Fiktiver Klagerücknahme im sozialgerichtlichen Verfahren; Wirksamkeit einer Betreibensaufforderung
Tatbestand:
Streitig ist die Erledigung des Verfahrens durch fiktive Klagerücknahme.
Die Kläger bezogen in der Zeit vom 01.11.2007 bis 30.09.2008 (Bescheid vom 10.12.2007 idF des Änderungsbescheides vom 18.03.2008
bzw Bescheid vom 18.03.2008) zusammen mit ihren beiden Kindern R. (geb. 1997) und Ö. (geb. 2000) Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II -Alg II- und Sozialgeld) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid
vom 10.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.01.2010 hob der Beklagte im Hinblick auf die Feststellung
eines Gewinns aus selbstständiger Tätigkeit die Leistungsbewilligung für den Kläger zu 2. für die Zeit vom 01.02.2008 bis
30.09.2008 auf und forderte erbrachte Leistungen (Alg II und Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung) in Höhe von insgesamt
4.368,55 EUR zurück. Ebenso hob der Beklagte mit weiterem Bescheid vom 10.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 21.01.2010 die Leistungsbewilligung an die Klägerin zu 1. und die beiden Kinder - vertreten durch die Klägerin zu 1. -
für die Zeit vom 01.02.2008 bis 30.09.2008 auf und forderte von diesen insgesamt 6.546,72 EUR zurück.
Die Kläger haben gegen die sie betreffenden Widerspruchsbescheide Klagen zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Sie haben jeweils angekündigt, eine detaillierte Aufstellung über die Einnahmen aus Ausgaben vorzulegen. Mit Schreiben
vom 09.04.2010 hat das SG die Kläger aufgefordert, bis 07.05.2010 die Klagebegründung, eine Einnahmen-Ausgaben-Aufstellung für jeden Monat von Januar
bis September 2008 vorzulegen und mit nochmaliger Fristsetzung bis 13.07.2010 den Kläger zu 2. darin erinnert. Schließlich
hat es erneut die Unterlagen mit Schreiben vom 15.09.2010 von den Klägern mit dem Hinweis angefordert, die Klage gelte als
zurückgenommen, wenn das Verfahren länger als drei Monate nicht betrieben werde, d.h. die geforderte Mitwirkungshandlung nicht
vorgenommen werde. Ein an beide Kläger adressiertes Schreiben wurde an sie ausweislich der Postzustellungsurkunde am 20.09.2010
in deren Briefkasten eingelegt.
Am 18.01.2011 hat das SG den Klägern jeweils mitgeteilt, die Klage gelte als zurückgenommen. Dagegen haben sich die Kläger mit gemeinsamen Schreiben
am 27.01.2011 gewandt. Aufgrund der Beschlagnahme sämtlicher Geschäftsunterlagen durch das Hauptzollamt sei es dem Steuerberater
nicht möglich, die geforderten Unterlagen beizubringen. Es werde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und gleichzeitig Fristverlängerung
um weitere drei Monate gebeten.
Nach Anhörung allein des Klägers zu 2. und des Beklagten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 18.03.2011 festgestellt, die am 22.02.2010 "erhobene Klage" sei zurückgenommen. Trotz zweimaliger
Erinnerung hätten die Kläger nach Klageerhebung keine weitere Reaktion gezeigt. Es sei deshalb nahegelegen, dass das Rechtsschutzinteresse
weggefallen sei. Bis zum Ablauf der dann gesetzten 3-Monatsfrist hätten die Kläger nicht reagiert, wofür kein Grund ersichtlich
sei. Zur Aufforderung, die Einnahmen und Ausgaben im Rahmen der selbstständigen Beschäftigung im streitgegenständlichen Zeitraum
nachzuweisen, hätten sie nichts vorgetragen. Ohne deren Mitwirkung könnten keine zielgerichteten Ermittlungen aufgenommen
werden.
