Versäumung der Berufungsfrist im sozialgerichtlichen Verfahren nach einem fehlenden Hinweis auf die Möglichkeit der Berufungseinlegung
in elektronischer Form
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und dabei zunächst um die Frage, ob
die nach Ablauf eines Monats erhobene Berufung der Beklagten die Frist gewahrt hat, weil die Rechtsmittelbelehrung des SG-Urteils keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Einlegung in elektronischer Form enthielt.
Das SG hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1.6.2009 bis zum 31.5.2012 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren;
im Übrigen hat es die auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 11.11.2010). Die
Rechtsmittelbelehrung des der Beklagten am 24.11.2010 zugestellten SG-Urteils enthält den Hinweis, dass die Berufung innerhalb eines Monats beim Hessischen LSG, dessen Anschrift und Fax-Nummer
angegeben waren, "schriftlich oder zur Niederschrift der Urkundsbeamtin/des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle" einzulegen
sei. Diese Frist sei aber auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist beim SG Kassel schriftlich oder zur Niederschrift
der Urkundsbeamtin/des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt werde.
Die Beklagte hat mit einem am 28.3.2011 beim LSG eingegangenen Schreiben vom 18.2.2011 Berufung eingelegt und geltend gemacht,
beim Kläger lägen weder die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung noch eine quantitativ
ausreichende Minderung des Leistungsvermögens vor. Ihr Rechtsmittel sei auch zulässig; weil die Rechtsmittelbelehrung des
SG-Urteils keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Berufungseinlegung über das elektronische Postfach des LSG enthalte, sei sie
unvollständig, sodass ihr nach §
66 Abs
2 SGG eine Jahresfrist zur Verfügung stehe. Die Beklagte hat insoweit auf ein Schreiben des Vorsitzenden des 5. Senats des BSG vom 7.2.2011 zu einem anderen Verfahren (B 5 R 18/11 B) verwiesen; im Hinblick darauf hat sie beantragt, "die Berufung zuzulassen und die Klage in vollem Umfang abzuweisen".
Das LSG hat die erstinstanzliche Entscheidung abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 13.4.2012).
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Berufung sei fristgerecht eingelegt, weil die Rechtsmittelbelehrung
des SG-Urteils unvollständig und somit unrichtig gewesen und daher die Jahresfrist maßgeblich sei. Nach der Rechtsprechung des BSG gehöre zu den wesentlichen Einzelheiten einer vollständigen Rechtsmittelbelehrung auch die Belehrung über die für das Rechtsmittel
vorgeschriebene Form. Das umfasse auch die gemäß §
65a Abs
1 S 1
SGG iVm §
1 und Anl 1 Nr
77 der Verordnung des Hessischen Ministers der Justiz über den elektronischen Rechtsverkehr bei hessischen Gerichten und Staatsanwaltschaften
(vom 26.10.2007, GVBl 699 [ElRVerkV Hessen]) ab 17.12.2007 beim Hessischen LSG für alle Verfahren zugelassene Möglichkeit
der Übermittlung elektronischer Dokumente. Dies sei kein Unterfall der Schriftform und auch keine bloße "Auch-Möglichkeit",
sondern eröffne einen weiteren "Regelweg" für die Berufungseinlegung, den eine vollständige Rechtsmittelbelehrung aufzeigen
müsse. Es bestehe auch nicht die Gefahr, dass ein Hinweis auf die Möglichkeit der Berufungseinlegung in elektronischer Form
die Rechtsmittelbelehrung unübersichtlich mache oder überfrachte. In der Sache hat das LSG die Berufung der Beklagten für
begründet erachtet.
Der Kläger rügt mit seiner vom LSG zugelassenen Revision, das Berufungsgericht habe das Rechtsmittel der Beklagten zu Unrecht
als fristgerecht angesehen und deshalb verfahrensfehlerhaft in der Sache entschieden. Bei der vom Gesetz eröffneten Möglichkeit,
Schriftsätze auch auf elektronischem Weg an das Gericht zu übermitteln, handele es sich lediglich um eine besondere Übertragungsweise
und damit um die Regelung einer Unterform der Schriftform. Eine gesonderte Belehrung hierüber sei daher nicht erforderlich.
