Rente wegen Erwerbsminderung
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht
Gründe
I
Der 1960 geborene Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die Beklagte lehnte seinen Rentenantrag vom 15.5.2017 ab und würdigte dabei insbesondere den Entlassungsbericht der Rehaklinik
H vom 25.1.2017 (Bescheid vom 12.6.2017; Widerspruchsbescheid vom 1.3.2018). Das SG hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen, nachdem es auf Antrag des Klägers ein Gutachten beim Arbeits-, Sozial- und Umweltmediziner
T vom 24.1.2020 und von Amts wegen ein Gutachten beim Internisten und Kardiologen E vom 13.8.2020 eingeholt hatte (Urteil vom 11.5.2021). Beim Kläger ist während des von ihm angestrengten Berufungsverfahrens die Aortenklappe ersetzt worden. Das LSG hat ein Gutachten
des Internisten und Betriebsmediziners S vom 21.3.2022 eingeholt. Mit Beschluss vom 6.5.2022 hat es die Berufung zurückgewiesen.
Auch nach dem Ergebnis der ergänzenden Beweisaufnahme sei der Kläger nicht erwerbsgemindert. Er könne nach den überzeugenden
Ausführungen des Sachverständigen S weiterhin zumindest leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit
lediglich qualitativen Einschränkungen vollschichtig verrichten. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf eine Rente wegen
teilweiser Erwerbsminderung bei Berufungsunfähigkeit.
Der Kläger hat gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung Beschwerde zum BSG eingelegt, die er mit Schriftsatz vom 8.7.2022 begründet hat.
II
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig und daher gemäß §
160a Abs
4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm §
169 Satz 2 und
3 SGG zu verwerfen. Sie ist nicht in der nach §
160a Abs
2 Satz 3
SGG gebotenen Form begründet worden. Der Kläger bezeichnet die geltend gemachten Verfahrensmängel nicht anforderungsgerecht.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung
beruhen könne (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG) zunächst die den Verfahrensfehler (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist
es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem
Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 Satz 1
SGG und auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist. Den sich daraus ergebenden Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
2. Der Kläger rügt, das LSG sei der tatrichterlichen Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen (§
103 Satz 1 Halbsatz 1
SGG) nicht ausreichend nachgekommen, indem es seinem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Wird eine solche
Sachaufklärungsrüge erhoben, muss die Beschwerdebegründung hierzu jeweils folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines
für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, bis zum Schluss aufrechterhaltenen Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt
ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen
müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben
hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum
die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis
des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer
günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 14.4.2020 - B 5 RS 13/19 B - juris RdNr 11). Der Kläger bezeichnet schon keinen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag, indem er sich ausschließlich
auf seinen umfangreichen Schriftsatz vom 5.5.2022 bezieht (vgl zur nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässigen Bezugnahme auf vorinstanzlich eingereichte Schriftsätze zB BSG Beschluss vom 21.8.2009 - B 11 AL 21/09 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 15.3.1991 - 2 BU 20/91 - juris RdNr 6; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
160a RdNr 13a). Er zeigt zudem nicht auf, darin sei ein ordnungsgemäßer Beweisantrag (§
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
403 bzw §
373 ZPO) enthalten gewesen. Im Rahmen eines Verfahrens der Erwerbsminderungsrente erfordert dies einen Beweisantrag, mit dem der negative
Einfluss von weiteren, dauerhaften Gesundheitsbeeinträchtigungen auf das verbliebene Leistungsvermögen behauptet und möglichst
genau dargetan wird (vgl hierzu zB BSG Beschluss vom 5.11.2019 - B 13 R 40/18 B - juris RdNr 7 mwN; BSG Beschluss vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6; vgl dazu, dass das Beweisthema in Abgrenzung zu den bereits vorliegenden Aussagen von
Sachverständigen oder sachverständigen Zeugen zu benennen ist, Fichte, SGb 2000, 653, 656). Der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, dass der angeführte Beweisantrag auf die Ermittlung konkreter Leistungseinschränkungen
durch bislang nicht berücksichtigte Erkrankungen gezielt habe. Der Kläger bringt hierzu lediglich in allgemeiner Form vor,
mit dem Beweisantrag habe er deutlich gemacht, dass er den Sachverhalt als nicht ausermittelt erachte. Zudem habe er auf das
Vorliegen sich widersprechender Gutachten hingewiesen.
