Zulassung der Revision im sozialgerichtlichen Verfahren wegen überlanger Verfahrensdauer
Gründe:
I. Im Streit ist die Gewährung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit ab 14. April 1999.
Der Kläger bezog von der Beklagten bis zum 13. April 1999 Alhi. In der Folgezeit wurde Alhi im Hinblick auf eine von der Berufsgenossenschaft
Chemie gezahlte Abfindung in Höhe von 151.994,77 DM (unter Wegfall der bisherigen Verletztenrente mit Ablauf des Monats März
1999) nicht mehr gezahlt. Klage und Berufung des Klägers, mit der er die Zahlung von Alhi über den 13. April 1999 hinaus begehrte,
blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 26. Oktober 2001, Urteil des Landessozialgerichts [LSG] Baden-Württemberg
vom 20. Juni 2007).
Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde. Die Entscheidung des LSG verstoße gegen
Art
3 und Art
14 Grundgesetz (
GG). In der Auslegung der Vorschriften durch das LSG liege ein Verfahrensmangel iS von "§
160 Abs.
2 Ziff. 2
SGG i.V.m. den Artikel
3 Abs.
2, 14 Abs.
1 GG". Daneben rügt der Kläger die zu lange Verfahrensdauer vor dem LSG von über fünf Jahren.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers, auf dem die
Entscheidung beruhen kann, (§
160 Abs
2 Nr
3 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) dargelegt bzw bezeichnet ist (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG). Die Beschwerde ist aber unbegründet.
Soweit der Kläger die lange Verfahrensdauer rügt, liegen die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nicht vor. Dabei
kann offen bleiben, ob nach den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) das Verfahrens insgesamt oder speziell das Verfahren in der Berufungsinstanz die durch das Gebot des fairen Verfahrens gezogene
zeitliche Grenze überschritten hat (s dazu Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 4. September 2007 - B 2 U 308/06 B -, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Denn ein derartiger Mangel kann die Zulassung der Revision nicht begründen.
Es ist nicht ersichtlich und wird auch nicht geltend gemacht, dass die überlange Verfahrensdauer den Inhalt der Entscheidung
des LSG beeinflusst haben könnte, die Entscheidung also iS des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG auf dem Mangel beruhen kann. Eine etwaige Verletzung des Rechts des Klägers auf ein zügiges, in angemessener Frist durchgeführtes
Verfahren könnte im Übrigen durch die Aufhebung des angefochtenen Urteils in einem Revisionsverfahren oder durch eine Zurückverweisung
nach §
160a Abs
5 SGG nicht geheilt werden; das Verfahren würde sich im Gegenteil bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung weiter verlängern.
Der Ansicht, eine Verletzung des Rechts auf ein zügiges Verfahren könne mit der Nichtzulassungsbeschwerde auch dann mit Erfolg
geltend gemacht werden, wenn keine Möglichkeit besteht, dass der Verfahrensmangel das Urteil beeinflusst hat, vermag der Senat
nicht zu folgen (so auch BSG, Beschluss vom 4. September 2007 - B 2 U 308/06 B). Der 4. Senat des BSG, auf dessen Beschluss vom 13. Dezember 2005 (SozR 4-1500 § 160a Nr 11) sich der Kläger beruft, verweist
für seine gegenteilige Auffassung auf die Garantien in Art 6 Abs 1 EMRK (Recht auf faires Verfahren) und Art 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) sowie den aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes folgenden Justizgewährungsanspruch
und leitet aus dem Fehlen eines speziellen Rechtsbehelfs zur Durchsetzung dieser Ansprüche in den einschlägigen Verfahrensordnungen
das Recht des Beteiligten ab, eine überlange Verfahrensdauer mit einer auf §
160 Abs
2 Nr
3 SGG gestützten Nichtzulassungsbeschwerde geltend zu machen, ohne darlegen zu müssen, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem
Verfahrensfehler beruhen kann. Der 2. Senat (aaO) hat hierzu ausgeführt:
"Der Senat hat Zweifel, ob sich ein mit Verfahrensgarantien des EMRK und des Grundgesetzes begründeter Verzicht auf das Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensmangels bei der
Anwendung des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG im Rahmen einer methodisch vertretbaren Gesetzesinterpretation halten würde. Da der Wortlaut der Vorschrift hinsichtlich
der Notwendigkeit des 'Beruhenkönnens' eindeutig und keiner einschränkenden Auslegung zugänglich ist, stellt sich das Absehen
von dieser Zulassungsvoraussetzung als Akt richterlicher Rechtsfortbildung in der Form einer teleologischen Reduktion dar,
wovon auch der 4. Senat ausgeht. Damit dürften jedoch die Grenzen einer konventionsgemäßen Auslegung überschritten sein, denn
im Ergebnis würde trotz Gleichrangigkeit der Rechtsquellen geltendes Gesetzesrecht durch die EMRK verdrängt. Angesichts des zwingenden Wortlauts der Regelung in §
160 Abs
2 Nr
3 SGG scheidet auch die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung für den Fall aus, dass in einer überlangen Verfahrensdauer
eine Verletzung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs aus Art
20 Abs
3 iVm Art
2 Abs
1 GG gesehen wird.
Letztlich kann all das auf sich beruhen, weil mit einer nicht an die Anforderungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG gebundenen Revisionszulassungsbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer im Ergebnis ein - unzulässiger - außerordentlicher
Rechtsbehelf geschaffen würde, dessen Voraussetzungen und Folgewirkungen unklar sind und der deshalb dem rechtsstaatlichen
Erfordernis der Rechtsmittelklarheit nicht genügt. Zwar wird bei der Eröffnung der Beschwerdemöglichkeit formal an den in
§
160a SGG geregelten Rechtsbehelf der Nichtzulassungsbeschwerde angeknüpft. Nach Inhalt und Zielsetzung dient die Zulassung der Revision
bei überlanger Verfahrensdauer jedoch nicht der Überprüfung des angefochtenen Urteils auf Rechtsfehler, sondern allein der
Feststellung des Verfahrensfehlers als Grundlage für die Erlangung einer angemessenen Wiedergutmachung für die eingetretene
Verzögerung (siehe dazu Beschluss des 4. Senats vom 13. Dezember 2005, SozR 4-1500 § 160a Nr 11 RdNr 34 und 84). Die Nichtzulassungsbeschwerde
übernimmt damit die Funktion einer im Gesetz (bisher) nicht vorgesehenen Untätigkeitsbeschwerde bzw Untätigkeitsfolgenbeschwerde.
