Tatbestand:
I
Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsrecht.
Die 1947 geborene Klägerin stellte am 16. September 2013 einen Antrag auf Versorgung für Geschädigte nach dem
Opferentschädigungsgesetz (
OEG). Mit ihrem Antrag machte sie geltend, vom 9. bis zum 11. Lebensjahr von ihrem Stiefvater missbraucht worden zu sein. Ihr
Stiefvater sei deswegen zu mindestens zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Unterlagen hierzu seien nicht mehr vorhanden,
Zeugen der Tat ebenso wenig, da ihre Großmutter, ihre Mutter und ihre Klavierlehrerin verstorben seien. Sie habe mit 20 Jahren
versucht, sich das Leben zu nehmen und sei in die Psychiatrie nach eingeliefert worden.
Ermittlungen der Beklagten u.a. beim Universitätskrankenhaus und dem Staatsarchiv blieben erfolglos. Sämtliche Krankenakten
sind bereits vernichtet worden. Mit Bescheid vom 3. April 2014 lehnte die Beklagte den Antrag auf Versorgung nach dem
OEG ab. Zur Begründung führte sie aus, die von der Klägerin genannten Taten seien nicht nachgewiesen. Eine staatsanwaltliche
Ermittlungsakte habe fast 55 Jahre nach der vermeintlichen Verurteilung nicht mehr beigezogen werden können und Zeugen seien
für die Tat nicht mehr vorhanden, da diese bereits verstorben seien. Es lägen daher ausschließlich die Angaben der Klägerin
vor, die sehr dürftig und wenig aussagekräftig seien. Die Beweiserleichterung nach § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) könne der Klägerin nicht zugutekommen, da die Klägerin für den Umstand, dass ein Nachweis zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr
gelinge, nicht schuldlos sei. Denn sie habe den Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsrecht erst rund 55 Jahre
nach den vermeintlichen Vorfällen aus den Jahren 1956-1958 gestellt, die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft seien aufgrund
des langen Zeitablaufs bereits vernichtet worden und mögliche Zeugen seien verstorben. Auch die Härtefallvoraussetzungen des
§
10a OEG seien nicht erfüllt, da die Klägerin nicht allein infolge der Schädigung mit einem GdB von 50 schwerbeschädigt sei. Denn
vom Versorgungsamt Hamburg sei für die Klägerin nach dem Schwerbehindertenrecht nur ein Grad der Behinderung (GdB) von 20
für psychische Leiden anerkannt.
Mit Bescheid vom 17. Januar 2014 wurde bei der Beklagten durch das Versorgungsamt ein GdB von 40 festgestellt. Hierbei berücksichtigte
die Beklagte eine Herzleistungsminderung mit einem Teil GdB von 30 und die psychische Störung mit einem Teil GdB von 20.
Mit ihrem Widerspruch vom 23. April 2014 machte die Klägerin geltend, als Zeugin nunmehr ihre jüngere Schwester, die ebenfalls
von demselben Täter, deren Vater, nach dessen Zuchthausaufenthalt missbraucht worden sei, benennen zu können. Die Halbschwester
der Klägerin erklärte mit Schreiben ohne Datum, eingegangen bei der Beklagten am 4. Dezember 2014, den Missbrauch der Klägerin
zwar nicht direkt mitbekommen zu haben. Sie habe aber bemerkt, dass ihr Vater die Klägerin gegriffen, ins Zimmer gebracht
und "etwas mit ihr gemacht habe". Sie selbst sei von ihrem Vater ab dem 11. bis zum 18. Lebensjahr regelmäßig mindesten 2-3
Mal pro Woche vergewaltigt worden. Die Beklagte ermittelte weiter, holte insbesondere Befundberichte der die Klägerin behandelnden
Ärzte ein und beauftragte die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie A. mit der Erstellung eines Gutachtens. Die Gutachterin
untersuchte die Klägerin am 21. August 2015. In ihrem Gutachten vom 27. August 2015 stellte sie u.a. fest, dass im Rahmen
dieser Begutachtung keine kausal auf die angezeigte schädigende Tat zurückzuführenden klar abgrenzbaren Schädigungsfolgen
festgestellt werden könnten. Die Beschwerden und die Schwierigkeiten der Klägerin seien als Ausdruck einer vor allem strukturellen
Störung mit jetzt im Alter aufgrund der starken körperbezogenen Angst erklärbar und könnten jetzt nicht mehr kompensiert werden.
