Pflicht zur Tragung von Gutachtenkosten
Unterlassen erkennbarer und notwendiger Ermittlungen im Verwaltungsverfahren
Gründe
I.
Streitig ist im Beschwerdeverfahren die Pflicht zur Tragung von Gutachtenskosten.
Im Ausgangsverfahren bei dem Sozialgericht Braunschweig (S 42 VE 21/17) hatte der 1993 geborene Kläger die Feststellung von
Schädigungsfolgen sowie die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem
Opferentschädigungsgesetz (
OEG) geltend gemacht. Auf seinen Antrag vom Mai 2016 wegen eines Vorfalls (sexueller Missbrauch) im Januar 2008 hatte das Land
Niedersachsen mit Bescheid vom 10. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2017 zwar festgestellt,
er sei Opfer eines rechtswidrigen, tätlichen Angriffs geworden. Jedoch seien aufgrund dieses Vorfalls keine Schädigungsfolgen
festzustellen und daher bestehe auch kein Anspruch auf Versorgung. Grundlage dieser Entscheidung war ein im Verwaltungsverfahren
erstelltes Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. D. vom 15. Dezember 2016, dem sich der medizinische Dienst des Landes
(Medizinaldirektorin Dr. E.) in der Stellungnahme vom 3. Januar 2017 angeschlossen hatte. Dabei hatte der Kläger bereits im
Widerspruchsverfahren das Gutachten von Dr. D. u.a. unter Hinweis auf die Diagnosekriterien des DSM V kritisiert. Hierauf
war das Land indessen im Widerspruchsverfahren nicht näher eingegangen.
Im sodann eingeleiteten Klageverfahren hat der Kläger seine Kritik an dem vom Land Niedersachsen seiner Entscheidung zu Grunde
gelegten Gutachten von Dr. D. wiederholt. Hierauf hat das Land Niedersachsen erneut seinen medizinischen Dienst beteiligt.
Der für den medizinischen Dienst des Landes Niedersachsen tätige Psychiater Dr. F. führte in seiner Stellungnahme vom 5. März
2018 aus, das Gutachten von Dr. D. weise erhebliche Mängel auf. Dieser sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der an dem Kläger
verübte sexuelle Missbrauch nicht geeignet gewesen sei, zu psychoreaktiven Störungen zu führen und habe auch die vorliegende
Funktionsbeeinträchtigung auf psychiatrischem Fachgebiet widersprüchlich bewertet.
Daraufhin hat sich das Sozialgericht (SG) Braunschweig von der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. G. ein Sachverständigengutachten vom 11. Oktober 2018
erstatten lassen. Diese ist nach sorgfältiger Auswertung der in der Akte befindlichen medizinischen Befunde und zweimaliger
Exploration des Klägers im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, bei dem Kläger lägen neben anderen Funktionsstörungen auf
psychiatrischem Fachgebiet auch eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Somatisierungsstörung vor, die auf das
im Verfahren angeschuldigte Geschehen zurückzuführen seien. Diese schädigungsbedingten Funktionsstörungen müssten mit einem
GdS von 30 bewertet werden. Daneben lägen noch andere psychiatrische Funktionsbeeinträchtigungen vor, die aber nicht schädigungsbedingt
seien.
Daraufhin gab das Land Niedersachsen – aufgrund einer weiteren Stellungnahme seines medizinischen Dienstes - mit Schriftsatz
vom 6. Dezember 2018 ein Teilanerkenntnis des Inhalts ab, das ab Dezember 2015 eine „psychoreaktive Störung“ als Schädigungsfolge
anerkannt werde, die mit einem GdS von 10 bewertet werde.
Dazu hat Dr. G. in einer vom SG angeforderten ergänzenden Stellungnahme vom 12. Februar 2019 unter Auswertung der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur
detailliert Stellung genommen.
Das SG hat das beklagte Land mit Urteil vom 10. September 2019 unter Einbeziehung des abgegebenen Teilanerkenntnisses verurteilt,
bei dem Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Somatisierungsstörung als Schädigungsfolge festzustellen,
diese mit einem Grad der Schädigungsfolgen von 30 zu bewerten sowie dem Kläger entsprechende Versorgungsleistungen seit Dezember
2015 zu gewähren. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen auf das Gutachten von Dr. G. nebst der ergänzenden Stellungnahme
gestützt.
Mit hier angefochtenem Beschluss vom 24. September 2019 hat das SG – nach vorheriger Anhörung des beklagten Landes – diesem auferlegt die Kosten für das Gutachten von Dr. G. nebst der ergänzenden
Stellungnahme zu tragen. Zur Begründung hat es maßgeblich darauf hingewiesen, der Kläger habe mit denselben Argumenten Klage
erhoben, die er bereits im Widerspruchsverfahren vorgetragen habe. Allein diese Argumente hätten dazu geführt, dass das beklagte
Land in der Gestalt von Dr. F. von der Insuffizienz des Gutachtens von Dr. D. ausgegangen sei. Daraus ergebe sich ohne weiteres,
dass dieser Umstand bereits im Verwaltungsverfahren erkennbar gewesen sei. Wenn nun von Seiten des Landes argumentiert werde,
dies habe im Verwaltungsverfahren nicht erkannt werden können, so sei dies widersprüchlich.
Gegen den am 27. September 2019 zugestellten Beschluss ist am 17. Oktober 2019 Beschwerde eingelegt worden. Zu deren Begründung
macht das Land Niedersachsen nach wie vor geltend, während des Verwaltungsverfahrens hätten die Mängel in der Sachverhaltsermittlung
nicht erkannt werden können. Diese seien vielmehr erst durch die Stellungnahme des medizinischen Dienstes vom 5. März 2018
(Dr. F.) zu Tage getreten.