Soweit der Kläger darüber hinaus geltend macht, er habe die Einholung eines weiteren Gutachtens als sog Obergutachten begehrt,
zeigt er jedenfalls nicht hinreichend auf, dass sich das LSG zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt sehen müssen. Liegen
wie hier bereits mehrere, sich teilweise widersprechende Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur ausnahmsweise zu einer
weiteren Beweiserhebung verpflichtet. Es besteht kein allgemeiner Anspruch auf Überprüfung eines oder mehrere Sachverständigengutachten
durch ein sog Obergutachten (stRspr; vgl nur BSG Beschluss vom 23.5.2006 - B 13 RJ 272/05 B - juris RdNr 5, 11; BSG Beschluss vom 24.5.2017 - B 3 P 6/17 B - juris RdNr 13). Vielmehr ist es Aufgabe des Tatsachengerichts, sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit den vorliegenden Gutachten auseinanderzusetzen.
Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem grundsätzlich anschließen, ohne ein weiteres
Gutachten einholen zu müssen (vgl BSG Beschluss vom 20.2.2018 - B 10 LW 3/17 B - juris RdNr 8). Zu weiteren Beweiserhebungen ist das Tatsachengericht nur verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten grobe Mängel oder
unlösbare Widersprüche enthalten, von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde
des Gutachters geben (BSG Beschluss vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 9). Dass insbesondere das Gutachten des Sachverständigen S einen solchen Mangel aufweisen könnte, legt die Beschwerde nicht
hinreichend dar. Die pauschale Kritik, der Sachverständige habe nicht weiter begründet, warum sich weder der Arzneimittelbedarf
des Klägers noch die kontrollbedürftigen Normabweichungen bei mehreren Laborwerten auf die Leistungsfähigkeit auswirkten,
genügt insoweit nicht. Gleiches gilt für die angeführten allgemeinen Bedenken gegen die Aussagekraft des Ergebnisses der durchgeführten
Spiroergometrie. Auch soweit der Kläger in den Raum stellt, es seien nicht sämtliche Gesundheitsbeeinträchtigungen berücksichtigt
worden, legt er nicht anforderungsgerecht dar, welche konkreten Funktionseinschränkungen insbesondere vom Sachverständigen
S nicht gewürdigt worden sein könnten. Der Kläger wendet sich mit seinem Vorbringen letztlich gegen die Beweiswürdigung des
LSG, das ua der Einschätzung des Sachverständigen S gefolgt ist, nicht aber derjenigen des Sachverständigen T. Hierauf lässt
sich eine Revisionszulassung nicht stützen.
3. Der Kläger rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§
62 SGG, Art
103 Abs
1 GG), indem das LSG eine Verlängerung der Frist zur Stellungnahme zum Gutachten des Sachverständigen S abgelehnt habe. Gemäß §
62 Halbsatz 1
SGG, der einfachrechtlich das durch Art
103 Abs
1 GG garantierte prozessuale Grundrecht wiederholt, ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör
zu gewähren. In besonderer Ausprägung dieses Grundsatzes darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden,
zu denen sich die Beteiligten vor der Entscheidung haben äußern können (§
128 Abs
2 iVm §
153 Abs
1 SGG). Das gilt auch für Entscheidungen im Beschlusswege nach §
153 Abs
4 Satz 1
SGG (vgl zB Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
142 RdNr 3a). Dem Äußerungsrecht ist genügt, wenn die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zu einer Äußerung haben und ihnen zur Abgabe
sachgemäßer Erklärungen eine angemessene Zeit eingeräumt wird (vgl zB BSG Beschluss vom 23.10.2003 - B 4 RA 37/03 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 6; BSG Beschluss vom 8.5.2019 - B 14 AS 37/18 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 21.10.2021 - B 5 RS 10/21 B - juris RdNr 11). Hat das Gericht eine schriftliche Begutachtung angeordnet, kann es den Beteiligten eine Frist setzen, innerhalb derer die
Beteiligten ihre Einwendungen gegen das Gutachten, die Begutachtung betreffende Anträge und Ergänzungsfragen zu dem schriftlichen
Gutachten mitzuteilen haben (§
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
411 Abs
4 Satz 2
ZPO). Es ist nicht hinreichend dargetan, dass das LSG das Äußerungsrecht des Klägers in Bezug auf das Gutachten des Sachverständigen
S beschnitten haben könnte.