Sie teile insoweit die Einschätzung der die Klägerin behandelnden Ärzte. Zur Entwicklung der kombinierten Persönlichkeitsstörung
mit vor allem abhängigen Anteilen hätten zum einen der sexuelle Missbrauch, jedoch auch die anderen Umgebungsfaktoren beigetragen.
Eine Gewichtung der Anteile der einzelnen Umweltfaktoren an dem aktuell feststellbaren Störungsbild lasse sich aus heutiger
Sicht nicht mehr treffen. Wegen des weiteren Inhalts des psychiatrischen Gutachtens wird auf Seiten 172 - 184 der Verwaltungsakte
der Beklagten verwiesen.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 17. November 2015 als unbegründet zurück. Aus der aktuellen
Begutachtung werde zum einen eine durch relevante, behindernde, körperliche Erkrankungen bedingte körperliche Minderbelastbarkeit
deutlich. Die Klägerin leide seit 2012 unter einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit beidseits, einem Zustand nach
einem unauffälligen Herzinfarkt im Juli 2012 und einer bleibenden Herzschwäche mit weiterhin bestehender Minderversorgung
des Herzens mit Blut. Hinzu komme noch eine Herzrhythmusstörung, ein infiltrierender Hautkrebs im Bereich der Hüfte, wobei
der weitere Verlauf der Karzinomerkrankung noch offen sei. Auf dem Boden dieser seit Jahren bestehenden relevanten somatischen
Erkrankungen sei die aktuelle psychische Befindlichkeit mit zu erklären. In der Begutachtung sei vor allem eine tiefe Sehnsucht
nach Versorgung und Beschütztwerden deutlich geworden. Es könne davon ausgegangen werden, dass bereits vor der angezeigten
schädigenden Tat prägende Sozialisationserfahrungen zu einer tiefen inneren Sehnsucht und Einsamkeit mit einer gestörten Autonomie-
und Autarkieentwicklung geführt hätten, die letztlich zu einer abhängigen Beziehungsgestaltung geführt hätten. Der sexuelle
Missbrauch durch den Stiefvater stelle ohne Frage eine schwere Traumatisierung dar, jedoch könne kein Erstschaden nachgewiesen
werden. Weiterhin sei keine kausal auf die angezeigte schädigende Tat zurückzuführende Problematik seit Antragstellung feststellbar.