Die Voraussetzungen und Wirkungen einer nicht den Beschränkungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG unterliegenden Nichtzulassungsbeschwerde mit dem Ziel der Feststellung und Ahndung von Konventionsverstößen durch das Revisionsgericht
sind unklar. Adressat einer gerichtlichen Feststellung und etwaiger Wiedergutmachungs- oder Entschädigungsansprüche können
nicht die Prozessbeteiligten, sondern nur die Länder sein, deren Gerichte gegen das Gebot eines zügigen Verfahrens verstoßen
haben. Ihre Beteiligung am Verfahren erforderte eine Klageänderung, die in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht zulässig
wäre (§
168 SGG). Welcher Art eine Wiedergutmachung oder Entschädigung sein könnte und nach welchen Maßstäben sie zu bestimmen wäre, ist
offen.
Das verfassungsrechtliche Gebot der Rechtsmittelklarheit erfordert, dass die Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung
geregelt werden und in ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sind. Das rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit
und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns gebietet es, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen
klar vorzuzeichnen (Beschluss des Plenums des BVerfG vom 30. April 2003, BVerfGE 107, 395, 416 mwN). Die rechtliche Ausgestaltung des Rechtsmittels soll dem Bürger die Prüfung ermöglichen, ob und unter welchen Voraussetzungen
es zulässig ist, welche Ziele er erreichen kann und wie er vorgehen muss. Es verstößt deshalb gegen die verfassungsrechtlichen
Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen
Rechts geschaffen werden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen (BVerfG
- Kammerbeschluss vom 16. Januar 2007 - 1 BvR 2803/06 -, NJW 2007, 2538). Entsprechend geht der EGMR davon aus, dass eine richterrechtlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde kein wirksamer Rechtsbehelf gegen
eine überlange Verfahrensdauer ist (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 8. Juni 2006, EuGRZ 2007, 255 = NJW 2006, 2389)."
Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an. Bereits der 1. Senat des BSG hat in seinem Beschluss vom 21. Mai
2007 (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 17 S 62) zu Recht darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des EGMR (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 8. Juni 2006, aaO) kein Raum dafür verbleibt, zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die EMRK ohne gesetzliche Grundlage durch Richterrecht eine Untätigkeitsbeschwerde zu schaffen, um auf ein laufendes Verfahren einzuwirken.
Die Anrufung des Großen Senats des BSG wegen der Entscheidung des 4. Senats ist nicht geboten, weil die Auffassung des 4.
Senats auf Grund der späteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des EGMR überholt ist (BSG, Beschluss vom 4. September 2007 - B 2 U 308/06 B).
Soweit der Kläger einen Verfahrensfehler in dem behaupteten Verstoß gegen Art
3 und gegen Art
14 GG sieht, fehlt es an der Bezeichnung eines Verfahrensmangels durch Verstoß gegen bundesrechtliche Verfahrensvorschriften (BSG
SozR 1500 § 160 Nr 44 S 40 f). Selbst aus dem Vortrag in der Beschwerdebegründung kann nicht auf einen Verfahrensmangel geschlossen
werden. Die Beschwerdebegründung setzt sich insoweit nur inhaltlich mit der Entscheidung des LSG auseinander und hält die
vom LSG vorgenommene Auslegung der einschlägigen Vorschriften sowie das gefundene Ergebnis für falsch.
Soweit in der Beschwerdebegründung - was näher liegt - tatsächlich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht
werden sollte (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG), wird die Beschwerdebegründung den Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung ebenfalls nicht gerecht.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus
aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig
ist. Der Beschwerdeführer muss anhand des anwendbaren Rechts unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
- ggf sogar des Schrifttums - angeben, welche Rechtsfrage sich stellt, dass diese Rechtsfrage noch nicht geklärt ist, dass
eine Klärung dieser Rechtsfrage aus Gründen der Einheit oder Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte
Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt (BSG SozR 1500 § 160 Nr 7; SozR 1500 § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59 und 65). Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin eine Rechtsfrage, ihre
(abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (= Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall
hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (BSG SozR 1500 § 160a Nr 60 und 65; SozR
3-1500 § 160a Nr 16 mwN; vgl auch BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
Der Kläger formuliert selbst keine ausdrückliche Rechtsfrage. Ohnedies fehlen jegliche Ausführungen zu deren Klärungsbedürftigkeit
und zur Klärungsfähigkeit sowie zur Breitenwirkung. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich schon nicht, von welchem Sachverhalt
der Senat auszugehen hat. Sie legt lediglich dar, dass aus ihrer Sicht die kapitalisierte Verletztenrente aus verfassungsrechtlichen
Gründen nicht, wie vom LSG angenommen, als zu berücksichtigendes Vermögen bei der Zahlung von Alhi zu bewerten ist. Daneben
fehlt auch eine Auseinandersetzung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung des 11. Senats des BSG (BSG SozR 3-4100 § 138
Nr 5), die das LSG zur Begründung seiner Entscheidung herangezogen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.