Er nimmt insoweit Bezug auf eine Entscheidung des 7. Senats des Hessischen LSG (vom 20.6.2011 - L 7 AL 87/10 - Juris), der die Notwendigkeit einer Belehrung auch über die elektronische Form mit zutreffenden Gründen verneint habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. April 2012 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil
des Sozialgerichts Kassel vom 11. November 2010 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§
124 Abs
2, §
153 Abs
1, §
165 S 1
SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Das LSG hat verfahrensfehlerhaft eine Entscheidung in der Sache selbst getroffen.
Es fehlt eine von Amts wegen zu beachtende Sachurteilsvoraussetzung, denn die Berufung der Beklagten ist verfristet und deshalb
unzulässig (vgl BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 14 f; BSG SozR 3-7610 § 823 Nr 5 S 8).
Das LSG hat die von der Beklagten vier Monate nach Zustellung des SG-Urteils eingelegte Berufung zu Unrecht als fristgemäß angesehen. Maßgeblich ist die Monatsfrist nach §
151 Abs
1 SGG, während die Jahresfrist des §
66 Abs
2 S 1
SGG hier nicht anwendbar ist. Eine Rechtsmittelbelehrung, die - wie jene des SG-Urteils - keinen Hinweis auf die an dem Rechtsmittelgericht (oder dem Ausgangsgericht) bereits eröffnete Möglichkeit der
elektronischen Kommunikation enthält, ist nach derzeitiger Sach- und Rechtslage nicht "unrichtig" iS dieser Vorschrift (dazu
unter 1.). Da der Beklagten auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann (dazu unter 2.), ist ihre
Berufung unter Aufhebung des LSG-Urteils als unzulässig zu verwerfen (§
170 Abs
2 S 1 iVm §
158 S 1
SGG).
1. Die Rechtsmittelbelehrung eines SG-Urteils ist nach derzeitiger Sach- und Rechtslage nicht "unrichtig" iS von §
66 Abs
2 S 1
SGG, wenn sie die Möglichkeit der Berufungseinlegung durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments nicht erwähnt, obwohl
für das betreffende LSG (oder das ebenfalls in der Rechtsmittelbelehrung benannte SG, vgl §
151 Abs
2 S 1
SGG) nach §
65a Abs
1 SGG iVm einer Verordnung der dort näher bezeichneten zuständigen Stelle die Übermittlung elektronischer Dokumente zugelassen
ist.
Letzteres ist hier der Fall: Nach den insoweit maßgeblichen Feststellungen des LSG (§§
162,
202 S 1
SGG iVm §
560 ZPO) hat das Land Hessen von der in §
65a Abs
1 S 1
SGG eröffneten Befugnis Gebrauch gemacht und gemäß §
1 iVm Anl 1 Nr 77 der Verordnung des Hessischen Ministers der Justiz über den elektronischen Rechtsverkehr bei hessischen Gerichten
und Staatsanwaltschaften (vom 26.10.2007, GVBl 699 [ElRVerkV Hessen]) ab 17.12.2007 die Einreichung elektronischer Dokumente
in allen beim Hessischen LSG geführten Verfahren zugelassen (dasselbe gilt gemäß Anl 1 Nr 81 ElRVerkV Hessen auch für das
SG Kassel).
a) Gemäß §
66 Abs
1 SGG (hier anzuwenden in der ab 1.4.2005 geltenden Fassung von Art 4 Nr 4 des Gesetzes über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz [JKomG] vom 22.3.2005, BGBl I 837)
beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf,
die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich
oder elektronisch belehrt worden ist. Ist die Belehrung unterblieben oder, was hier allein in Frage kommt, "unrichtig" erteilt,
so ist nach §
66 Abs
2 S 1
SGG - von hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen - die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung,
Eröffnung oder Verkündung der angegriffenen Entscheidung zulässig.
b) Unrichtig iS des §
66 Abs
2 S 1
SGG ist jede Rechtsbehelfsbelehrung, die nicht zumindest diejenigen Merkmale zutreffend wiedergibt, die §
66 Abs
1 SGG als Bestandteile der Belehrung ausdrücklich nennt: (1) den statthaften Rechtsbehelf als solchen (also seine Bezeichnung der
Art nach), (2) die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, (3) deren bzw dessen Sitz
und (4) die einzuhaltende Frist (BSGE 69, 9, 11 = SozR 3-1500 § 66 Nr 1 S 3).
