Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Verpflichtung der Beklagten zur Rücknahme eines Beitragsbescheids im Streit.
Der Kläger beschäftigte im Jahr 2016 einen bei der Beklagten gemeldeten Arbeitnehmer. Nachdem die Gesamtsozialversicherungsbeiträge
für die Monate April und Mai 2016 für diesen Arbeitnehmer nicht entrichtet worden waren, leitete die Beklagte Zwangsvollstreckungsmaßnahmen
ein. Im Rahmen der Zwangsvollstreckung überwies der Kläger den für den Arbeitnehmer für die Monate April und Mai 2016 geforderten
Betrag in Höhe von 1.526,76 € auf das Konto des beauftragten Gerichtsvollziehers.
Mit Bescheid vom 27.06.2017 machte Beklagte für den Monat April 2016 wegen desselben Versicherten erneut Gesamtsozialversicherungsbeiträge
von 743,18 €, Mahngebühren von 61,25 € und Säumniszuschläge von 102,50 € geltend. Sie forderte die Zahlung des Gesamtbetrags
von 906,93 € und drohte für den Fall der Nichtzahlung erneut Zwangsvollstreckungsmaßnahmen an.
Am 08.02.2019 hat der Kläger zunächst mit dem Begehren, die Zwangsvollstreckung aus dem Bescheid vom 27.06.2017 für unzulässig
zu erklären, Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben.
Zudem hat der Kläger bei der Beklagten die Rücknahme des Bescheids vom 27.06.2017 beantragt und zur Begründung ausgeführt,
er habe die Beitragsschuld bereits durch Zahlung an den Gerichtsvollzieher beglichen. Die Beklagte hat den Antrag mit Bescheid
vom 03.05.2019 abgelehnt und den Widerspruch hiergegen mit Widerspruchsbescheid vom 10.10.2019 zurückgewiesen. Bei Zahlungen
an den Gerichtsvollzieher trete Erfüllung erst ein, wenn der Betrag an den Gläubiger weitergeleitet worden sei.
Daraufhin hat der Kläger sein Klagebegehren geändert und die Aufhebung des Bescheides vom 03.05.2019 in der Gestalt des Widerspruchbescheids
vom 10.10.2019 sowie die Verpflichtung der Beklagten, den Bescheid vom 27.06.2017 aufzuheben, beantragt. Zur Begründung hat
er ausgeführt, entgegen der Auffassung der Beklagten sei mit der Zahlung an den Gerichtsvollzieher unter Verweis auf die Vollstreckung
durch die Beklagte die Erfüllung eingetreten.
Das SG hat mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 20.02.2020 den Bescheid der Beklagten vom 03.05.2019 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 10.10.2019 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Bescheid vom 27.06.2017 aufzuheben. Die Zahlung
an den Gerichtsvollzieher habe zwar nicht im Sinne des §
362 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) zur Erfüllung der Beitragsforderung geführt. Zum Eintritt der Erfüllung komme es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
(BGH) nur dann, wenn der Gerichtsvollzieher das empfangene Geld an den Gläubiger weiterleite (BGH, Beschluss vom 29.01.2009
- III ZR 115/08 - in juris). In entsprechender Anwendung des §
815 Abs.
3 Zivilprozessordnung (
ZPO) komme es jedoch im Falle einer - wie im vorliegenden Fall - erfolgten freiwilligen Zahlung an den Gerichtsvollzieher zum
Gefahrübergang auf den Gläubiger. Komme das Geld vor seiner Ablieferung abhanden, etwa wenn der Gerichtsvollzieher es nicht
den vollstreckungsrechtlichen Vorschriften entsprechend verwende, trage der Gläubiger die Gefahr. Gemäß §
243 Abs.
2 BGB erfolge die Konkretisierung der Leistungspflicht. Der Gläubiger könne trotz fehlender Erfüllungswirkung der Wegnahme durch
den Gerichtsvollzieher oder freiwilliger Zahlung an den Gerichtsvollzieher den Schuldner nicht nochmals in Anspruch nehmen.
