Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz
Gewährleistung rechtlichen Gehörs
Gebot des fairen Verfahrens
1. Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör aus §
62 SGG, Art.
103 GG verpflichtet das Prozessgericht grundsätzlich nicht, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden
Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern.
2. Selbst wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle vertretbaren
rechtlichen Gesichtspunkte und Tatsachenwertungen von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen.
3. Insbesondere ein Kollegialgericht ist nicht verpflichtet, seine (vorläufige) Rechtsauffassung aufzudecken und erst recht
nicht, bei einer Erörterung der Sach- und Rechtslage bereits seine endgültige Beweiswürdigung darzulegen.
4. Andererseits setzt eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährleistung rechtlichen Gehörs voraus, dass ein
Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es
für die Entscheidung ankommen kann.
5. Um den Anspruch auf rechtliches Gehör und damit zugleich das Gebot fairen Verfahrens zu wahren, darf das Gericht deshalb
seine Entscheidung nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützen, mit dem auch ein gewissenhafter und
kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen
Prozessverlauf - jedenfalls ohne Hinweis des Gerichts - nicht zu rechnen brauchte.
Gründe:
I
In ihrem beim Beklagten gestellten Entschädigungsantrag machte die Klägerin geltend, sie sei von 1978 bis 1988 von ihrem Vater
sexuell missbraucht und in pornographischer Form abgelichtet worden. Sie leide deshalb an einer posttraumatischen Belastungsstörung
sowie einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung. Der Beklagte lehnte den Antrag ab. Wie das im Verwaltungsverfahren eingeholte
aussagepsychologische Gutachten der Diplom-Psychologin H. vom 25.3.2009 ergeben habe, sei ein vorsätzlicher rechtswidriger
tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 S 1
OEG nicht glaubhaft (Bescheid vom 4.6.2009, Widerspruchsbescheid vom 15.9.2009).
Das von der Klägerin angerufene SG hat die Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin Beschädigtenversorgung wegen der Folgen des Missbrauchs
durch ihren Vater zu gewähren. Ihre Angaben seien glaubhaft. Ferner sei ihr Vater wiederholt wegen sexuellen Missbrauchs anderer
Kinder auffällig geworden. Das anderslautende aussagepsychologische Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren habe ua die Besonderheiten
der dissoziativen Identitätsstörung übergangen, an der die Klägerin leide (Urteil vom 18.10.2011).
Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das erstinstanzliche Urteil - nach weiterer neurologisch-psychiatrischer Begutachtung
der Klägerin - aufgehoben und die Klage abgewiesen. Ein Angriff iS von §
1 Abs
1 S 1
OEG sei nicht glaubhaft gemacht. Die Angaben der Klägerin seien in erheblichem Maß inkonstant. Zudem habe die aussagepsychologische
Gutachterin zutreffend auf zahlreiche Bedenken gegen die Zuverlässigkeit ihrer Aussage hingewiesen (Urteil vom 31.8.2016).
Mit ihrer Beschwerde, für die sie zugleich PKH beantragt, wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im
Urteil des LSG. Das Berufungsgericht sei von der Rechtsprechung des BSG abgewichen und habe Verfahrensfehler begangen.
II
Der PKH-Antrag der Klägerin ist unbegründet. PKH ist nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende
Aussicht auf Erfolg bietet (§
73a Abs
1 S 1
SGG iVm §
114 ZPO). An der erforderlichen Erfolgsaussicht fehlt es hier. Denn die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre
Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil weder der behauptete Verfahrensmangel iS von §
160 Abs
2 Nr
3 SGG (1.) noch die angebliche Divergenz nach §
160 Abs
2 Nr
2 SGG (2.) ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl §
160a Abs
2 S 3
SGG).
1. Die Klägerin hat nicht substantiiert dargelegt, warum das LSG - verfahrensfehlerhaft - seine Hinweispflicht - vgl §
139 Abs
2 ZPO iVm §
202 SGG - verletzt, dadurch überraschend entschieden und so ihr rechtliches Gehör verletzt haben sollte.
Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör aus §
62 SGG, Art
103 GG verpflichtet das Prozessgericht grundsätzlich nicht, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden
Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 10.2.2001 - 2 BvR 1384/99 - Juris RdNr 7 unter Hinweis auf BVerfGE 66, 116 [147]; 74, 1 [5]; 86, 133 [145]; BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 mwN). Selbst wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich
alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte und Tatsachenwertungen von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf
einstellen (vgl BVerfG Kammerbeschluss vom 15.8.1996 - 2 BvR 2600/95 - Juris RdNr 22 unter Hinweis auf BVerfGE 31, 364 [370]; 66, 116 [147]; 74, 1 [5]). Insbesondere ein Kollegialgericht ist nicht verpflichtet, seine (vorläufige) Rechtsauffassung aufzudecken
(vgl BVerfG aaO; Sommer in Zeihe,
SGG, Stand April 2015, §
62 RdNr 4b bb) und erst recht nicht, bei einer Erörterung der Sach- und Rechtslage bereits seine endgültige Beweiswürdigung
darzulegen. Andererseits setzt eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährleistung rechtlichen Gehörs voraus,
dass ein Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte
es für die Entscheidung ankommen kann (vgl BVerfG Kammerbeschluss vom 15.8.1996 - 2 BvR 2600/95 - Juris RdNr 22 unter Hinweis auf BVerfGE 31, 364 [370]; 66, 116 [147]; 74, 1 [5]). Um den Anspruch auf rechtliches Gehör und damit zugleich das Gebot fairen Verfahrens (vgl BSG Beschluss vom 7.8.2014 - B 13 R 441/13 B - Juris) zu wahren, darf das Gericht deshalb seine Entscheidung nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt
stützen, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer
Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf - jedenfalls ohne Hinweis des Gerichts - nicht zu rechnen brauchte (vgl
BVerfGE 86, 133, 144 f; vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl 2014, §
