Erstattungsanspruch des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Gründe:
I
Die Klägerin begehrt von der beklagten Bundesagentur für Arbeit (BA) die Erstattung von Aufwendungen, die ihr durch Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben an den Versicherten K. M. entstanden sind.
Der 1948 geborene Versicherte war bis Januar 2003 im Bergbau beschäftigt und bezog ab 1.2.2003 Anpassungsgeld für Arbeitnehmer
des Steinkohlebergbaus (APG) vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle. Einen am 11.6.2003 bei der Beklagten gestellten
Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben leitete diese am 12.6.2003 an die Klägerin mit dem Hinweis weiter, diese
sei als Rentenversicherungsträger zuständig. Die Klägerin holte ein Gutachten ein mit dem Ergebnis, der Versicherte könne
"auf Dauer keinen Tätigkeiten erwerbsbringenden Charakters auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt mehr nachkommen", sei aber in
der Lage, unter geschützten Bedingungen "körperlich leichte Tätigkeiten, zB in einer Behindertenwerkstatt, auszuführen". Sie
bewilligte zunächst Leistungen im Eingangsverfahren einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), in das der Versicherte
am 17.11.2003 aufgenommen wurde. Nachdem die Klägerin am 19.11.2003 erfahren hatte, dass der Versicherte APG bezog, meldete
sie am 8.1.2004 einen Erstattungsanspruch bei der Beklagten an und bewilligte durch Bescheid vom 23.1.2004 Maßnahmen im Berufsbildungsbereich
der WfbM sowie Übergangsgeld für die Dauer der Maßnahmen, welches auf das APG angerechnet wurde.
Die Erstattung der Kosten für das Eingangsverfahren (2492,25 Euro) und den Berufsbildungsbereich (64 151,68 Euro) iHv insgesamt
66 643,93 Euro lehnte die Beklagte unter Hinweis darauf ab, dass die Klägerin die Bewilligung der Leistungen wegen des Bezugs
von APG durch den Versicherten nach dem Ausschlusstatbestand des §
12 Abs
1 Nr
4a Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) hätte ablehnen müssen.
Mit der Klage hat die Klägerin ihren Erstattungsanspruch weiter verfolgt und damit begründet, dass sie durch Weiterleitung
des Reha-Antrags des Versicherten durch die Beklagte an sie nach §
14 Abs
2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) verpflichtet gewesen sei, die Leistung ohne Prüfung der eigenen Zuständigkeit zu erbringen. Die Erbringung dieser Leistungen
zu Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung sei aber durch §
12 Abs
1 Nr
4a SGB VI ausgeschlossen, weil der Versicherte APG bezogen habe. Zuständiger Reha-Träger sei daher gemäß §
42 Abs
1 Nr
1 SGB IX die Beklagte.
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 4.7.2011); das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin
zurückgewiesen (Urteil vom 20.10.2011). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Gemäß §
14 Abs
4 S 1
SGB IX habe der zweitangegangene Träger einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den eigentlich bzw originär zuständigen
Reha-Träger. Voraussetzung des Anspruchs sei aber, dass der andere Träger - hier also die Beklagte - für die Leistung zuständig
sei. Nach §
42 Abs
1 Nr
1 SGB IX bestehe eine solche Zuständigkeit indes nur, soweit nicht einer der in den Nr
2 bis
4 genannten Träger zuständig sei. Nach §
42 Abs
1 Nr
3 SGB IX seien die Träger der Rentenversicherung unter den Voraussetzungen der §§
11 bis
