenen Entscheidungen für rechtmäßig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze
Bezug genommen. Die Verwaltungsakten des Beklagten lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet. Die Kläger haben Anspruch auf Abänderung der für den Zeitraum April 2008 bis Dezember
2009 erlassenen Bewilligungsbescheide ohne Berücksichtigung eines Kopfteils für ihren Wehrdienst leistenden Sohn (§ 40 Abs. 1 SGB II i. V. m. § 44 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X). Die anderslautenden Entscheidungen sind aufzuheben.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 5. Oktober 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. März 2013 (§
95 SGG), mit dem der Beklagte es abgelehnt hat, unter weiterer Abänderung entgegenstehender bestandskräftiger Bescheide rückwirkend
die Miete in tatsächlicher Höhe zu übernehmen. Gegen diesen Bescheid wenden sich die Kläger mit der kombinierten Anfechtungs-,
Verpflichtungs- und Leistungsklage nach §
54 Abs.
1 Satz 1 i. V. m. Abs.
4 SGG, §
56 SGG, auf die auch bei Anwendung des § 44 SGB X ein Grundurteil nach §
130 Abs.
1 SGG ergehen kann (vgl. BSGE 88, 299, 300; BSG, Urteil vom 28. Februar 2013 - B 8 SO 4/12 R - RdNr 9). Streitgegenstand sind dabei allein Leistungen für Unterkunft für
die Kläger im Zeitraum vom 1. April 2008 bis 31. Dezember 2009 (vgl. zur Zulässigkeit einer solchen Beschränkung BSG Urteil vom 16. Juni 2015 - B 4 AS 37/14 R -).
Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn
bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig
erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Beklagte hat die KdU der Kläger zu Unrecht generell um einen für ihren Sohn angenommenen
1/3-Kopfteil gekürzt.
Die Kläger erfüllen die Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 SGB II. Unter dem Gesichtspunkt der Hilfebedürftigkeit der Kläger ist ihr Sohn im Hinblick auf § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II nicht als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigen, weil er dem Haushalt der Kläger im hier maßgeblichen Zeitraum
nicht angehörte.
Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 14. März 2012 - B 14 AS 17/11 R - Rdnr. 26), der der Senat folgt, ist beim Tatbestandsmerkmal der "Haushaltsaufnahme" von Kindern auf das Bestehen einer
Familiengemeinschaft abzustellen, die eine Schnittstelle von Merkmalen örtlicher (Familienwohnung), materieller (Vorsorge,
Unterhalt) und immaterieller Art (Zuwendung, Fürsorge, Begründung eines familienähnlichen Bandes) darstellt; die Herstellung
einer lediglich räumlichen Verbindung im Sinne einer Duldung der Anwesenheit in der Wohnung genügt dagegen nicht.
Im hier vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass der wehrdienstleistende Sohn der Kläger nicht dem Haushalt der Eltern
angehörte, sondern einen eigenständigen Wohnsitz am Ort der über 200 km entfernten Kaserne hatte. Dem Sohn der Kläger diente
die Wohnung in S. während des Wehrdienstes, und damit während des hier streitgegenständlichen Zeitraums, nicht zur Deckung
seines Wohnbedarfs. Dieser ist durch die vom Dienstherrn (Bund) im Rahmen des Wehrdienstverhältnisses gestellte Unterkunft
gedeckt worden. Insoweit spielt es keine Rolle, wenn der Sohn die Kläger während des Wehrdienstes besucht und die Wohnung
auch genutzt hat. Die Lebensverhältnisse wehrpflichtiger Soldaten sind durch den Wehrdienst und die an ihn anknüpfenden rechtlichen
Beziehungen beeinflusst. Während des Wehrdienstes haben die Lebensbeziehungen des Wehrpflichtigen ihren Schwerpunkt an dem
Ort, an dem er seine Wehrpflicht zu erfüllen hat. Dort wird ihm gemäß § 4 Wehrsoldgesetz (WSG) freie Unterkunft gestellt. Auch die anderen elementaren Lebensbedürfnisse (Verpflegung, Dienstbekleidung, Heilfürsorge)
wehrpflichtiger Soldaten werden nach dem WSG durch Leistungen des Dienstherrn, zu dem sie in einem Sonderrechtsverhältnis stehen, umfassend sichergestellt (vgl. LSG Sachsen-Anhalt,
Urteil vom 3. April 2008 - L 2 AS 56/06 - zu § 22 SGB II). Daraus folgt für den Senat, dass die Wohnung der Kläger nicht auch zur Deckung des Wohnbedarfs ihres Sohnes diente.
Dem widerspricht die von den Klägern mit ihrem Sohn geschlossene Vereinbarung nicht. Soweit mit der Berufung vorgetragen wurde,
der Sohn der Kläger habe 200,- EUR monatlich für Lebensmittel, Reinigung der Wäsche etc. zu den Lebenshaltungskosten beisteuern
müssen, folgt der Senat dem nicht, weil sich dies nicht mit den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem
Sozialgericht deckt. Dort hatte sie nur davon gesprochen, dass er sich wohl nur zweimal "eventuell" mit 100 EUR "an den Mietkosten"
beteiligt habe; von einem sonstigen Finanzbeitrag war ausdrücklich nicht die Rede. Diese - von den Klägern als Unterkunftskostenanteil
angesehene - Kostenbeteiligung führt nicht dazu, dass entgegen den obigen Feststellungen zur Sachlage von einer Haushaltszugehörigkeit
des Sohnes der Kläger auszugehen ist.
