Anspruch auf Arbeitslosengeld II; Auslegung des Klageantrags bei einer Bedarfsgemeinschaft; Übergangszeit
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Klägerin Anspruch auf höhere Leistungen wegen Vorliegens eines Mehrbedarfs bei Neurodermitis hat.
Die Klägerin und ihr 2007 geborener Sohn beziehen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II). U.a. mit Bescheid vom 11.10.2010 bewilligte der Beklagte an beide Leistungen für die Zeit vom 01.11.2010 bis 30.04.2011.
Am 11.11.2010 beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten einer Pflegecreme iHv 14,90 EUR für ihren an einer atopischen
Dermatitis leidenden Sohn. Der Beklagte lehnte dies mit an die Klägerin adressierten Bescheid vom 04.02.2011 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 10.03.2011 ab. Es fehle an einem atypischen Mehrbedarf, da es dem Sohn der Klägerin zumutbar
sei, den geltend gemachten Bedarf von 14,90 EUR durch Einsparmöglichkeiten aus dem ihm gewährten Sozialgeld iHv 251 EUR zu
decken.
Dagegen hat die Klägerin zum Sozialgericht Nürnberg (SG) Klage "von A." erhoben und beantragt, den Beklagten "zu verpflichten, die Kosten für die medizinische Behandlung der Neurodermitis"
ihres "Sohnes (EUBOS-Salbe, 125 ml monatlich für 14,90 EUR) zu übernehmen". Die Begründung der Ablehnung ihres Antrages teile
sie nicht. Der Bedarf sei laufend und so könne sie diesen nicht durch einmalige Umschichtung ihrer Mittel decken. Sie gehe
mit der Salbe äußerst sparsam um.
Mit Urteil vom 03.05.2011 hat das SG ohne Hinweis auf den Anspruchsberechtigten den ablehnenden Bescheid vom 04.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 10.03.2011 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, an die Klägerin zusätzliche Leistungen für die für den Sohn notwendige
Salbe iHv derzeit 14,90 EUR monatlich zu gewähren. Die Berufung hat das SG nicht zugelassen.
Dagegen hat der Beklagte die vom Bayer. Landessozialgericht zugelassene Berufung eingelegt. Ein atypischer, überdurchschnittlicher
Mehrbedarf liege nicht vor.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 03.05.2011 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 04.02.2011 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 10.03.2011 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§
143,
144,
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG-) und begründet. Die Entscheidung des SG ist aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 04.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.03.2011 abzuweisen.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung höherer Leistungen. Das SG hat den Beklagten zur Leistung an die Klägerin verurteilt, obwohl diese nicht Anspruchsinhaberin und damit aktivlegitimiert
ist.
Nach § 7 Abs 1 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erhalten Leistungen nach dem SGB II, Personen, die das 15. Lebensjahr
vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr 1), erwerbsfähig (Nr 2) und hilfebedürftig (Nr
3) sind sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr 4), u.a. auch von der Regelleistung
nicht umfasste Leistungen für einen Mehrbedarf (§ 21 Abs 6 SGB II). Die Klägerin erfüllt die allgemeinen Voraussetzungen für
eine Leistungsgewährung. Der Beklagte hat ihr insofern auch laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes bewilligt.
Ein Mehrbedarf wird nach § 21 Abs 6 Satz 1 SGB II idF des Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates und zur Übertragung
der fortzuführenden Aufgaben auf den Stabilitätsrat sowie zur Änderung weiterer Gesetze vom 27.05.2010 (BGBl I 671) bei Leistungsberechtigten
anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf
ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten
der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs
6 Satz 2 SGB II). Ein solcher Mehrbedarf besteht bei der Klägerin nicht. Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte und es wird
von der Klägerin auch nichts Entsprechendes vorgetragen. Nicht die Klägerin leidet an Neurodermitis, sondern ihr Sohn. Sie
selbst hat daher keinen Anspruch auf die Gewährung zusätzlicher Leistungen iHv 14,90 EUR monatlich.
Soweit ein solcher Mehrbedarf beim Sohn der Klägerin wegen dessen Neurodermitiserkrankung und dem Einsatz einer entsprechenden
Salbe bestehen könnte, ändert dies am fehlenden Anspruch der Klägerin nichts. Nach dem SGB II gibt es keinen Anspruch einer
Bedarfsgemeinschaft als solcher, die keine juristische Person darstellt, sondern Anspruchsinhaber ist jeweils das einzelne
Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, selbst wenn dies in den Bescheiden des Beklagten nicht deutlich zum Ausdruck kommt (BSG,
Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 1 mwN; Urteil vom 23.11.2006 - B 11b AS 9/06 R - SozR 4-4300 § 428 Nr 3; Urteil vom 05.09.2007 - B 11b AS 15/06 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 5; Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand: 01/2012, § 7 Rn 48). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut
des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II ("Leistungen erhalten Personen") und des Abs 2 Satz 1 ("Leistungen erhalten auch Personen") sowie
aus dem Umstand, dass es andernfalls systematisch der Regelung des § 9 Abs 2 Satz 3 SGB II über die Fiktion der Hilfebedürftigkeit
aller Personen in einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs 2 S 1 SGB II) nicht bedurft hätte (BSG, Urteil vom 07.11.2006, aaO.).