13 SGB VI zuständig. Diese Zuständigkeit bestehe stets dann, wenn ein Versicherter die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach
§
11 SGB VI erfülle und damit generell zu dem Personenkreis gehöre, für den der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zuständig
sei. Der Umstand, dass der Versicherte APG erhalte und deshalb nach §
12 Abs
1 Nr
4a SGB VI von Leistungen zur Teilhabe ausgeschlossen sei, führe zu keiner anderen Bewertung. Denn §
12 Abs
1 Nr
4a SGB VI sei keine Zuständigkeitsregelung. Nach §
22 Abs
2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (
SGB III) sei die Leistungszuständigkeit der BA nachrangig, dh, die Leistungspflicht entfalle auch dann, wenn zwar ein anderer Leistungsträger
sachlich zuständig sei, die Leistung im konkreten Fall aber ablehne. Zu § 57 Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) als Vorgängerregelung zu §
22 Abs
2 S 1
SGB III habe das Bundessozialgericht (BSG) bereits ausdrücklich entschieden, dass die Vorschrift als reine Kompetenznorm nur die generelle Zuständigkeit des Reha-Trägers
regele (BSG SozR 4100 § 57 Nr 9). Sei grundsätzlich ein anderer Träger zuständig, wenngleich im Einzelfall nicht zur Leistung verpflichtet, könne eine
subsidiäre Zuständigkeit der BA nicht mehr begründet werden. Auch sprächen Sinn und Zweck des §
12 Abs
1 Nr
4a SGB VI gegen eine subsidiäre Leistungszuständigkeit der BA; denn die Vorschrift wolle verhindern, dass Reha-Leistungen noch an Versicherte
erbracht würden, die eigentlich schon endgültig aus dem Arbeitsleben ausgeschieden seien. Dieser Sinn und Zweck würde aber
verfehlt, wenn in diesem Fall wieder ein anderer Träger zuständig werde.
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Eine (nachrangige)
Leistungszuständigkeit der Beklagten ergebe sich aus §
42 Abs
1 Nr
1 SGB IX iVm §
22 Abs
2 SGB III. Denn die Entscheidung des BSG zur Vorgängerregelung des § 57 AFG sei auf das Recht des
SGB IX nicht übertragbar. Die Rechtsprechung beruhe im Wesentlichen auf einer Auslegung von Vorschriften des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes
(RehaAnglG), dessen Geltung mit dem Inkrafttreten des
SGB IX entfallen sei. Das
SGB IX gelte nunmehr unmittelbar und bereichsübergreifend. Alle für die Reha-Träger iS des §
6 SGB IX einheitlichen Regelungen seien - soweit in dem jeweiligen Sozialleistungsgesetz nichts Abweichendes bestimmt sei - unmittelbar
anzuwenden. §
42 Abs
1 Nr
3 SGB IX stelle hinsichtlich der Trägerschaft des Rentenversicherungsträgers aber nicht nur auf §
11 SGB VI ab, sondern auch auf die §§
12 und
13 SGB VI, die Leistungsausschlüsse im konkreten Einzelfall beträfen. Für die Ausblendung dieser Vorschriften im Rahmen der Zuständigkeitsabgrenzung
gebe es keine gesetzmäßige Begründung. Daher werde nach einem Leistungsausschluss iS des §
12 Abs
1 Nr
4a SGB VI über §
42 Abs
1 Nr
1 SGB IX iVm §
22 Abs
2 SGB III die Beklagte (wieder) zuständig.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Oktober 2011 sowie das Urteil des Sozialgerichts Dortmund
vom 4. Juli 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 66 643,93 Euro zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung begründet (§
170 Abs
2 S 2
Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Ob der Klägerin ein Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der Aufwendungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
an den Versicherten K M. zusteht, lässt sich nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen.