Über den Wortlaut der Vorschrift hinaus ist nach ihrem Sinn und Zweck, den Beteiligten ohne Gesetzeslektüre die ersten Schritte
zur (fristgerechten) Wahrung ihrer Rechte zu ermöglichen (BSGE 79, 293, 294 = SozR 3-1500 § 66 Nr 6 S 24), aber auch (5) eine Belehrung über den wesentlichen Inhalt der bei Einlegung des Rechtsbehelfs
zu beachtenden Formvorschriften erforderlich (stRspr, vgl BSGE 1, 194, 195; BSGE 1, 254, 255; BSGE 7, 1, 2; BSGE 11, 213, 215; BSG vom 26.1.1993 - 1 RK 33/92 - Juris RdNr 6; BSG SozR 3-1500 § 66 Nr 8 S 35 f). Dem entspricht im Ergebnis weitgehend die neuere Rspr des BVerwG und des BFH, nach der eine Rechtsbehelfsbelehrung
auch dann unrichtig ist, wenn sie geeignet ist, bei dem Betroffenen einen Irrtum über die formellen oder materiellen Voraussetzungen
des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch abzuhalten, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig
oder in der richtigen Form einzulegen (BVerwG Urteil vom 21.3.2002 - 4 C 2/01 - Buchholz 310 §
58 VwGO Nr 83 = Juris RdNr 12; BFH Beschluss vom 12.12.2012 - I B 127/12 - BFH/NV 2013, 434 RdNr 15, jeweils mwN; anders möglicherweise noch der 3. Senat des BFH: Beschluss vom 12.10.2012 - III B 66/12 - BFH/NV 2013, 177 RdNr 22). Die Notwendigkeit einer Belehrung auch über die Form des Rechtsbehelfs hat der Gesetzgeber zudem in § 36 SGB X, § 6 Wehrdisziplinarordnung und § 50 Abs 2 OWiG sowie in § 9 Abs 5 S 3 ArbGG, § 39 S 1 FamFG, § 48 Abs 2 S 2 des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren in Landwirtschaftssachen, §
35a S 1
StPO und - künftig - in §
232 S 1
ZPO (in der ab 1.1.2014 geltenden Fassung des Gesetzes zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung
anderer Vorschriften vom 5.12.2012, BGBl I 2418) zum Ausdruck gebracht (vgl auch §
195 Abs 2 Nr
3 BEG für Bescheide der Entschädigungsbehörde sowie §
360 Abs
1 Nr
2 BGB für die Widerrufsbelehrung bei Verbraucherverträgen). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass für die Beteiligten
des sozialgerichtlichen Verfahrens ein geringeres Schutzniveau maßgeblich sein soll, als es in den soeben genannten Vorschriften
vorgegeben ist.
c) Die hiernach notwendige Belehrung auch über den wesentlichen Inhalt der bei Einlegung des Rechtsbehelfs zu beachtenden
Formvorschriften erfordert es derzeit jedoch nicht, dass auch auf die für das betreffende Gericht durch Rechtsverordnung bereits
zugelassene Möglichkeit der Übermittlung verfahrensbestimmender Schriftsätze in der Form eines elektronischen Dokuments hingewiesen
wird.
aa) Dies folgt allerdings nicht daraus, dass die "elektronische Form" (genauer: die elektronische Übermittlung von Erklärungen
an das Gericht in Gestalt eines elektronischen Dokuments) lediglich einen Unterfall bzw eine Sonderform der Schriftform darstellte,
wie dies zum Teil vertreten wird (vgl Ellenberger in Palandt,
BGB, 72. Aufl 2013, §
126a RdNr 1; Skrobotz, jurisPR-ITR 24/2009 Anm 5; Braun, jurisPR-ITR 15/2011 Anm 5; zur Rechtslage vor Erlass des JKomG ausführlich
Skrobotz, Das elektronische Verwaltungsverfahren, Diss Regensburg 2004, S 148 ff, 180 f, 198, 210 ff). Es handelt sich vielmehr
bei der elektronischen Form iS des §
65a SGG um eine eigenständige Form, die der Gesetzgeber "als zusätzliche Option neben der bisherigen schriftlichen Form" eingeführt
hat (Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein JKomG, BT-Drucks 15/4067 S 27 f - unter VI.). Dies sollte den Verfahrensbeteiligten
die Möglichkeit eröffnen, "elektronische Kommunikationsformen gleichberechtigt neben der - herkömmlich papiergebundenen -
Schriftform oder der mündlichen Form" rechtswirksam zu verwenden (aaO S 24 - unter II.). Die hierdurch geschaffene Trias gleichrangiger
prozessualer Formen - schriftlich, in elektronischer Form oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle -
kommt auch im Wortlaut des §
158 S 1
SGG zum Ausdruck. Das schließt es aus, die (prozessuale) elektronische Form lediglich als Unterfall der Schriftform anzusehen
und deshalb eine Belehrung über die Schriftform so zu behandeln, als umfasse sie zugleich eine Belehrung hinsichtlich der
Übermittlung in elektronischer Form (als elektronisches Dokument) erstellter Erklärungen.