Das einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft kann also schon deshalb nicht mit einer eigenen Klage die Ansprüche aller Mitglieder
der Bedarfsgemeinschaft verfolgen. Auch besteht kein Anspruch auf höhere Leistungen für ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft,
die sich aus den Besonderheiten eines Anspruchs eines anderen Mitglieds ergeben.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nur eine Klage der Klägerin, nicht dagegen eine solche ihres Sohnes. Das SG - ebenso wie der Beklagte - hat dies nicht berücksichtigt und den Beklagten zur Leistung an die Klägerin verurteilt. Der
Klageantrag ist im Hinblick auf das sogenannte "Meistbegünstigungsprinzip" nach §
123 SGG unabhängig vom Wortlaut unter Berücksichtigung des wirklichen Willens auszulegen (vgl dazu BSG, Urteil vom 04.02.1999 - B 7 AL 120/97 R - SozR 3-6050 Art 71 Nr 11; Urteil vom 10.03.1994 - 7 RAr 38/93 - SozR 3-4100 § 104 Nr 11 mwN; BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - SozR 4-4200 §
22 Nr 1; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl, §
123 Rn 3). Vorliegend hat die Klägerin ausdrücklich im eigenen Namen Klage erhoben. Insofern hat sie das Schreiben an das SG vom 17.03.2011 als "Klage von A." eingeleitet. Ihren Sohn hat sie dabei nicht erwähnt. In dem von ihr in diesem Schreiben
gestellten Klageantrag, den sie so in der mündlichen Verhandlung vor dem SG wiederholt hat, fordert sie die Kostenübernahme der Behandlung ihres Sohnes. Sie beantragt aber gerade nicht, den Beklagten
zu einer Leistungsgewährung an ihren Sohn zu verurteilen. Dies wäre notwendig gewesen, um dem Sohn, der gegebenenfalls einen
Mehrbedarf hat, weitergehende Leistungen zuzusprechen. Auch aus der Klagebegründung kann nicht geschlossen werden, dass es
der Klägerin um eine Leistungsgewährung an ihren Sohn geht. Dort spricht sie insofern von der Ablehnung "ihres Antrages" durch
den Beklagten und dass "sie" den laufenden Bedarf nicht durch einmalige Umschichtung "ihrer Mittel" decken könne. "Sie" gehe
mit der Salbe äußerst sparsam um. Daraus folgt, dass die Klägerin insofern davon ausgegangen ist, sie könne die höheren Leistungen,
auch wenn sie Folge eines möglichen Mehrbedarfes ihres Sohnes sind, selbst geltend machen und beanspruchen. Eine (nachträgliche)
Auslegung, die Klägerin begehre als gesetzliche Vertreterin für ihren Sohn eine Verurteilung des Beklagten, die zusätzlichen
Leistungen an ihren Sohn zu erbringen, ist daher nicht möglich.
Soweit das BSG (vgl nur BSG, Urteile vom 07.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 2 - und B 7b AS 8/06 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 1; Urteil vom 29.03.2007 - B 7b AS 4/06 R - juris) davon ausgeht, dass die Auslegungsgrundsätze nicht nur für die inhaltliche Ausgestaltung eines Klageantrags einer
Person, sondern vielmehr im Hinblick auf die rechtlichen Besonderheiten einer Bedarfsgemeinschaft iS des SGB II und die daraus
resultierenden tatsächlichen Ungereimtheiten des Verwaltungs- und prozessualen Verfahrens auch für die Auslegung herangezogen
werden müssen, welche Personen überhaupt Klage erhoben haben, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. In den genannten Entscheidungen
verweist das BSG ausdrücklich darauf, dass dies nur für eine Übergangszeit bis 30.06.2007 (maßgeblich: Antragszeitpunkt) gilt.
Diese Übergangszeit war aber bei Klageerhebung durch die Klägerin am 22.03.2011 beim SG abgelaufen. Eine Auslegung der Klage in eine solche des Sohnes ist folglich nicht möglich. Eine analoge Anwendung der Vertretungsregelung
in § 38 Satz 1 SGB II idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl I 2954),
wonach eine Vermutung dahingehend möglich ist, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige bevollmächtigt ist, Leistungen auch
für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen, ist für das sozialgerichtliche
Verfahren nicht möglich (vgl BSG, Urteil vom 02.07.2009 - B 14 AS 54/08 R - BSGE 104, 48; Link in: Eicher/Spell-brink, SGB II, 2. Aufl, §
38 Rn 24). Gleiches gilt für §
73 Abs
2 Satz 2 Nr
2 SGG, wonach volljährige Familienangehörige als Bevollmächtigte vor dem Sozialgericht und Landessozialgericht vertretungsbefugt
sind. Dies betrifft nur die gewillkürte Stellvertretung ("Bevollmächtigung") und nicht Fälle der gesetzlichen Vertretung (vgl
BSG aaO. Rn 23; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl, §
73 Rn 4).
Ergänzend anzumerken ist jedoch, dass der Beklagte zu prüfen haben wird, ob nicht der Antrag der Klägerin vom 11.11.2010 auf
die Übernahme der zusätzlichen Kosten für die Pflegecreme als Antrag des Sohnes der Klägerin auszulegen ist, den die Klägerin
für ihren Sohn gestellt haben könnte. Bislang hat der Beklagte mit seinem Bescheid vom 04.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 10.03.2011 nur über einen Antrag der Klägerin entschieden. Der Bescheid war allein an die Klägerin nicht aber an sie als
gesetzliche Vertreterin ihres Sohnes adressiert.
Die Berufung hat damit Erfolg. Auf die Berufung des Beklagten war die Entscheidung des SG aufzuheben und die Klage der Klägerin abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß §
160 Absatz
2 Nr
1 und
2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.