62 RdNr 8a, 8b mwN).
Insoweit hat die Beschwerde aber nicht dargelegt, warum die anwaltlich vertretene Klägerin in keiner Weise damit zu rechnen
brauchte, dass das LSG im Wege der freien richterlichen Beweiswürdigung dem vom Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten
aussagepsychologischen Gutachten - entgegen der Einschätzung der im Berufungsverfahren gehörten psychiatrischen Sachverständigen
- folgen (vgl BSG Beschluss vom 26.5.2000 - B 2 U 90/00 B - Juris) und die Aussage der Klägerin als nicht hinreichend erlebnisbasiert ansehen würde. Die vom Beklagten gehörte aussagepsychologische
Sachverständige hatte vielfältige Bedenken gegen den Erlebnisbezug der Angaben der Klägerin geäußert. Der Beklagte hat darauf
maßgeblich seine Berufung gegen das stattgebende SG-Urteil gestützt. Zudem hat das LSG in seinem Urteil nachvollziehbar auf zahlreiche weitere Ungereimtheiten in den Angaben
der Klägerin hingewiesen.
Die Beschwerde möchte darüber hinaus eine Überraschungsentscheidung des LSG aus der schriftlichen Beweisfrage der Berichterstatterin
des LSG an die im Berufungsverfahren gehörte psychiatrische Sachverständige ableiten. Diese von ihr zitierte Frage zielte
auf den Kausalzusammenhang zwischen den Gesundheitsstörungen der Klägerin und den von ihr geltend gemachten Ereignissen ab.
Indes hat die Beschwerde nicht erklärt, warum sich das LSG mit der genannten offenen Formulierung der Berichterstatterin -
geltend gemachte Ereignisse - aus der maßgeblichen Perspektive eines gewissenhaften und kundigen Prozessbeteiligten nicht
eine abschließende Beweiswürdigung des gesamten Senats auch hinsichtlich der Frage offengehalten hatte, ob die Angaben der
Klägerin überhaupt als ausreichend erlebnisfundiert anzusehen waren.
Unabhängig davon ist zur Begründung der Rüge einer Gehörsverletzung nicht nur der Verstoß gegen diesen Grundsatz selbst zu
bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen ggf dadurch verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung
darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Dafür genügt der allgemein gehaltene Hinweis der Beschwerde auf eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt
nicht.
2. Ebenso wenig hat die Beschwerde die behauptete Abweichung des LSG von der Rechtsprechung des BSG hinreichend substantiiert dargelegt.
Eine Divergenz iS von §
160 Abs
2 Nr
2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zu Grunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen.
Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten
Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz entsprechend den gesetzlichen Anforderungen
darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in
der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein
sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat und nicht etwa lediglich
im Einzelfall fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl zB BSG Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN).
Die Beschwerde wirft dem LSG vor, für eine Glaubhaftmachung iS von § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) widerspruchsfreie Aussagen zu verlangen und eine überwiegende Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen zu lassen. Indes gibt
die Beschwerde nicht an, in welcher Passage seines Urteils das LSG einen solchen Rechtssatz aufgestellt haben soll. Sie räumt
vielmehr ein, das LSG-Urteil führe aus, der Beweismaßstab des § 15 KOVVfG sei anzuwenden. Das Gericht berücksichtige jedoch diesen Maßstab nicht und wende die Vorschrift falsch an. Das LSG mache
sich vielmehr einschränkungslos das aussagepsychologische Gutachten zu eigen. Daraus will die Beschwerde den Schluss ziehen,
das LSG habe einen unzutreffenden, nämlich zu strengen, Beweismaßstab angewendet. Wie indes diese und die weiteren Ausführungen
der Beschwerde erkennen lassen, wirft sie dem LSG damit gerade keine grundsätzliche Abweichung von der Rechtsprechung des
BSG, sondern eine falsche Rechtsanwendung im Einzelfall vor. Diese ist aber nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (vgl
BSG SozR 1500 § 160a Nr 7). Das gilt erst recht, soweit die Beschwerde ausdrücklich eine Verletzung des §
128 Abs
1 S 1
SGG rügt und sich dafür im Einzelnen mit der Beweiswürdigung des LSG auseinandersetzt. Diese ist gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG der Beurteilung durch das Revisionsgericht im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde vollständig entzogen; sie kann mit
der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden (Karmanski in Roos/Wahrendorf,
SGG, Stand Juli 2014, §
160 RdNr 58 mwN).
Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§
160a Abs
4 S 1 Halbs 2, §
169 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl §
160a Abs
4 S 2 Halbs 2
SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 Abs
1 SGG.