Erstattung von fortgezahltem Arbeitsentgelt nach dem Aufwendungsausgleichsgesetz
Grundsatzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Gründe
I
Die Klägerin ist Rechtsanwältin. Die Beklagte bewilligte ihr für drei unterschiedliche Zeiträume durch Bescheide vom 1.6.2011
jeweils die Erstattung von fortgezahltem Arbeitsentgelt nach § 1 Abs 1 Aufwendungsausgleichsgesetz für eine Arbeitnehmerin. Auf mindestens einen Widerspruch gegen einen der Bescheide änderte die Beklagte die drei Bescheide
zu Gunsten der Klägerin. Nur für einen Widerspruch gegen einen der Bescheide vom 1.6.2011 stellte die Beklagte die Notwendigkeit
der Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes dem Grunde nach fest und setzte die der Klägerin zu erstattenden Kosten des Vorverfahrens
auf 309,40 Euro fest. Mit ihrem Begehren, ihr weitere Kosten des Vorverfahrens iH von insgesamt 618,80 Euro wegen der - von
ihr behaupteten - Widersprüche gegen die zwei weiteren Bescheide vom 1.6.2011 zu erstatten, ist die Klägerin bei der Beklagten
(Bescheid vom 25.2.2015) und vor dem SG in der Sache erfolglos geblieben (Gerichtsbescheid vom 2.8.2018). Das LSG hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen: Die Berufung sei unstatthaft, da das SG sie nicht zugelassen habe; eine Berufungszulassung liege auch nicht in der unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung des SG. Die Berufung habe nach §
144 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGG der Zulassung bedurft, weil der Beschwerdegegenstand der auf eine Geldleistung gerichteten Klage 750 Euro nicht übersteige.
Dass der Antrag der Klägerin wörtlich nicht auf Zahlung, sondern auf "Freistellung" gerichtet sei, ändere nichts daran, dass
die Klage auf eine "Geldleistung" iS des §
144 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGG gerichtet sei. Für die Anwendung der Wertgrenzen komme es nicht auf die Klageart an (Urteil vom 16.6.2020).
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG- Urteil und beantragt hierfür Prozesskostenhilfe
(PKH) unter ihrer eigenen Beiordnung.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß §
160a Abs
4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm §
169 Satz 3
SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus §
160a Abs
2 Satz 3
SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe des Verfahrensmangels (dazu 1.) und der grundsätzlichen Bedeutung (dazu 2.).
1. Soweit die Klägerin als Verfahrensfehler rügt, das LSG habe zu Unrecht nicht in der Sache, sondern durch Prozessurteil
entschieden, entspricht ihre Begründung nicht den aus §
160a Abs
2 Satz 3
SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des Revisionszulassungsgrundes des Verfahrensfehlers (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG).
Nach §
160 Abs
2 Nr
3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen
kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von §
109 SGG und §
128 Abs
1 Satz 1
SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des §
103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende
Begründung nicht gefolgt ist. Nach §
160a Abs
2 Satz 3
SGG sind die Umstände zu bezeichnen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen.
Wer sich - wie hier die Klägerin - darauf stützt, das LSG habe die Berufung als unzulässig verworfen, obwohl es eine Sachentscheidung
hätte treffen müssen (vgl zum Verfahrensmangel "Prozessurteil statt Sachurteil" zB BSG vom 17.6.2020 - B 5 R 302/19 B - SozR 4-1500 § 151 Nr 6 RdNr 5 mwN), muss schlüssig darlegen, worin die unrichtige Beurteilung der Sachurteilsvoraussetzungen liegt, und die entsprechenden Tatsachen
angeben (vgl zB BSG vom 12.3.2018 - B 1 KR 43/17 B - juris RdNr 9; BSG vom 31.7.2017 - B 13 R 140/17 B - juris RdNr 5 f; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 661 f). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
Die Klägerin trägt nicht schlüssig vor, warum die Berufung nach §
144 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGG nicht der Zulassung bedurft haben sollte. Soweit sie vorträgt, dass die Wertgrenze des §
144 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGG auf kostenrechtliche Freistellungsansprüche keine Anwendung finde, hätte es insbesondere einer Auseinandersetzung damit bedurft,
dass nach der Rspr des BSG der Begriff der Geldleistung iS des §
144 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGG nicht auf Sozialleistungen gemäß §
11 Satz 1
SGB I beschränkt ist, sondern dieser auch die - hier betroffenen - Kosten eines isolierten Vorverfahrens (vgl BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris RdNr 11; BSG vom 19.11.1996 - 1 RK 18/95 - SozR 3-1500 § 158 Nr 1 - juris RdNr 19; vgl auch BVerwG vom 16.12.1988 - 7 C 93/86 - Buchholz 312 EntlG Nr 53 = juris RdNr 10; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
144 RdNr 9; Karl in Zeihe/Hauck,
SGG, Stand Mai 2020, § 144 RdNr 7g) sowie den in der Befreiung von einer Verbindlichkeit liegenden geldwerten Vorteil umfasst (vgl BSG vom 19.11.1996 - 1 RK 18/95 - SozR 3-1500 §
158 Nr 1 - juris RdNr 18; Karl in Zeihe/Hauck,
SGG, Stand Mai 2020, §
144 RdNr 7l). Mit dieser Rspr setzt sich die Klägerin nicht auseinander.
2. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig
(entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG vom 26.5.2020 - B 1 KR 14/19 B - juris RdNr 4 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 f mwN). Dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.