1. Rechtsgrundlage für den Erstattungsanspruch ist §
14 Abs
4 S 1
SGB IX. Die Vorschrift räumt dem zweitangegangenen Träger einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den materiell-rechtlich
originär zuständigen Reha-Träger ein. Dieser spezielle Anspruch geht den allgemeinen Erstattungsansprüchen nach dem Sozialgesetzbuch
Zehntes Buch (SGB X) grundsätzlich vor. Er ist begründet, soweit der Versicherte von dem Träger, der ohne die Regelung in §
14 SGB IX zuständig wäre, die gewährte Maßnahme hätte beanspruchen können (vgl BSGE 98, 267 = SozR 4-3250 § 14 Nr 4, RdNr 18 ff; BSGE 98, 277 = SozR 4-2500 § 40 Nr 4, RdNr 9 ff; BSGE 101, 207 = SozR 4-3250 § 14 Nr 7, RdNr 28 ff; BSG SozR 4-3250 § 14 Nr 10 RdNr 11 mwN). Die Zuständigkeitszuweisung erstreckt sich im Außenverhältnis zum Versicherten auf alle Rechtsgrundlagen,
die in der konkreten Bedarfssituation für Reha-Träger vorgesehen sind. Im Verhältnis zum behinderten Menschen wird dadurch
eine eigene gesetzliche Verpflichtung des zweitangegangenen Trägers begründet, die - vergleichbar der Regelung des § 107 SGB X - einen endgültigen Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Leistungen in diesem Rechtsverhältnis bildet. Im Verhältnis der
Reha-Träger untereinander ist jedoch eine Lastenverschiebung ohne Ausgleich nicht bezweckt (BSGE 98, 277 = SozR 4-2500 §
40 Nr 4, RdNr 12; Knittel,
SGB IX, Stand August 2012, §
14 RdNr 129).
Die Erstattungsregelung des §
14 Abs
4 S 1
SGB IX ist hier anwendbar, weil die Beklagte den bei ihr eingereichten Leistungsantrag des Versicherten einen Tag nach Antragseingang
und damit unverzüglich iS des §
14 Abs
1 S 2
SGB IX an die Klägerin weitergeleitet hat. Die Klägerin hat danach die Leistungen an den Versicherten als zweitangegangener Reha-Träger
iS des §
14 SGB IX erbracht.
2. Voraussetzung des Erstattungsanspruchs nach §
14 Abs
4 S 1
SGB IX ist, dass nach Bewilligung der Leistung durch den vorleistenden Reha-Träger (§
14 Abs
1 S 2 bis 4
SGB IX) festgestellt wird, dass der andere Träger für die Leistung zuständig ist. Eine solche Erstattungslage besteht mithin nicht,
wenn der zweitangegangene Reha-Träger selbst für die erbrachte Leistung nach den Vorschriften seines Leistungsrechts - hier
des
SGB VI - zuständig ist. Dies ist jedoch entgegen der Auffassung des LSG nicht der Fall.
Die Zuständigkeit für die Erbringung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich
einer WfbM richtet sich nach §
42 Abs
1 SGB IX. Nach Nr
1 dieser Vorschrift erbringt die BA diese Leistungen, soweit nicht einer der in den Nr 2 bis 4 genannten Träger zuständig ist.
Nach Nr 3 der Norm sind die Träger der Rentenversicherung unter den Voraussetzungen der §§
11 bis
13 SGB VI zuständig.
Nach den den Senat bindenden Feststellungen des LSG, gegen die zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht
sind (§
163 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), erfüllte der Versicherte zwar die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Leistung des Rentenversicherungsträgers
nach §
11 SGB VI; in seiner Person bestand jedoch ein Leistungshindernis iS des §
12 SGB VI. Denn nach Abs
1 Nr
4a dieser Vorschrift werden Leistungen zur Teilhabe ua nicht für Versicherte erbracht, die eine Leistung beziehen, die regelmäßig
bis zum Beginn einer Rente wegen Alters gezahlt wird. Der Versicherte bezog seit dem 1.2.2003 - und damit auch im Zeitpunkt
der Bewilligung der Leistungen zur Teilhabe - vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle APG. Hierbei handelt es sich
um eine Leistung, die regelmäßig bis zum Beginn der Altersrente gezahlt wird und damit um eine Leistung iS des §
12 Abs
1 Nr
4a SGB VI (vgl Luthe, juris-PK
SGB VI, Stand 11.5.2011, §
12 RdNr 48; Günniker in Hauck/Noftz,
SGB VI, Stand Mai 2012, K §
12 RdNr 17, 18). Die dem Versicherten erbrachten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben finden mithin keine Stütze im Recht
der gesetzlichen Rentenversicherung.