Die Einsamkeitssymptomatik und die tiefe Sehnsucht nach Anerkennung und Bestätigung hätten sich durch das gesamte Leben der
Klägerin gezogen. Sie entsprächen eher einer frühen Genese. Des Weiteren zeige sich in der Lebensgestaltung der Klägerin eine
emotionale Instabilität. Die Klägerin habe eine Nähe-Distanz-Problematik. Das starke Schwanken im Rahmen dieser Problematik
erinnere an eine emotional instabile Dynamik. Auch diese Anteile einer sehr wahrscheinlich vorliegenden Persönlichkeitsstörung
seien kausal nicht eindeutig auf die angezeigte schädigende Tat zurückzuführen, sondern in der Komplexität der bereits in
der frühesten Kindheit begonnenen, schädigenden Umweltfaktoren und der weiter erfolgten multifakturierenden Einflussfaktoren
zu erklären. Hinzu komme aktuell eine schwere körperliche Erkrankung, die das Erleben von Bedürftigkeit, Hilflosigkeit, den
infantilen Versorgungswunsch, Nähewünsche und die konflikthafte Verstrickung in Autonomie versus Abhängigkeit, Autarkie versus
Versorgung noch verstärke. Die Schwierigkeiten seien als Ausdruck einer vor allem strukturellen Störung mit jetzt im Alter
aufgrund der starken körperbezogenen Angst erklärbar und könnten jetzt nicht mehr kompensiert werden. Zur Entwicklung dieser
Persönlichkeitsstörung, die die Gutachterin als kombinierte Persönlichkeitsstörung mit vor allem abhängigen Anteilen bezeichnet
habe, hätten zum einen der sexuelle Missbrauch, jedoch auch die anderen Umgebungsfaktoren beigetragen. Eine Gewichtung der
Anteile sei aus heutiger Sicht nicht mehr zu treffen. Die heutzutage bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen seien
wesentlich durch eine emotionale Unterversorgung in der Kindheit bedingt. Unabhängig von dem fehlenden Nachweis eines Erstschadens
nach dem
OEG sei mit dem vom Versorgungsamt durch Feststellungsbescheid vom 17. Januar 2014 festgestellten GdB von 20 die Voraussetzung
nicht erfüllt, wonach allein wegen der Schädigung eine Schwerbehinderung von 50 vorliegen müsse.
Mit ihrer am 10. Dezember 2015 vor dem Sozialgericht Hamburg erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt
und ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren wiederholt und vertieft. Dass die komplexen Beschwerden, unter denen si aufgrund
der schweren Traumatisierung leide, von der Beklagten als Argument benutzt würden, um den Antrag abzulehnen, dürfe nicht akzeptiert
werden.
Die Klägerin hat einen Neufeststellungsbescheid nach dem Schwerbehindertenrecht vom 12. Juni 2018 vorgelegt, wonach der GdB
70 betrage und das Merkzeichen G für erhebliche Gehbehinderung festgestellt werde. Nach dem Inhalt des Bescheides hat das
Versorgungsamt bei der Feststellung des Gesamt-GdB von 70 die Gewebeneubildung der Haut in Heilungsbewährung mit einem Teil-GdB
von 50, den Kniegelenksersatz rechts mit operierter arterieller Verschlusskrankheit beider Beine mit einem Teil-GdB von 50,
die Herzleistungsminderung mit einem Teil-GdB von 30 und die psychische Störung mit einem Teil-GdB von 20 berücksichtigt.
Die Beklagte hat auf den Akteninhalt und die angefochtenen Bescheide verwiesen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG) dürfe nicht von der Krankheit auf die Ursache geschlossen werden. Im vorliegenden Fall hätten keine Nachweise gefunden werden
können, dass es innerhalb einer gewissen Latenzzeit zu einem Erstschaden gekommen sei. Eine schädigungsbedingte Schwerbeschädigteneigenschaft,
welche einen GdS von 50 erfordere, sei auch durch den vorgelegten Neufeststellungsbescheid vom 12. Juni 2018 nicht festzustellen.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt.
Im Einverständnis der Beteiligten hat das Sozialgericht ohne mündliche Verhandlung entschieden und die Klage am 27. Februar
2019 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Versorgungsleistungen gemäß §
10a OEG in Verbindung mit §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG. Es dürfte bereits an einem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff durch den Stiefvater fehlen. Die Kammer schließe
sich insofern den Ausführungen der Beklagten im Ausgangsbescheid vom 3. April 2014 an. Allein die Angaben der Klägerin seien
nicht ausreichend. Auch die Angaben der Klägerin im Widerspruchsbescheid seien nicht geeignet, die Tat in dem erforderlichen
Grad der Wahrscheinlichkeit zur vollen richterlichen Überzeugung nachzuweisen. Die Schwester habe lediglich erklärt, die eigentliche
Tat nicht mitbekommen zu haben, sondern nur bemerkt zu haben, dass ihr Vater etwas mit ihrer Schwester im Zimmer gemacht habe.
Selbst wenn man aber vom Nachweis eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs zugunsten der Klägerin ausginge, hätte
die Klage keine Aussicht auf Erfolg. Nach §
10a Abs.