Die Klägerin formuliert als Rechtsfrage:
"Ist die Berufung bei einem Streit über einen (Kosten(höhen-)Freistellungsanspruch grundsätzlich ohne Zulassung der Berufung
statthaft oder bedarf diese der Zulassung nach §
144 Abs.
1 SGG, wenn der Beschwerdewert von 750 Euro nicht erreicht wird?"
Sie zeigt die Klärungsbedürftigkeit dieser Rechtsfrage nicht auf. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn
sie bereits höchstrichterlich entschieden ist. Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage
nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das
Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (vgl BSG vom 22.2.2017 - B 1 KR 73/16 B - juris RdNr 8 mwN; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit eines entsprechenden Maßstabs BVerfG <Kammer> vom 12.9.1991
- 1 BvR 765/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10 f = juris RdNr 4). Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann wieder klärungsbedürftig werden, wenn
der Rspr in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht
werden, was im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen ist (vgl zB BSG vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 32; BSG vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - juris RdNr 7). Erneute Klärungsbedürftigkeit ist darüber hinaus auch gegeben, wenn neue erhebliche Gesichtspunkte gegen die bisherige Rspr
vorgebracht werden, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der aufgeworfenen Fragestellung
führen können und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich ausschließen (vgl BSG vom 30.9.1992 - 11 BAr 47/92 - SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2; BSG vom 11.2.2020 - B 10 EG 14/19 B - juris RdNr 6; jeweils mwN). Diesen Anforderungen entspricht die Beschwerdebegründung nicht.
Das BSG hat - wie ausgeführt (vgl hierzu 1.) - bereits entschieden, dass der Begriff der Geldleistung in §
144 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGG insbesondere auch die Kosten eines isolierten Vorverfahrens sowie den in der Befreiung von einer Verbindlichkeit liegenden
geldwerten Vorteil umfasst. Mit dieser Rspr setzt sich die Klägerin nicht auseinander und legt nicht hinreichend dar, weshalb
die Frage gleichwohl erneut klärungsbedürftig sein sollte.
Im Übrigen legt die Klägerin auch die Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage nicht dar. Insoweit wäre darzustellen gewesen, dass
das BSG im angestrebten Revisionsverfahren überhaupt über die aufgeworfene Frage entscheiden müsste, die Frage also entscheidungserheblich
ist (vgl BSG vom 13.1.2017 - B 12 R 23/16 B - juris RdNr 20; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 18.12.1991 - 1 BvR 1411/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14 = juris RdNr 8).
Die Klägerin legt insbesondere nicht dar, dass der geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der Kosten des isolierten Vorverfahrens
nach § 63 SGB X auf Freistellung gerichtet sein könnte. Nach der Rspr des BSG zielt der Anspruch nach § 63 SGB X auf "Erstattung der notwendigen Aufwendungen" dann auf Freistellung von der Gebührenforderung nach Maßgabe von § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X, wenn die Gebührenforderung des Bevollmächtigten für das Widerspruchsverfahren noch nicht beglichen ist. Eine solche Freistellung
kann ein Erstattungsberechtigter danach beanspruchen, soweit er im Innenverhältnis zum Bevollmächtigten zum Ausgleich von
dessen Gebührenforderung verpflichtet und die ihr zugrundeliegende Tätigkeit im Außenverhältnis zum erstattungsverpflichteten
Träger zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung als notwendig anzusehen ist (vgl BSG vom 12.12.2019 - B 14 AS 46/18 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 29 RdNr 12). Die Klägerin trägt nicht vor, weshalb eine Verpflichtung zum Ausgleich der Gebührenforderung zum "Bevollmächtigten" im Innenverhältnis
bestehen könnte, obwohl sie sich selbst vertreten hat.
3. Aus den unter 1. und 2. dargelegten Gründen scheidet mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung auch
die Bewilligung von PKH unter ihrer eigenen Beiordnung aus (§
73a Abs
1 Satz 1
SGG iVm §§
114,
121 ZPO). Ob eine Selbstbeiordnung eines Rechtsanwaltes im Rahmen des PKH-Verfahrens überhaupt zulässig ist, muss daher nicht entschieden
werden (verneinend BAG vom 14.11.2007 - 3 AZB 26/07 - juris RdNr 6 f).
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§
160a Abs
4 Satz 2 Halbsatz 2
SGG).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.