Dagegen haben die Kläger Berufung beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 18.03.2011 aufzuheben und festzustellen, dass das Verfahren vor dem Sozialgericht
fortzusetzen ist.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und
zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§
143,
144,
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG-) und begründet. Die Feststellung des SG, das Verfahren sei durch eine fiktive Klagerücknahme beendet worden, ist unzutreffend; das ursprüngliche Verfahren S 17 AS 360/10 damit fortzusetzen.
Streitig ist vorliegend alleine, ob die vom SG angenommene fiktive Klagerücknahme das Verfahren S 17 AS 360/10 beendet hat. Infolge der Aufhebung des Urteils des SG in der Sache S 17 AS 196/11 ist das ursprüngliche Verfahren noch nicht abgeschlossen, vielmehr fortzusetzen und in der Sache zu entscheiden.
Die Voraussetzungen für die Annahme einer fiktiven Klagerücknahme nach §
102 Abs
2 Satz 1
SGG idF des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.03.2008 (BGBl
I S 444) sind vorliegend nicht gegeben. Danach gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung
des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Die formalen Anforderungen für eine solche Aufforderung liegen hier nicht
vor.
Damit eine Betreibensaufforderung Wirksamkeit entfalten kann, ist es notwendig, dass diese den Beteiligten zugestellt wird.
Damit wird die 3-Monatsfrist in Lauf gesetzt (vgl §
63 Abs
1 Satz 1
SGG). Die Zustellung erfolgt dabei gemäß §
63 Abs
2 Satz 1
SGG nach den Vorschriften der
Zivilprozessordnung (
ZPO). Ausweislich der Akten des SG wurde vorliegend ein einziges an beide Kläger adressiertes Schreiben mit Postzustellungsurkunde zu übergeben versucht, und
weil dies nicht möglich gewesen ist, am 20.09.2010 in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt. Das SG hätte aber sowohl dem Kläger zu 2. als auch der Klägerin zu 1. jeweils eine Betreibensaufforderung zustellen müssen (vgl
dazu BSG, Urteil vom 19.09.1958 - 9 RV 476/55 - BSGE 8, 149; Wolff-Dellen in: Breitkreuz/Fichte,
SGG, 1. Aufl, §
63 Rn 12; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl, §
63 Rn 4a). Sowohl die Klägerin zu 2. als auch der Kläger zu 1. haben eigenständig Klage gegen die jeweils an sie gerichteten
Bescheide des Beklagten erhoben. Auch wenn die Kläger ggf. Streitgenossen iS des Prozessrechts sind, so sind sie doch jedenfalls
keine notwendigen Streitgenossen, da das Rechtsverhältnis, die Aufhebung und Rückforderungen der Alg II-Bewilligung, nicht
derartig ist, dass es nur einheitlich festgestellt werden könnte (vgl dazu BSG aaO.). Bei den Leistungsansprüchen nach dem
SGB II handelt es sich um Individualansprüche der einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft (BSG, Urteil vom 07.11.2006
- B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217; Urteil vom 27.09.2011 - B 4 AS 155/10 R - juris).
Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass einer der Kläger zugleich der Bevollmächtigte des anderen gewesen ist, sodass
keine Ausnahme von der Notwendigkeit einer getrennten Zustellung gemacht werden kann (vgl dazu Keller aaO.). Weder ist eine
entsprechende Vollmacht dem SG von den Klägern vorgelegt worden, noch haben diese eine entsprechende Bevollmächtigung vorgetragen, §
73 Abs
6 SGG in der ab 01.01.2012 geltenden Fassung war nicht anwendbar. Vielmehr spricht gegen eine solche Annahme, dass die Kläger ursprünglich
beide mit jeweils eigenem Schreiben Klage gegen die sie betreffenden Bescheide erhoben haben. Insofern ist vorliegend für
die Unterstellung einer Bevollmächtigung kein Raum (vgl dazu weitergehend BSG aaO.).