bb) Dennoch ist es - jedenfalls nach derzeitiger Sach- und Rechtslage - nach §
66 Abs
1 SGG nicht geboten, in Rechtsbehelfsbelehrungen hinsichtlich der Form der Einlegung des Rechtsbehelfs dann, wenn für das betreffende
Gericht die elektronische Form durch Rechtsverordnung zugelassen ist, stets auch auf die Möglichkeit der Verwendung dieser
Form und ihre Voraussetzungen hinzuweisen. Entgegen der Rechtsmeinung des LSG führt allein die Einordnung der elektronischen
Form als gleichrangige prozessuale Form nicht automatisch dazu, dass diese schon deshalb und schon jetzt als "Regelweg" iS
von §
66 Abs
1 SGG anzusehen ist. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
(1) Auch nach der Änderung bzw Ergänzung der sozialgerichtlichen Verfahrensordnung durch das JKomG findet in den spezifischen
Vorschriften des
SGG, die nähere Vorgaben zur Art und Weise der Einlegung von Rechtsbehelfen oder Rechtsmitteln machen, die elektronische Form
keine Erwähnung. Das gilt für die Klageerhebung (§
90 SGG: "schriftlich oder zur Niederschrift") ebenso wie für die Einlegung der Berufung (§
151 Abs
1 und
2 SGG: "schriftlich oder zur Niederschrift"), der Berufungs-Nichtzulassungsbeschwerde (§
145 Abs
1 S 2
SGG: "schriftlich oder zur Niederschrift"), der Revision (§
164 Abs
1 S 1
SGG: "schriftlich"), der Revisions-Nichtzulassungsbeschwerde (§
160a Abs
1 S 3
SGG: "Beschwerdeschrift"), der sonstigen Beschwerden (§
173 S 1 und 2
SGG: "schriftlich oder zur Niederschrift"), der Erinnerung gegen Entscheidungen des ersuchten oder beauftragten Richters oder
des Urkundsbeamten (§
178 S 2 iVm §
173 SGG: "schriftlich oder zur Niederschrift") sowie der Anhörungsrüge (§
178a Abs
2 S 4
SGG: "schriftlich oder zur Niederschrift"), in gleicher Weise aber auch für Anträge auf Tatbestandsberichtigung (§
138 SGG), Urteilsergänzung (§
140 SGG) oder auf Erlass von Anordnungen im einstweiligen Rechtsschutz (§
86b SGG). Lediglich am Rande ist in §
160a Abs
1 S 3 bzw in §
164 Abs
1 S 3
SGG bestimmt, dass die Soll-Vorschrift zur Beifügung einer Ausfertigung oder beglaubigten Abschrift des angefochtenen Urteils
nicht gilt, "soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden".