1 Satz 1 Ziff. 1
OEG sei es erforderlich, dass allein auf der Gewalttat beruhende Schädigungsfolgen mit einem GdS von wenigstens 50 zu bewerten
seien. Diese Voraussetzung würde jedoch bereits deshalb nicht vorliegen, weil die Klägerin nicht allein infolge der nachgewiesenen
Schädigung schwerbehindert im Sinne des §
10a Abs.
1 Satz 1 Ziff. 1
OEG sei. Zwar sei ein GdB von 70 festgestellt, jedoch könne nur der Teil-GdB von 20 für die psychische Störung in Zusammenhang
mit der Tat gebracht werden, so dass der erforderliche GdB von 50 — isoliert als Schädigungsfolge — nicht angenommen werden
könne.
Die Klägerin hat, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, am 4. April 2019 gegen das am 4. März 2019 zugestellte Urteil
des Sozialgerichts Berufung eingelegt und diese trotz diverser Aufforderungen nicht begründet. Mit Schreiben vom 12. November
2019 hat das Berufungsgericht dargelegt, dass die Entscheidung des Sozialgerichts nach dem gegenwärtigen Sachstand für zutreffend
erachtet werde und beabsichtigt sei, gemäß §
153 Abs.
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) durch Beschluss zu entscheiden.
Die Klägerin beantragt nach dem Inhalt der Akten,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. Februar 2019 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 3. April 2014 in
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. November 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Leistungen
nach dem
Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.
Die Beklagte beantragt nach Lage der Akten,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und den Inhalt der bei der Beklagten
über die Klägerin geführten Verwaltungsakte Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen
sind.
Entscheidungsgründe:
II
Der Senat entscheidet gemäß §
153 Abs.
4 SGG durch Beschluss, weil er einstimmig die Berufung für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für entbehrlich hält. Die
Beteiligten sind über diese Verfahrensweise mit Schreiben vom 12. November 2019 informiert worden. Der Senat sieht keine Veranlassung,
eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Die Berufung ist nicht näher begründet worden und es ist auch sonst kein Erörterungsbedarf
ersichtlich.
Die statthafte, insbesondere form- und fristgerechte Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat
die Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 3. April 2014 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 17. November 2015 ist rechtmäßig und nicht zu beanstanden. Es besteht kein Anspruch auf Leistungen
nach dem
OEG. Es besteht bereits deshalb kein Leistungsanspruch, weil eine auf die Schädigung zurückzuführende Schwerbehinderung nicht
vorliegt (1). Darüber hinaus fehlt es auch an den weiteren Voraussetzungen gemäß §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG, nämlich an der erforderlichen Kausalität zwischen Schaden und Schädigungsfolge (2).
(1) Nach der hier allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des §
10a Abs.
1 Satz 1
OEG erhalten Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange
sie
1. allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und 2. bedürftig sind und 3. im Geltungsbereich dieses Gesetzes
ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Vorliegend fehlt es bereits an der erforderlichen Schwerbeschädigung nach §
10a Abs.
1 Satz 1 Ziff. 1
OEG. Voraussetzung ist, dass der bzw. die Geschädigte allein in Folge der im bezeichneten Zeitraum erlittenen Schädigung schwerbeschädigt
ist. Eine Schwerbeschädigung liegt gemäß § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist. Eine Schwerbeschädigung, der andere Ursachen als eine Gewalttat gemäß
§
1 OEG zu Grunde liegen, erfüllt nicht die Voraussetzungen nach §
10a Abs.
1 Satz Ziff. 1
OEG (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, §
10a OEG Rn. 5).
Das Sozialgericht hat zutreffend dargelegt, dass die Voraussetzung eines allein auf der Gewalttat beruhenden GdS von 50 nicht
vorliegt. Trotz unterschiedlicher Beschreibungen besteht kein Unterschied zwischen dem GdS im Sinne von § 30 Abs. 1 BVG und §
2 Abs.
1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch (
SGB IX) und dem GdB (s. Dau in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 30 BVG Rn. 6). Bei der Klägerin wurde zwar mit Bescheid vom 12. Juni 2018 ein GdB von 70 und somit eine Schwerbehinderung festgestellt,
jedoch kann eine ursächliche Beziehung der Tat grundsätzlich nur für die psychische Störung, die lediglich mit einem GdB von
20 bewertet wurde, angenommen werden. Denn weder die Gewebeneubildung der Haut in Heilungsbewährung mit einem Teil-GdB von
50 noch der Kniegelenksersatz rechts mit operierter Verschlusserkrankung mit einem Teil-GdB von 50 sowie die Herzleistungsminderung
mit einem Teil-GdB von 30 können als Schädigungsfolgen durch die Tat (Vergewaltigung im Kindesalter) verursacht worden sein
und scheiden zur Begründung der Schwerbeschädigung von vorneherein aus. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Bewertung
eines Teil-GdB mit 20 für die psychische Störung fehlerhaft wäre. Die Klägerin leidet nach dem im Verwaltungsverfahren eingeholten
Gutachten an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit vor allen abhängigen Anteilen, ohne dass hieraus schwerwiegendere
bzw. gravierende Beeinträchtigungen resultieren würden.
(2) Ungeachtet der nicht gegebenen Schwerbeschädigung liegen auch die Voraussetzungen des §
1 Abs.
1 Satz
OEG, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden ist und dadurch eine gesundheitliche
Schädigung mit Anspruch auf eine Beschädigtenversorgung erlitten hat, nicht vor.
Nach Auffassung des Senats ist es zwar durchaus möglich, dass auch nach dem Beweismaßstab der vollen richterlichen Überzeugungsbildung
der Nachweis eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs möglich wäre. Denn die schriftlichen Angaben der Schwester der Klägerin
lassen den Rückschluss durchaus zu, dass die Klägerin ab dem 9. Lebensjahr durch ihren Stiefvater vergewaltigt worden ist.
Die Schwester hat angegeben, selbst missbraucht worden zu sein und bemerkt zu haben, dass ihr Vater im Zimmer mit der Klägerin
"etwas gemacht habe". Auch wenn sie die Tat nicht beobachten konnte, kann sich im Zusammenhang mit den Angaben der Klägerin
und den konkreten und unmittelbaren Vorbereitungshandlungen im Fall einer Beweisaufnahme eine Überzeugungsbildung ergeben.
Es erscheint im Rahmen der Beweiswürdigung zumindest möglich, dass die von der Klägerin beschriebenen Taten mit dem gebotenen
Wahrscheinlichkeitsmaßstab eines Vollbeweises unter Berücksichtigung der Aussage der Schwester der Klägerin, der Angaben der
Klägerin und der Begleitumstände festgestellt werden. Der abgesenkte Beweismaßstab des § 15 KOVVfG gelangt hingegen nicht zur Anwendung, da die Klägerin den Antrag durch eigenes Verschulden erst so spät gestellt hat, dass
alle relevanten Unterlagen vernichtet worden sind. In einem solchen Fall kann die Regelung nicht zur Anwendung gelangen. Die
Verstärkung der Beweisnot geht jedenfalls dann zulasten des Antragstellers, wenn kein Grund bestand, den Antrag nicht in einer
Zeit zu stellen, als noch bessere Beweismöglichkeiten bestanden haben (Bayerisches LSG v. 03.07.2018 - L 15 VG 26/16 in juris, Rn. 107 unter Verweis auf BSG v. 13. 12. 1994 - 9/9a RV 9/92 und LSG Rheinland-Pfalz v. 29.06.2016 - L 4 VG 2/16, jeweils in juris). Auch im vorliegenden Fall ist eine mögliche Beweisnot der Klägerin nicht durch die Gewalttat bedingt,
sondern beruht auf dem Zeitablauf und dem damit verbundenen Wegfall der Beweismittel, insbesondere der Akte über das durchgeführte
Strafverfahren.