Da insofern zwei getrennte Betreibensaufforderungen notwendig gewesen wären, kann der Zustellungsmangel auch nicht nach §
63 Abs
2 Satz 1
SGG iVm §
189 ZPO geheilt werden. Danach gilt ein Dokument in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung
dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist, wenn sich die formgerechte Zustellung
eines Dokuments nicht nachweisen oder das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist. Die
Heilung von Zustellungsmängeln setzt demnach voraus, dass es zumindest das jeweilige Dokument tatsächlich gibt, das dem Betroffenen
tatsächlich irgendwann zugegangen ist. Vorliegend gibt es aber gerade nur die Betreibensaufforderung, die an beide Kläger
gemeinsam gerichtet ist. Ein Dokument, das für den Kläger zu 2., und ein Dokument, das für die Klägerin zu 1. bestimmt war,
gibt es damit nicht. Im Hinblick auf die Adressierung des Schreibens und die erfolgte Zustellung durch Einlegen in den Briefkasten
ist auch die Zuordnung des Schreibens und die Zustellung an nur einen der Kläger nicht möglich, sodass insgesamt für beide
Kläger keine wirksame Zustellung gegeben ist.
Daneben kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass zur Entscheidung des Rechtsstreits durch Gerichtsbescheid
nur der Kläger zu 2. durch das SG angehört worden ist, und ob auch die Kinder als Kläger zu berücksichtigen gewesen wären, da die von der Klägerin zu 1. angefochtenen
Bescheide an diese zugleich als gesetzliche Vertreterin ihrer Kinder ergangen sind. Im Übrigen wird in Ziffer I. des Gerichtsbescheids
des SG vom 18.03.2011 auch nur festgehalten, dass "die am 22.02.2010 erhobene Klage" zurückgenommen sei. Da aber beide Kläger getrennt
am 22.02.2010 jeweils Klage gegen die sie betreffenden Bescheide erhoben haben, könnte der Tenor insofern auch unvollständig
sein. Es handelt sich auch nach einer Verbindung mehrerer Verfahren durch das SG noch um mehrere Klagen.
Zu Unrecht hat damit das SG am 18.01.2011 den Eintritt der Klagerücknahmefiktion angenommen, weshalb die entsprechende Feststellung im Gerichtsbescheid
vom 18.03.2011 unzutreffend ist, und dieser aufzuheben war. Zudem war festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit S 17 AS 360/10 von Amts wegen vor dem SG fortzuführen ist. Einer gesonderten Zurückweisung zur erneuten Entscheidung an das SG bedurfte es insoweit nicht, denn mit dem Berufungsverfahren beim LSG ist alleine das "Wiederaufnahmeverfahren" S 17 AS 196/11, das als selbstständiges Verfahren anzusehen ist, rechtshängig geworden ist (vgl dazu eingehend Urteil des Senats vom 12.07.2011
- L 11 AS 582/10 - juris).
Da der an die Klägerin zu 1. adressierte Bescheid vom 10.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.01.2010
zugleich an diese als gesetzliche Vertreterin der beiden Kinder erging, wird das SG auch zu prüfen haben, ob die Kinder ebenfalls als Kläger anzusehen sind, denn bei den Leistungsansprüchen nach dem SGB II
handelt es sich um Individualansprüche und Anspruchsinhaber ist das jeweilige Mitglied der Bedarfsgemeinschaft (BSG, Urteil
vom 07.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 1 - mwN; Urteil vom 23.11.2006 - B 11b AS 9/06 R - SozR 4-4300 § 428 Nr 3; Urteil vom 05.09.2007 - B 11b AS 15/06 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 5; Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand: 01/2012, § 7 Rn 48).
Der Gerichtsbescheid des SG war damit auf die Berufung der Kläger aufzuheben. Das Verfahren S 17 AS 360/10 ist vor dem SG fortzusetzen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §
193 SGG.
Gründe, die Berufung nach §
160 Abs
2 Nrn 1 und 2
SGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich.