Zulässigkeit der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ach Versäumung der Berufungsfrist
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten im Zugunstenverfahren über die Höhe der dem Kläger gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).
Der im Jahre 1969 geborene Kläger ist blind. Seit 1.11.1987 bezog er eine Invalidenrente aus der Sozialversicherung der DDR.
Diese Rente wurde zum 1.1.1992 umgewertet und wird seither als Rente wegen EU gezahlt (anfänglicher monatlicher Zahlbetrag
962,29 DM nebst Auffüllbetrag von 197,77 DM; Bescheid Landesversicherungsanstalt Berlin vom 2.12.1991).
Der im Juli 2002 gestellte Überprüfungsantrag des Klägers, mit dem er die Weiterzahlung seiner Invalidenrente unter Dynamisierung
des Rentenbetrags ab Januar 1992 begehrte, blieb erfolglos (Bescheid vom 15.11.2006; Widerspruchsbescheid vom 19.3.2007).
Das SG Berlin hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 21.11.2007 abgewiesen, weil die Beklagte die Rente zutreffend berechnet
habe. Auch unter Berücksichtigung des Einigungsvertrages und des
GG stehe dem Kläger kein weitergehender Vertrauensschutz zu.
Der Gerichtsbescheid vom 21.11.2007 wurde erstmals mit Postzustellungsurkunde am 28.11.2007 und ein zweites Mal mit Postzustellungsurkunde
am 1.12.2007 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 2.1.2008, der am selben Tag beim SG Berlin eingegangen ist, hat der Kläger Berufung
eingelegt und ausgeführt, dass er im Zeitraum vom 11.11.2007 bis zum 19.12.2007 im Ausland gewesen sei. Den Gerichtsbescheid
habe er am 20.12.2007 in seinem Briefkasten vorgefunden. Wie die Zustellung des Gerichtsbescheids erfolgt sei, sei für ihn
nicht nachvollziehbar gewesen. Das LSG hat nach umfangreichen Sachverhaltsermittlungen (zum Grund der doppelten Zustellung
beim SG Berlin, zum tatsächlichen Zeitpunkt des Zugangs des Gerichtsbescheids) die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen
(Urteil LSG Berlin-Brandenburg vom 20.3.2012).
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe die Monatsfrist nach Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung
(§
151 Abs
1 SGG) versäumt. Die Zustellung sei rechtswirksam am 28.11.2007 erfolgt. Die Berufungsfrist habe am 28.12.2007 (§
64 Abs
2 SGG) geendet; folglich sei die Berufung am 2.1.2008 verspätet eingelegt worden und daher unzulässig (§
158 S 1
SGG). Der Gerichtsbescheid sei ausweislich der Zustellungsurkunde durch Einlegen in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten
oder in eine ähnliche Vorrichtung zugestellt worden (§
63 Abs
2 S 1
SGG iVm §
180 ZPO). Der Urkundsbeweis (§
202 SGG iVm §§
418,
182 Abs
1 S 2
ZPO; Hinweis auf Senatsbeschluss vom 13.11.2008 - B 13 R 138/07 B) sei nicht widerlegt. Denn eine Falschbeurkundung sei nicht nachgewiesen. Hieran änderten auch die widersprüchlichen Ausführungen
der Familienangehörigen über den Zugang des Gerichtsbescheids während des Urlaubs des Klägers nichts.
Der vom Kläger gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Berufungsfrist sei abzulehnen. Denn selbst unter
Berücksichtigung seiner urlaubsbedingten Abwesenheit bis zum 19.12.2007 hätte noch ausreichend Zeit bestanden, um die Berufung
fristgerecht bis zum 28.12.2007 einzulegen. Der Kläger habe selbst zu vertreten, dass er die Berufungsschrift erst am 2.1.2008
beim SG Berlin eingereicht habe. Er habe die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen (§
276 Abs
2 BGB), weil er die Berufung unverzüglich nach Kenntnisnahme von der Entscheidung hätte einlegen müssen.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger Verfahrensmängel geltend. Er rügt "die Verletzung der Amtsermittlungspflicht
und Verfahrensführung" und weist darauf hin, dass er blind und auf die Hilfe anderer Personen beim Lesen von Post bzw Schreiben
angewiesen sei.
II
Auf die Beschwerde des Klägers war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an das LSG zurückzuverweisen. Der Kläger hat formgerecht (vgl §
160a Abs
2 S 3
SGG) und auch in der Sache zutreffend gerügt (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG), dass das LSG die Berufung des Klägers nicht als unzulässig hätte verwerfen dürfen. Vielmehr war es gehalten, dem Antrag
auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist stattzugeben und in der Sache über den geltend gemachten Anspruch auf
eine höhere Rente wegen EU im Zugunstenverfahren zu entscheiden. Dadurch hat das LSG die Vorschriften von §§
67,
151 SGG verletzt.
Nach §
151 SGG ist die Berufung bei dem LSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten
der Geschäftsstelle einzulegen (Abs 1). Die Frist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem SG schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird (Abs 2 S 1).
1. Zutreffend hat das Berufungsgericht festgestellt, dass der Kläger die einmonatige Berufungsfrist (§
151 Abs
1 und
2 SGG) versäumt hat, als er erst am 2.1.2008 Berufung eingelegt hat. Denn die Zustellung des Gerichtsbescheids, dem eine zutreffende
Rechtsmittelbelehrung (§
66 Abs
1 SGG) beigefügt war, ist bereits am 28.11.2007 wirksam durch Einlegen in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten oder
in eine ähnliche Vorrichtung erfolgt. Zum Nachweis der Zustellung ist eine Urkunde ordnungsgemäß angefertigt worden (§
63 Abs
2, §
105 Abs
1 S 3, §
133 SGG, §
178 Abs
1 Nr
1, §§
180,
182 ZPO).
2. Dem Kläger war jedoch entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ihn
trifft kein Verschulden (§
67 Abs
1 SGG) an der Versäumung der Berufungsfrist.
Das LSG sieht ein Verschulden des Klägers darin, dass er nach Urlaubsrückkehr und Kenntnisnahme vom Gerichtsbescheid am 20.12.2007
die verbleibende Zeit der laufenden Berufungsfrist (bis 28.12.2007) nicht genutzt hat, um die Berufung einzulegen.