Eine Beweisaufnahme wäre — ungeachtet der nicht vorliegenden Voraussetzungen des §
10a Abs.1 Satz1 Ziff 1.
OEG — jedoch nicht erforderlich. Denn selbst wenn man entsprechend dem Vorbringen der Klägerin von einem vorsätzlichen rechtswidrigen
Angriff des Stiefvaters ausgeht, fehlt es an der erforderlichen Kausalität. Ein kausaler Schaden bzw. Schadensanteil kann
nicht mehr mit dem gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab festgestellt werden, weil eine Zuordnung bzw. Abgrenzung zu anderen
Schadensursachen bzw. Vorschäden und Nachschäden nicht mehr möglich ist.
Das ergibt sich aus dem von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten. Die Fachärztin für Psychiatrie und
Psychotherapie A. gelangte in ihrem Gutachten nach Untersuchung der Klägerin zu dem Ergebnis, dass keine kausal auf die angezeigte
schädigende Tat zurückzuführende klar abgrenzbaren Schädigungsfolgen festgestellt werden können.
Der Tatbestand des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG besteht aus drei Merkmalen (vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff - sog. schädigender Vorgang -, Schädigung und
Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang (Kausalität) miteinander verbunden sind. Grundsätzlich bedürfen die
drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität
selbst genügt die Wahrscheinlichkeit gemäß §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG i.V.m. § 1 Abs. 3 BVG (BSG v. 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R in juris, Rn. 25). Bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs muss deshalb absolut mehr für als gegen die
glaubhaft zu machenden Tatsachen sprechen. Nicht ausreichend ist eine bloße Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs.
Haben mehrere Ursachen zu einem Schaden beigetragen, ist eine Ursache dann rechtlich wesentlich, wenn sie in ihrer Bedeutung
und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs im Vergleich mit den übrigen Umständen annähernd gleichwertig ist (BSG v. 16.12.2014 - B 9 V 6/13 R in juris, Rn. 18).
Abzugrenzen sind Schädigungsfolgen von einem Vor- und Nachschaden, die nicht berücksichtigt werden können. Bei einem Vorschaden
handelt es sich um eine schädigungsabhängige Gesundheitsstörung, die bei Eintritt des schädigenden Ereignisses bereits bestanden
hat. Ein Nachschaden ist hingegen ein Schaden, der nach Abschluss der versicherungsrechtlich erheblichen Ursachenkette aufgetreten
und den anerkannten Schädigungsfolgen nicht mehr zuzurechnen ist.
Vorliegend kann insbesondere im Hinblick andere mögliche Ursachen und einem möglicherweise vorhandenen Vorschaden keine mit
der gebotenen Wahrscheinlichkeit kausale Abgrenzung vorgenommen werden. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass zumindest
ein Teil der möglichen Schädigungsfolgen durch Nachschäden bedingt sein können. Aus diesem Grund wäre auch eine entsprechende
Feststellung nicht möglich.
Die Gutachterin A. diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 27. Juni 2015 eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit vor allem
abhängigen Anteilen. Eine posttraumatische Belastungsstörung wurde von der Gutachterin hingegen nicht festgestellt. Sie führte
weiter aus, dass die emotional instabile Dynamik mit einer Nähe-Distanz-Problematik bereits durch in der frühesten Kindheit
begonnene schädigende Umweltfaktoren mitverursacht worden sei. Die Anteile einer sehr wahrscheinlichen Persönlichkeitsstörung
seien kausal nicht eindeutig auf die schädigende Tat zurückzuführen. So habe die Klägerin zum überwiegenden Anteil in der
Anamneseerhebung von den Jahren vor der schädigenden Tat berichtet, nämlich alleingelassen worden und beschämt zu sein und
als uneheliches Kind, das von Beginn an gemerkt habe, dass irgendetwas mit ihm nicht stimme, erniedrigt worden zu sein. Darüber
hinaus habe sie von den Schikanen bereits im Kindergarten und in der Grundschulzeit, Ängsten auf dem Schulweg, von Schulkameraden
geschlagen zu werden und Ängsten alleingelassen zu werden, weil die Ziehmutter und die leibliche Mutter letztendlich keine
Zeit gehabt hätten, das Kind zu versorgen, erzählt. Die Gutachterin führte weiter aus, dass davon ausgegangen werden könne,
dass bereits vor der Tat prägende Sozialisierungserfahrungen zu einer tiefen inneren Sehnsucht und Einsamkeit mit einer gestörten
Autonomie- und Autarkieentwicklung geführt habe, die letztendlich zu einer abhängigen Beziehungsgestaltung geführt habe. Die
Gutachterin gelangte für den Senat nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass aufgrund des langen Zeitfensters seit Beendigung
der angezeigten schädigenden Tat im 12. Lebensjahr unter Berücksichtigung der komplexen Problematik einer nicht haltenden,
nicht beschützenden, früh vernachlässigenden Sozialisierung, frühen Gewalterfahrungen in der Schule und im Kindergarten und
fehlenden tröstenden Objekten bis zum 9. Lebensjahr eine Abgrenzung nicht klar getroffen werden könne.
Damit kann nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Anteil an dem Schaden zugeordnet werden - wenn man davon ausgeht,
dass es sich überhaupt um kausale Schädigungsfolgen handelt. Es besteht keine höhere Wahrscheinlichkeit dafür, dass die schädigende
Handlung einen bestimmten Schaden oder zumindest einen feststellbaren Anteil am möglicherweise auf anderen Ursachen beruhenden
Schaden verursacht hat. Im Fall der Mitursächlichkeit kann nach dem Gutachten auch kein mit den übrigen Faktoren zumindest
gleichwertiger Erfolgsbeitrag festgestellt werden, weil eine Abgrenzung nicht mehr möglich ist. Hiergegen sprechen auch die
Schilderungen der Klägerin in der Begutachtungssituation, die überwiegend Ausführungen zu den hier nicht als rechtswidrige
tätliche Angriffe zu wertenden Vernachlässigungen in der Kindheit gemacht hat. Dasselbe gilt im Hinblick auf später möglicherweise
hinzugekommene Faktoren wie aktuell eine schwere körperliche Erkrankung, die nach Einschätzung der Gutachterin wiederum Einfluss
auf die psychische Situation der Klägerin genommen hat. Ob hier ein nicht zu berücksichtigender Nachschaden vorliegt oder
lediglich von Verstärkungen einer durch die schädigenden Handlungen verursachten Erkrankung auszugehen ist, konnte die Gutachterin
aufgrund der fehlenden medizinischen Befunde ebenfalls nicht mehr feststellen. Da weder eine posttraumatische Belastungsstörung
noch zeitnah aufgetretene Symptome, die typisch für eine derartige Erkrankung sind, festgestellt werden konnten, kann auch
keine "Beweislastumkehr" angenommen werden (vgl. Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage
2012, §
1 OEG Rn. 94).
Das Gutachten ist plausibel, es basiert auf einer ausführlichen Untersuchung und Befragung der Klägerin. Die Überlegungen
und Schlussfolgerungen der Gutachterin sind gut nachvollziehbar. Sofern die Klägerin zum überwiegenden Teil von ihren negativen
Kindheitserfahrungen vor Beginn der Vergewaltigung durch den Stiefvater berichtet hat, ist es naheliegend, von einem bereits
manifestierten Vorschaden auszugehen. Im Hinblick auf den sehr langen Zeitablauf und die deshalb fehlenden Unterlagen über
die Tat und ihre konkreten gesundheitlichen Auswirkungen ist die Schlussfolgerung der Gutachterin, dass der Schaden nicht
mehr bestimmt und zugeordnet werden könne, gerechtfertigt. Es gibt daher keine Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen gemäß §
160 SGG nicht vorliegen.