Nach dem Beschwerdevorbringen ist das Gutachten der Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 30.3.2022 mit Gelegenheit
zur Stellungnahme bis zum 29.4.2022 übersandt worden. Den am 28.4.2022 gestellten Antrag, die Stellungnahmefrist bis zum 15.5.2022
zu verlängern, hat das LSG abgelehnt und zugleich mitgeteilt, eine Entscheidung werde nicht vor dem 6.5.2022 ergehen. Der
Kläger hat daraufhin mit Schriftsatz vom 5.5.2022 umfangreich Stellung genommen. Die Beschwerde zeigt nicht auf, unter welchem
Gesichtspunkt ein Zeitraum von letztlich fünf Wochen zur Auswertung des Gutachtens nicht ausreichend gewesen sein könnte.
Der Kläger bringt zwar vor, es sei auch bis zum 5.5.2022 nicht abschließend geklärt gewesen, ob und ggf welcher Sachverständige
für eine weitere Begutachtung benannt werden solle oder ob zunächst eine Befragung des Sachverständigen S beantragt werde;
eine notwendige Rücksprache seiner Bevollmächtigten mit ihm habe unterbleiben müssen und die Stellungnahme habe aus terminlichen
Gründen nicht sorgfältig vorbereitet werden können. Der Kläger zeigt damit aber schon nicht auf, alles ihm Zumutbare getan
zu haben, um sich gegenüber dem LSG rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl zu dieser Obliegenheit jüngst BSG Beschluss vom 10.6.2022 - B 5 R 49/22 B - juris RdNr 8 mwN). Hierzu hätte es Ausführungen zur hinreichenden Substantiierung des Fristverlängerungsantrags bedurft. Der Beschwerdebegründung
lässt sich nicht entnehmen, wie der Antrag im Einzelnen gegenüber dem LSG begründet worden ist. Ungeachtet dessen ist jedenfalls
mit dem im Beschwerdeverfahren angeführten Gründen nicht schlüssig dargetan, warum etwaige Einwände, Anträge und Ergänzungsfragen
zum Gutachten seit Erhalt des gerichtlichen Schreiben vom 30.3.2022 nicht vorbereitet, formuliert und abgestimmt werden konnten.
Der Kläger hat auch keine Gehörsverletzung anforderungsgerecht bezeichnet, indem er vorbringt, das LSG sei bei Abfassung des
Schreibens vom 30.3.2022 bereits zur Berufungszurückweisung entschlossen gewesen, obwohl den Beteiligten zu diesem Zeitpunkt
noch keine Äußerung zum Gutachten des Sachverständigen S möglich gewesen sei. Ausgehend vom Vortrag des Klägers hat das LSG
mitgeteilt, eine Berufungszurückweisung im Beschlusswege sei "auf Grund des derzeitigen Sach- und Streitstandes beabsichtigt",
weil der Senat den Nachweis einer Erwerbsminderung als "nicht geführt" ansehe. Aus den Formulierungen wird deutlich, dass
es sich dabei um eine vorläufige Auffassung handelt. Das LSG hat den Kläger - wozu es nicht verpflichtet gewesen ist - lediglich
darauf hingewiesen, mit welchem Ausgang des Berufungsverfahrens er in diesem Verfahrensstadium rechnen müsse, und ihm damit
Gelegenheit gegeben, sein weiteres Prozessverhalten daran auszurichten (vgl dazu, dass keine allgemeine Verpflichtung des Gerichts besteht, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf die Aussicht
genommene Tatsachen- und Beweiswürdigung hinzuweisen, jüngst BSG Beschluss vom 11.7.2022 - B 5 R 26/22 B - juris RdNr 7 mwN).
Soweit der Kläger auch an dieser Stelle zu der von ihm befürworteten Einholung eines sog Obergutachtens ausführt, gilt, dass
eine Gehörsrüge nicht zur Umgehung der nach §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG eingeschränkten Nachprüfbarkeit einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht führen darf (vgl BSG Beschluss vom 14.4.2009 - B 5 R 206/08 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 18 RdNr 6, 9). Andernfalls liefen die Beschränkungen für die Sachaufklärungsrüge im Ergebnis leer (vgl BSG Beschluss vom 6.2.2007 - B 8 KN 16/05 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 7; aus jüngerer Zeit zB BSG Beschluss vom 20.1.2021 - B 5 RE 13/20 B - juris RdNr 9).
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§
160a Abs
4 Satz 2 Halbsatz 2
SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs
1 und 4
SGG.