Dieser Ansicht vermag der Senat nicht zu folgen. Denn die vom SG aus unerklärlichen Gründen veranlasste zweite Zustellung des Gerichtsbescheids an die Beteiligten mit der erneuten Rechtsmittelbelehrung,
dass die Berufung "innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheides" einzulegen ist, musste bei dem nicht anwaltlich
vertretenen Kläger den Eindruck erwecken, dass er der zweiten, neueren Belehrung folgen durfte (vgl BGH vom 26.10.1994 - IV ZB 12/94 - VersR 1995, 680 mwN bei irrtümlicher zweiter Urteilszustellung an einen Anwalt).
Dies mag allenfalls dann anders gesehen werden, wenn die erneute Zustellung erst nach Ablauf der Berufungsfrist erfolgt.
Die irrtümliche zweite Zustellung des Gerichtsbescheids hat der Kläger nicht verschuldet und hieraus kann ihm auch kein Nachteil
entstehen. Unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren darf ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden
Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (vgl BVerfGE 60, 1, 6 f; 69, 381, 386; 75, 183, 190; BVerfG vom 2.6.2010 - 1 BvR 448/06 - NZS 2011, 133). Zudem ist es zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl BVerfGE
78, 123, 126 f). Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn die Fristversäumnis auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich
des Gerichts liegen (vgl BVerfGE 93, 99, 114 f; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61 mwN). Dies ist hier der Fall.
Es bestand entgegen der Ansicht des LSG keine Rechtspflicht, die Berufung bis spätestens 28.12.2007 einzulegen. Auch insofern
hat der Kläger die im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt eines gewissenhaften Prozessführenden (vgl dazu BSGE 61,
213, 214 = SozR 1500 § 67 Nr 18 S 42; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 60 mwN) nicht außer Acht gelassen. Denn gesetzlich eingeräumte Fristen dürfen grundsätzlich bis zum letzten Tag ausgeschöpft
werden, ohne dass Nachteile bei der Gewährung effektiven Rechtsschutzes drohen (vgl BVerfGE 40, 42, 44; 41, 323, 328; 74, 220, 224; BVerfG vom 2.6.2010 - 1 BvR 448/06 - NZS 2011, 133). Der Kläger durfte aber darauf vertrauen, dass aufgrund der zweiten Zustellung des Gerichtsbescheids am 1.12.2007 die Berufungsfrist
am 2.1.2008 endete. Denn er ist erst im Berufungsverfahren über die Maßgeblichkeit der ersten Zustellung informiert worden.
Der Kläger hat die versäumte Rechtshandlung (Einlegung der Berufung am 2.1.2008) damit auch innerhalb eines Monats nach Wegfall
des Hindernisses nachgeholt (§
67 Abs
2 S 3
SGG).
3. Wenn sich der Erfolg der Beschwerde auch bereits aus den oben dargelegten Gründen ergibt, weist der Senat auf Folgendes
hin:
Das SG hätte den Kläger nach § 4 Abs 2 S 2 der seit 1.6.2007 geltenden Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte
Personen im gerichtlichen Verfahren (Zugänglichmachungsverordnung - ZMV vom 26.2.2007, BGBl I 215) auf seinen Anspruch hinweisen
müssen, die Zugänglichmachung des Gerichtsbescheids verlangen zu können. Gemäß §
202 SGG iVm §
191a Abs
1 S 1
GVG kann eine blinde oder sehbehinderte Person nach Maßgabe der ZMV verlangen, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen
Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im
Verfahren erforderlich ist. Der Anspruch umfasst ua Dokumente, die im gerichtlichen Verfahren einer blinden oder sehbehinderten
Person (berechtigte Person) zuzustellen sind (§ 2 Abs 1 S 1 iVm § 1 Abs 1 ZMV). Zwar bleiben die Vorschriften über die Zustellung
von Dokumenten unberührt (§ 2 Abs 2 ZMV). Die Folgen von Fristversäumnissen können aber nach Maßgabe der Bestimmungen über
die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behoben werden (vgl Begründung zum Entwurf der ZMV, BR-Drucks 915/06 - zu § 7, S
12). Unterbleibt ein nach dieser Rechtslage gebotener Hinweis, so tritt ein in der eigenen Sphäre des Berechtigten liegendes
zusätzliches Verschulden bei Prüfung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinter das gerichtliche Verschulden zurück
(vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 23 RdNr 6).
4. Nach alledem hätte das LSG die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen; vielmehr musste es dem Wiedereinsetzungsantrag
entsprechen. Auf diesem Verfahrensmangel beruht auch die Entscheidung des LSG. Der Senat kann die materielle Rechtsprüfung
des Anspruchs auf höhere Rente wegen EU im Zugunstenverfahren nicht in diesem Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ersetzen,
weil es an hinreichenden berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen fehlt (§
163 SGG). Das LSG hat zur Begründetheit der Berufung nicht - auch nicht ergänzend - Stellung genommen. Die berufungsgerichtlichen
Tatsachenfeststellungen erlauben dem Senat aber keine sichere Beurteilung der Erfolgsaussichten des Berufungsverfahrens. Daher
war es geboten, gemäß §
160a Abs
5 SGG das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
5. Das LSG wird auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.