Diese allenfalls beiläufige Einbeziehung der elektronischen Form in die Grundnormen des
SGG zur Art und Weise der Einlegung von Rechtsbehelfen belegt, dass der Gesetzgeber diese Form zwar grundsätzlich auch hierfür
erlauben wollte. Er hat aber offenkundig noch keine Veranlassung gesehen, sie neben der Schriftform und der mündlichen Form
(zur Niederschrift) als gleich gewichtige Form und weiteren Regelweg zu normieren. Wäre dies der Fall gewesen, hätte es das
aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitende Postulat der Rechtsmittelklarheit erfordert, die elektronische Form auch in die
einzelnen Bestimmungen über die formalen Anforderungen an die Einlegung der jeweiligen Rechtsbehelfe aufzunehmen, um den Rechtsuchenden
den Weg zur gerichtlichen Überprüfung einer Entscheidung mit der gebotenen Klarheit vorzuzeichnen (vgl BVerfG [Plenum] BVerfGE
107, 395, 416 f = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1 RdNr 57; s auch BVerfG [Kammer] vom 22.5.2012 - 2 BvR 2207/10 - Juris RdNr 3: "Der Gesetzgeber muss für die Rechtsmittel, die er bereitstellt, die Voraussetzungen ihrer Zulässigkeit in
einer dem Grundsatz der Rechtsmittelklarheit entsprechenden Weise bestimmen."). Dies ist jedoch nicht geschehen. Die Vorschrift
des §
65a SGG zur elektronischen Form befasst sich nicht einmal ausdrücklich mit der Einlegung von Rechtsbehelfen oder Rechtsmitteln.
Nichts anderes ergibt sich aus der Regelung in §
158 S 1
SGG. Zwar sind hier die drei prozessualen Formen ausdrücklich nebeneinandergestellt ("nicht schriftlich oder nicht in elektronischer
Form oder nicht zur Niederschrift"). Die genannte Vorschrift wendet sich jedoch von vornherein nicht an die Rechtsuchenden,
sondern enthält Vorgaben für das Gericht. Zudem ist sie im Vergleich zu entsprechenden Bestimmungen anderer Prozessordnungen
über die Behandlung unzulässiger Rechtsmittel (zB §
125 Abs
2 S 1
VwGO, §
522 Abs
1 ZPO; s auch §
169 SGG für die Revision) hinsichtlich der "gesetzlichen Form" wesentlich detaillierter (und insoweit singulär); nur aus diesem Grund
bedurfte sie bei Einführung der elektronischen Form einer redaktionellen Anpassung, weil sie ansonsten unvollständig geworden
wäre (vgl BT-Drucks 15/4067 S 42 - zu Art 4, zu Nr 16 [§ 158]). Eine weitergehende Regelungsabsicht, namentlich die Etablierung
der elektronischen Form als gleich gewichtiger Regelform, hat der Gesetzgeber damit jedoch nicht verfolgt.
(2) Das Erfordernis einer Belehrung auch über die Form des Rechtsbehelfs ist, wie bereits ausgeführt (s oben unter b), aus
einer am Sinn und Zweck der Vorschrift orientierten erweiternden Auslegung des §
66 Abs
1 SGG herzuleiten. In Umsetzung des verfassungsrechtlichen Gebots zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art
19 Abs
4 S 1
GG; s hierzu zB BVerfGE 40, 272, 275) soll die Regelung in §
66 SGG verhüten helfen, dass jemand aus Unkenntnis den Rechtsweg nicht ausschöpft. Ziel einer jeden Rechtsbehelfsbelehrung muss
es demnach sein, den Empfänger über den wesentlichen Inhalt der zu beachtenden Vorschriften zu unterrichten und es ihm so
zu ermöglichen, ohne Gesetzeslektüre die ersten Schritte zur ordnungsgemäßen Einlegung des Rechtsbehelfs einzuleiten (BSGE
79, 293, 294 = SozR 3-1500 § 66 Nr 6 S 24). Ausgerichtet auf dieses Ziel genügt es, über den wesentlichen Inhalt der bei Einlegung
des Rechtsbehelfs zu beachtenden Formvorschriften zu informieren (BSG vom 26.1.1993 - 1 RK 33/92 - Juris RdNr 6). Infolgedessen muss eine "richtige" Belehrung nicht stets allen tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten
und Möglichkeiten Rechnung tragen; es reicht aus, wenn sie die Beteiligten in die richtige Richtung lenkt (BSG SozR 4-1500 § 66 Nr 1 RdNr 6 am Ende).
Das ist bei einer Rechtsmittelbelehrung, die sich hinsichtlich der formalen Anforderungen auf die "klassischen" und allgemein
gebräuchlichen Möglichkeiten einer schriftlichen oder mündlichen (zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle)
Einlegung der Berufung beschränkt, jedenfalls derzeit noch ersichtlich der Fall. Sie zeigt den Beteiligten die regelmäßig
allen Bürgern - auch soweit sie nicht über informationstechnische Spezialkenntnisse und eine spezifische technische Ausstattung
verfügen - offenstehenden Wege für die Einlegung des Rechtsmittels klar und deutlich auf (vgl BSGE 42, 140, 144 = SozR 1500 § 84 Nr 1 S 4). Die hier in Rede stehende Rechtsmittelbelehrung trägt auch in keiner Weise zu einer formwidrigen
oder verspäteten Einlegung des Rechtsbehelfs bei (vgl BSG SozR 4-1500 § 66 Nr 1 RdNr 6). Sie enthält keine Inhalte, die - bei abstrakter Betrachtungsweise - geeignet sein könnten, den Informationswert
der richtigen Angaben zu mindern oder, was hier von besonderer Bedeutung ist, die Beteiligten von Erkundigungen über möglicherweise
im Einzelfall bestehende weitere Möglichkeiten abzuhalten. Sie macht insbesondere keine Angaben, die von Rechtsuchenden dahingehend
verstanden werden könnten, dass eine Berufungseinlegung auf elektronischem Weg ausgeschlossen sei.
(3) Die Möglichkeit, Schriftsätze in gerichtlichen Verfahren als elektronisches Dokument dem Gericht elektronisch zu übermitteln,
hat allein durch ihre rechtliche Zulassung in §
65a SGG iVm einer ausfüllenden Rechtsverordnung noch keine solche praktische Bedeutung erlangt, dass es geboten wäre, die Beteiligten
zum Schutz vor Rechtsnachteilen durch Unwissenheit (vgl BSGE 42, 140, 144 = SozR 1500 § 84 Nr 1 S 4) auch auf diese Form notwendig hinzuweisen. Dies ergibt sich vor allem daraus, dass der mit
einer rechtswirksamen elektronischen Übermittlung von Schriftsätzen an das Gericht gemäß §
65a SGG verbundene Aufwand bei Weitem denjenigen übersteigt, der mit einer Übermittlung auf herkömmliche Weise (schriftlich oder
zur Niederschrift) einhergeht. Auch wenn die erforderlichen IT-Geräte und ein ausreichend leistungsfähiger Zugang zum Internet
mittlerweile in breiten Bevölkerungskreisen zur Verfügung stehen (zur Berücksichtigung eines Internet-Anschlusses für die
Nachrichtenübermittlung bei der Bemessung des Regelbedarfs nach dem SGB II vgl BSG Urteil vom 12.7.2012 - B 14 AS 153/11 R - RdNr 74, zur Veröffentlichung in SozR 4-4200 § 20 Nr 17 vorgesehen), wird zusätzlich nach § 2 iVm Anl 2 Nr 1 ElRVerkV
Hessen eine spezielle Zugangs- und Übertragungssoftware (Elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach - EGVP) benötigt.
Diese wird zwar von der Justizverwaltung kostenfrei zur Verfügung gestellt, doch muss der Nutzer ihre fehlerfreie Installation,
Konfiguration und Bedienung selbst bewerkstelligen. Außerdem ist zur Anbringung der für die Rechtsmitteleinlegung vorgeschriebenen
qualifizierten elektronischen Signatur (§
65a Abs
1 S 3
SGG iVm §
2 und Anl 2 Nr
2 ElRVerkV Hessen) nicht nur ein Kartenlesegerät, sondern auch eine gültige Signaturkarte erforderlich, die - kostenpflichtig
- in einem zeitintensiven Identifizierungsverfahren bei einem zugelassenen Anbieter erworben werden muss.
Dieser einer elektronischen Übermittlung in gerichtlichen Verfahren notwendig vorausgehende Zusatzaufwand von erheblichem
Ausmaß - insbesondere hinsichtlich der qualifizierten elektronischen Signatur - hat nach Einschätzung der Bundesregierung
dazu geführt, dass die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten auch zehn Jahre nach dessen Einführung
"weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist" (Entwurf der Bundesregierung zu einem Gesetz zur Förderung des elektronischen
Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 6.3.2013, BT-Drucks 17/12634 S 1 - unter A. [Problem und Ziel]), sodass auch heute noch
die Kommunikation mit der Justiz "fast ausschließlich auf Papier" basiert (aaO). Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls Ende
2010 und auch derzeit noch nicht davon ausgegangen werden, dass zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes zwingend
eine Belehrung auch über die Möglichkeiten einer elektronischen Kommunikation mit den Gerichten erforderlich ist. Dies gilt
umso mehr, als Bürger oder Behörden in der Zugangs- und Übertragungssoftware EGVP ohnehin ein Verzeichnis derjenigen Gerichte
vorfinden, mit denen die elektronische Kommunikation möglich ist.