Die Leistungen (heute Bedarfe) für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese
angemessen sind (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Zur Berechnung dieser Bedarfe sind die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, deren Angemessenheit und
ihre Verteilung auf die in der Wohnung lebenden Personen zu ermitteln sowie ggf. weitere mögliche Einwände zu prüfen.
Die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sind nach gefestigter Rechtsprechung des BSG, der der Senat folgt, im Regelfall unabhängig von Alter und Nutzungsintensität anteilig pro Kopf aufzuteilen, wenn Hilfebedürftige
eine Unterkunft gemeinsam mit anderen Personen nutzen (vgl. BSG vom 23. November 2006 - B 11b AS 1/06 R - BSGE 97, 265). Hintergrund für dieses auf das Bundesverwaltungsgericht zurückgehende "Kopfteilprinzip" sind Gründe der Verwaltungsvereinfachung
sowie die Überlegung, dass die gemeinsame Nutzung einer Wohnung durch mehrere Personen deren Unterkunftsbedarf dem Grunde
nach abdeckt und in aller Regel eine an der unterschiedlichen Intensität der Nutzung ausgerichtete Aufteilung der Aufwendungen
für die Erfüllung des Grundbedürfnisses Wohnen nicht zulässt.
Aufbauend auf dieser Rechtsprechung hat das BSG in seiner Entscheidung vom 29. November 2012 (B 14 AS 36/12 R) eine Abweichung vom Kopfteilprinzip für diejenigen Fälle bejaht, in denen eine andere Aufteilung aufgrund eines Vertrages
bei objektiver Betrachtung angezeigt ist, und nochmals betont (B 14 AS 161/11 R), dass vom Kopfteilprinzip abzuweichen ist, wenn der Nutzung einer Wohnung andere bindende vertragliche Regelungen zugrunde
liegen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft die Aufteilung der Aufwendungen für die
Unterkunft und Heizung grundsätzlich nach Kopfteilen zu erfolgen hat und es ohne Belang ist, wer den Mietzins schuldet und
wer welchen Teil der Wohnung tatsächlich nutzt. Ihre Rechtfertigung findet die grundsätzliche Anwendung des Kopfteilprinzips
in diesen Fällen in der Überlegung, dass die gemeinsame Nutzung einer Wohnung durch mehrere Personen gerade innerhalb einer
"aus einem Topf wirtschaftenden" Bedarfsgemeinschaft eine an der unterschiedlichen Intensität der Nutzung ausgerichtete Aufteilung
der Aufwendungen für die Erfüllung des Grundbedürfnisses Wohnen nicht zulässt. Gleiches gilt im Grundsatz auch bei Haushaltsgemeinschaften
unter Verwandten. Ausnahmen hiervon sind - auch innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft - bei einem über das normale Maß hinausgehenden
Bedarf einer der in der Wohnung lebenden Person wegen Behinderung oder Pflegebedürftigkeit denkbar oder wenn der Unterkunftskostenanteil
eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft wegen einer bestandskräftigen Sanktion weggefallen ist und die Anwendung des Kopfteilprinzips
zu Mietschulden für die anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft führen würde. Demgegenüber ist in Konstellationen, in denen
mehrere Personen eine Wohnung nutzen, ohne eine Bedarfsgemeinschaft zu bilden, z. B. bei Wohngemeinschaften, für die Aufteilung
der Unterkunftskosten - abweichend vom Kopfteilprinzip - derjenige Anteil entscheidend, der nach den internen Vereinbarungen
auf den jeweiligen Mitbewohner entfällt. Maßgebend ist insoweit, ob eine wirksame vertragliche Vereinbarung besteht. Wenn
eine solche Vereinbarung wirksam geschlossen worden ist, geht diese der auf den aufgezeigten praktischen Erwägungen beruhenden
Aufteilung nach Kopfteilen vor. Bei Wohngemeinschaften dürfte im Übrigen die Nutzungsintensität die Grundlage der vertraglichen
internen Abreden sein, in welchem Umfang die Mitglieder der Gemeinschaft zu den Gesamtkosten der Unterkunft und Heizung beizutragen
(vgl. BSG, Urteil vom 22. August 2013 - B 14 AS 85/12 R -).
Hier ist entsprechend den obigen Ausführungen davon auszugehen, dass der Sohn der Kläger die Wohnung schon nicht genutzt hat,
weil er dem Haushalt der Kläger nicht angehörte. Soweit die Angemessenheit der Aufwendungen unter dem Gesichtspunkt der Wohnungsgröße
problematisch sein könnte, war dem wegen fehlender Kostensenkungsaufforderung oder Unzumutbarkeit des Umzugs wegen bloß vorübergehender
Änderungen in der Haushaltszusammensetzung nicht weiter nachzugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.