Gegen das der Beklagten am 19.03.2020 zugestellte Urteil hat diese am 20.04.2020 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg
(LSG) eingelegt. Sie ist der Auffassung, dass während eingeleiteter Zwangsvollstreckungsmaßnahmen das selbstbestimmte Handeln
des Schuldners ausgeschlossen sei, da dieser lediglich die Wahl habe, die geforderte Zahlung sofort zu leisten oder die Vollstreckung
zu dulden. Der Schuldner besitze kein Tilgungsbestimmungsrecht. Eine freiwillige Zahlung liege nicht vor. Die Beklagte habe
am 04.08.2016 den Obergerichtsvollzieher mit der Zwangsvollstreckung gegen den Kläger beauftragt. Allerdings könne sie bis
zum heutigen Tage keinen Zahlungseingang über den hier streitgegenständlichen Betrag des Gerichtsvollziehers verzeichnen.
Laut Mitteilung des zuständigen Obergerichtsvollziehers sei der Betrag an eine andere Einzugsstelle angewiesen worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 20.02.2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er stützt sich auf die Entscheidungsgründe des SG.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster
und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die nach den §§
143,
144,
151 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne
mündliche Verhandlung entscheidet, ist statthaft und zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.
Gegenstand der Berufung ist der Bescheid der Beklagten vom 03.05.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2019,
mit dem der Antrag des Klägers auf Rücknahme des Beitragsbescheides vom 27.06.2017 für den Monat April 2016 abgelehnt worden
ist.
Das SG hat die Bescheide zu Recht aufgehoben und die Beklagte zu Recht verurteilt, den Beitragsbescheid vom 27.06.2017 gem. § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntens Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufzuheben. Der Senat sieht von einer weiteren eingehenden Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil er die Berufung
aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§
153 Abs.
2 SGG). Er schließt sich der Rechtsprechung des BGH an, wonach §
815 Abs.
3 ZPO auf Fälle analog anzuwenden ist, in denen der Schuldner eine freiwillige Zahlung an den Gerichtsvollzieher vorgenommen hat.
Es wäre widersinnig, wenn sich der Schuldner nach der in § 59 Verwaltungsvorschrift des Justizministeriums Baden-Württemberg
zur Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher (GVGA) ausdrücklich vorgesehenen Aufforderung, freiwillig zu zahlen, das Geld
wegnehmen lassen müsse, um nicht das Risiko des Abhandenkommens der geleisteten Beträge übernehmen zu müssen (BGH, Beschluss
vom 29.01.2009 - III ZR 115/08 -, in juris Rn. 11 ff.). Die von der Beklagten zitierten Entscheidungen des BGH und des Landgerichts (LG) Memmingen stehen
dieser Auslegung nicht entgegen. Diese Entscheidungen beziehen sich auf die (fehlende) Erfüllungswirkung einer freiwilligen
Zahlung an den Gerichtsvollzieher und nicht auf die Frage, wer die Gefahr des Abhandenkommens des an den Gerichtsvollzieher
gezahlten oder von diesem weggenommenen Geldes trägt. Darauf weist insbesondere das LG Memmingen explizit hin. Aus der analogen
Anwendung von §
815 Abs.
3 ZPO folgt, dass ein Schuldner, der freiwillig an den Gerichtsvollzieher zahlt, vom Gläubiger insoweit nicht mehr in Anspruch
genommen werden darf. So liegt der Fall hier. Der Kläger hat im Rahmen der Zwangsvollstreckung von Beiträgen bzgl. des Arbeitnehmers
für die Monate April und Mai 2016 den geforderten Betrag von 1.526,76 € freiwillig ohne zwangsweise Wegnahme auf das Konto
des beauftragten Gerichtsvollziehers überwiesen. Eine erneute Geltendmachung der Beiträge für denselben Arbeitnehmer für April
2016 durch die Beklagte scheidet demnach aus. Der diesbezügliche Bescheid, mit dem zu Unrecht nochmals Beiträge erhoben werden,
ist rechtswidrig und daher nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs.
2 Nr.
1 und
2 SGG).