(4) Aber auch auf Seiten der Gerichte ist die Fähigkeit zur elektronischen Kommunikation noch längst nicht überall gegeben
(vgl BT-Drucks 17/12634 aaO). Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der Zustellung des SG-Urteils im November 2010 war im Bereich der Sozialgerichtsbarkeit lediglich in fünf von sechzehn Ländern (in Berlin, Brandenburg,
Bremen, Hessen und Rheinland-Pfalz) sowie beim BSG die Übermittlung elektronischer Dokumente zugelassen. Daran hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert. Seither ist
die elektronische Form zusätzlich nur für die Sozialgerichte in Sachsen (zeitlich gestaffelt ab 1.4.2011, 1.7. bzw 1.10.2012,
s § 1 iVm Anl Nr 4, 5, 24, 35 der VO vom 6.7.2010, GVBl Sachsen 190) sowie in Nordrhein-Westfalen (ab 1.1.2013, s § 1 iVm
Anl der VO vom 7.11.2012, GVBl Nordrhein-Westfalen 551) zugelassen worden. Mithin kann auch jetzt noch in lediglich sieben
von sechzehn Ländern die elektronische Form im Sozialgerichtsprozess genutzt werden, wobei so bevölkerungsreiche Länder wie
Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen diese Form noch nicht eröffnet haben. Dies belegt, dass es jedenfalls derzeit
nicht gerechtfertigt ist, bei Betrachtung des gesamten Geltungsbereichs des
SGG die Möglichkeit der Einlegung von Rechtsbehelfen in elektronischer Form als "Regelweg" der Rechtsmitteleinlegung iS der Schutzvorschrift
des §
66 Abs
2 SGG anzusehen. Ob dies anders zu beurteilen ist, sobald alle Gerichte durch Bundesgesetz verpflichtet sind, ab einem bestimmten
Zeitpunkt die elektronische Kommunikation zu ermöglichen, ist hier nicht zu entscheiden, zumal die entsprechenden Regelungen
gemäß dem Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten (BT-Drucks 17/12634, s
dort Art 4 Nr 1, Art 24 und 25) noch nicht verabschiedet sind.
(5) Zu berücksichtigen ist auch, dass die Anforderungen des §
66 Abs
1 SGG an Rechtsbehelfsbelehrungen nicht nur für solche in gerichtlichen Entscheidungen, sondern ebenso für Rechtsbehelfsbelehrungen
in (Widerspruchs-)Bescheiden maßgeblich sind. Während von einem SG erwartet werden kann, dass es den landesrechtlichen Bestimmungen zur Eröffnung der elektronischen Form in diesem Gerichtszweig
zeitnah Rechnung trägt, ist dies bei Sozialversicherungsträgern mit Sitz außerhalb des betreffenden Landes faktisch sehr viel
schwieriger zu gewährleisten. Auch solche - insbesondere bundesweit zuständige - Träger haben aber vielfach Belehrungen zur
Einlegung von Rechtsbehelfen bei Gerichten anderer Länder als demjenigen ihres Sitzes zu erteilen (vgl die Regelung zur örtlichen
Zuständigkeit in §
57 Abs
1 und
2 SGG). Deshalb würde es zu einer Häufung unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrungen und damit zu einer Bindung der Beteiligten an entsprechende
Bescheide (§
77 SGG) erst nach Ablauf der Jahresfrist des §
66 Abs
2 SGG führen, sähe man zwingend eine Belehrung über die elektronische Form als weiteren Regelweg auch für den Fall vor, dass diese
noch vor einer bundesweit einheitlichen Einführung im Rahmen der "Öffnungsklausel" des §
65a Abs
1 SGG bereits lokal zugelassen wurde. Dass der Gesetzgeber des §
65a SGG diese Auswirkungen gewollt oder in Kauf genommen hätte, ist nicht ersichtlich.