Demgegenüber ist die nur auf §
11 SGB VI abstellende Argumentation des LSG - wie die Revision zutreffend geltend macht - schon deshalb nicht überzeugend, weil §
42 Abs
1 Nr
3 SGB IX nicht nur auf §
11 SGB VI, sondern auf die §§
11 bis
13 SGB VI verweist. Die Ausschlusstatbestände des §
12 Abs
1 SGB VI begründen aber allgemeine Leistungshindernisse. Hieraus folgt, dass der Rentenversicherungsträger unter den in der Vorschrift
genannten Voraussetzungen keine Leistungen erbringen darf und insoweit generell unzuständig ist (vgl Kater in Kasseler Kommentar,
§
12 SGB VI RdNr 3, Stand 2012). Insofern lässt sich auch die zu § 57 AFG und zum RehaAnglG ergangene Rechtsprechung des Senats (BSG SozR 4100 § 57 Nr 9), auf die das LSG seine Auffassung gestützt hat, nicht auf §
14 Abs
4 S 1
SGB IX übertragen; denn "zuständig" im Verhältnis der Leistungsträger untereinander iS des §
14 Abs
4 S 1
SGB IX ist der Träger, der auch materiell zur Leistungsgewährung verpflichtet ist.
3. Ob der geltend gemachte Erstattungsanspruch begründet ist, hängt somit davon ab, ob der Versicherte die begehrten Leistungen
von der Beklagten als erstangegangenem und grundsätzlich gemäß §
42 Abs
1 Nr
1 SGB IX zuständigen Reha-Träger nach dem für diesen geltenden materiellen Recht beanspruchen konnte (vgl BSG SozR 4-3250 § 14 Nr 10 RdNr 13; SozR 4-2500 § 33 Nr 36 RdNr 12). Für die Beantwortung dieser Frage reichen die bislang getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht aus.
Soweit §
14 Abs
4 S 1
SGB IX eine Erstattung der Aufwendungen des vorleistenden Trägers "nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften" vorsieht, bedeutet
dies lediglich, dass der Fall von dem eigentlich zuständigen und damit erstattungspflichtigen Träger nicht noch einmal von
Grund auf neu aufzugreifen ist (vgl Knittel,
SGB IX, §
14 RdNr 133, Stand 2012), der erstattungspflichtige Träger somit an die Sachverhaltsaufklärung bzw eine etwaige Ermessensbetätigung
des vorleistenden Trägers gebunden ist (vgl BSGE 98, 267 = SozR 4-3250 § 14 Nr 4, RdNr 19). Den Ausführungen des LSG einschließlich der in Bezug genommenen Verwaltungsakten lässt
sich jedoch nicht entnehmen, dass der Sachverhalt durch die Klägerin im Hinblick auf die maßgebenden Vorschriften aufgeklärt
worden ist, sodass die notwendigen Feststellungen nunmehr im gerichtlichen Verfahren nachzuholen sind.
Das LSG wird insbesondere zu prüfen haben, ob der Versicherte die ihm gewährten Leistungen auf der Grundlage der Vorschriften
des
SGB III zur Förderung der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben beanspruchen konnte (§§
97 ff
SGB III, jeweils in der zur Zeit des Maßnahmebeginns - 2003 - geltenden Fassung, vgl BSGE 109, 293 = SozR 4-3250 § 17 Nr 2, RdNr 20). Dabei wird zu beachten sein, dass die Leistungen im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich
der Werkstätten für behinderte Menschen gemäß §
102 Abs
2 SGB III (in der bis 31.3.2012 geltenden Fassung) iVm §
40 SGB IX dann möglich sind, wenn erwartet werden kann, dass der behinderte Mensch nach der Teilnahme an der Maßnahme in der Lage ist,
wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen (vgl BSGE 109, 293 = SozR 4-3250 § 17 Nr 2, RdNr 26).
4. Das LSG wird auch über die Kosten einschließlich der Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.