(6) Soweit sich die oberstgerichtliche Rechtsprechung bislang damit befasst hat, sieht auch sie keine Notwendigkeit, in Rechtsbehelfsbelehrungen
über die Möglichkeit einer Einlegung in elektronischer Form zu belehren. So hat der 11. Senat des BSG in einem Fall, in dem die Rechtsmittelbelehrung des LSG-Urteils keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde
in elektronischer Form enthielt, trotz Rüge einer deswegen fehlerhaften Belehrung die Monatsfrist - wenn auch ohne nähere
Begründung - für maßgeblich gehalten (BSG Beschluss vom 9.2.2010 - B 11 AL 194/09 B - Juris RdNr 2; s auch RdNr 5). Der 3. Senat des BFH hat entschieden, dass die Familienkassen in ihren Bescheiden auch dann
nicht auf die Möglichkeit der Einspruchseinlegung in elektronischer Form hinweisen müssen, wenn sie durch Angabe einer E-Mail-Adresse
konkludent einen Zugang iS von §
87a Abs
1 S 1
AO eröffnet haben (Beschluss vom 2.2.2010, BFH/NV 2010, 830 RdNr 5; Beschluss vom 12.10.2012, BFH/NV 2013, 177 RdNr 22). In diesem Sinne hat auch der 1. Senat des BFH im Rahmen eines Streits über die Aussetzung der Vollziehung eines
Steuerbescheids nach summarischer Prüfung erkannt, dass eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht unrichtig iS von §
356 Abs
2 AO ist, wenn sie zwar auf die Notwendigkeit der Einspruchseinlegung in Schriftform oder zur Niederschrift, nicht aber zugleich
auf die Möglichkeit der elektronischen Kommunikation (§
87a AO) hinweist (Beschluss vom 12.12.2012, BFH/NV 2013, 434 RdNr 16 ff).
2. Die nach alledem für die Einlegung der Berufung maßgebliche Monatsfrist des §
151 Abs
1 SGG hat die Beklagte mit ihrem (in Papierform vorgelegten) Schriftsatz vom 18.2.2011, der am 28.3.2011 beim LSG einging, nicht
gewahrt.
Eine Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist kommt nicht in Betracht. Selbst wenn der Antrag der Beklagten in der
Berufungsschrift vom 18.2.2011, "die Berufung zuzulassen", sinngemäß als Antrag auf Wiedereinsetzung auszulegen wäre, bedürfte
es keiner Zurückverweisung an das Berufungsgericht zur Nachholung dieser grundsätzlich ihm obliegenden Entscheidung (§
67 Abs
4 SGG). Denn aus Rechtsgründen scheidet eine positive Bescheidung des Wiedereinsetzungsgesuchs hier von vornherein aus (vgl BVerwG
Buchholz 310 §
60 VwGO Nr 145 - Juris RdNr 9; s auch BSGE 71, 17, 19 f = SozR 3-4100 § 103 Nr 8 S 39 zu einem Fall der Gewährung von Wiedereinsetzung durch das Revisionsgericht).
Die Beklagte hat sich zur Rechtfertigung ihrer Vorgehensweise auf ein Schreiben des Vorsitzenden des 5. Senats des BSG vom 7.2.2011 in einem anderen Verfahren berufen; hiernach stehe, wenn in der Rechtsmittelbelehrung eines LSG-Urteils ein
Hinweis auf die Möglichkeit elektronischer Rechtsmitteleinlegung beim BSG fehle, zur Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde die Jahresfrist des §
66 Abs
2 S 1
SGG zur Verfügung. Selbst wenn aufgrund dieses Schreibens bei der Beklagten ein Irrtum über die maßgebliche Frist entstanden
sein sollte und fehlendes Verschulden iS von §
67 Abs
1 SGG ausnahmsweise bejaht werden könnte (vgl BVerwG Beschluss vom 29.6.2010 - 3 B 71/09 - Juris RdNr 6), hat dies jedenfalls für das vorliegende Verfahren keine Bedeutung. Denn die Beklagte kann das genannte Schreiben
vom 7.2.2011 frühestens am selben Tag erhalten haben. Zu diesem Zeitpunkt war aber im hier zu entscheidenden Fall die Berufungsfrist
längst abgelaufen.
3. Der erkennende Senat kann abschließend durch Urteil entscheiden, ohne zuvor gemäß §
41 Abs
2 SGG beim 5. Senat anzufragen. Eine abweichende "Entscheidung" des 5. Senats iS der genannten Vorschrift ist bislang nicht ergangen;
Schreiben an Verfahrensbeteiligte zählen hierzu nicht.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.