II.
Die Beschwerde ist zulässig.
Der Zulässigkeit der Beschwerde steht nicht das Verbot eines In-sich-Prozesses entgegen. Zwar ist im Beschwerdeverfahren auf
beiden Seiten das Land Niedersachsen beteiligt. Dies steht der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes aber nicht entgegen,
weil keine verwaltungsinterne Möglichkeit besteht, den Streit beizulegen. Das wäre insbesondere der Fall, wenn die beiden
Beteiligten eine gemeinsame übergeordnete Behörde hätten, deren Weisung sie zur Klärung der umstrittenen Frage einholen könnten
(vgl. dazu Senatsbeschlüsse vom 22. März 2018 – L 10 SB 126/17; 8. Januar 2018 – L 10 SB 114/17 B; sowie Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum
SGG, 13. Auflage, §
54 Rn 15). Daran fehlt es jedoch.
Der Beschwerde fehlt auch nicht das Rechtsschutzinteresse deswegen, weil das Beschwerde führende Land etwa ungeachtet des
Bestandes des angefochtenen Beschlusses nicht zu Zahlungen herangezogen werden könnte. Ein solches Ergebnis folgt nicht aus
der unmittelbaren Anwendung des § 2 Abs. 1 Satz 1 GKG. Die Voraussetzungen des §
197a Abs.
1 Satz 1
SGG für die Anwendung des Gerichtskostengesetzes lagen bei dem Hauptsacherechtsstreit nicht vor, weil der dortige Kläger in seiner Eigenschaft als Leistungsempfänger an dem
Verfahren beteiligt war, §
183 Satz 1 und
3 SGG. In solchen Verfahren gilt § 2 GKG gemäß §
184 Abs.
3 SGG nur im Hinblick auf die von den anderen Verfahrensbeteiligten etwa zu zahlenden Pauschgebühren entsprechend. Um solche handelt
es sich bei den hier streitigen Kosten nach §
192 Abs.
4 SGG nicht.
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Das Sozialgericht hat die Grenzen des ihm bei der Auferlegung von Kosten der Ermittlungen in Anwendung von §
192 Abs.
4 SGG eingeräumten Ermessens nicht überschritten.
Gemäß §
192 Abs.
4 SGG kann das Gericht der Behörde die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige
Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Die 2008 in das Gesetz
eingefügte Regelung steuert der Praxis einzelner Leistungsträger entgegen, selbst – etwa aus Kostengründen - Ermittlungen
zu unterlassen, um sie dann im sozialgerichtlichen Verfahren auf Kosten des „Justizhaushalts“ nachholen zu lassen (Jungeblut
in BeckOK Sozialrecht, §
192 SGG Rn 26a; Stotz in Schlegel/Voelzke jurisPK
SGG §
192 Rn 86 unter ausführlichem Hinweis auf die Gesetzesmaterialien; zu systematischen Ermittlungsdefiziten des Niedersächsischen
Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie im Schwerbehindertenrecht Kröner/Westermeyer, SGb 2020, 204 ff).
Dem Gericht ist mit dieser Vorschrift ein Ermessen eröffnet (Krauß in Roos/Wahrendorf,
SGG, §
192 Rn 71; Stotz in Schlegel/Voelzke jurisPK
SGG §
192 Rn 97). Solche erstinstanzlichen Ermessensentscheidungen sind im Beschwerdeverfahren nur auf Ermessensfehler zu überprüfen
(vergleiche neben den bereits zitierten Senatsbeschlüssen den Senatsbeschluss vom 26. April 2017 AZ: L 10 SF 1/17 B SB; LSG Niedersachsen-Bremen, B. v. 26. Mai 2014 – L 11 AS 1343/13 B ER = NdsRpfl 2015, 140 f; LSG Niedersachsen-Bremen, B. v. 25. Juni 2002 – L 9 B 144/02 SB; BeckOK SozR/Jungeblut §
176 SGG Rn. 4-5 ausführlich mit zahlreichen Nachweisen zum Streitstand; Krauß in Beck-online Großkommentar, Hrsg: Roos/Wahrendorf/Müller,
§
192 Rn 84; anders ohne zureichende Begründung Schmidt in Meyer-Ladewig,
SGG, 13. Aufl. §
176 Rn 4 im Gegensatz zur Vorauflage). Ergeht eine erstinstanzliche Entscheidung ermessensfehlerfrei, so bleibt sie auch rechtmäßig,
wenn das Beschwerdegericht im Ergebnis eine andere (möglicherweise ebenfalls rechtsfehlerfreie) Ermessensentscheidung für
richtig hielte. Sinn des Beschwerdeverfahrens ist es nicht, dem Beschwerdeführenden die Möglichkeit zu geben, zu einer anderen
Ermessensentscheidung zu gelangen, sondern allein eine Rechtmäßigkeitskontrolle (Jungeblut a.a.O. Rn 5). Der Gesetzgeber hat
insoweit an die traditionelle Dogmatik der Ermessenskontrolle angeschlossen, wie sie auch in §
54 Abs.
2 Satz 2
SGG kodifiziert ist. Dies verkennt die Gegenmeinung (vgl. etwa Stotz in jurisPK-
SGG §
192 Rn 106.1 m.w.N.), wenn sie sich auf §
157 SGG bezieht.
Sachliche Voraussetzung für die Ermessensausübung des Sozialgerichts ist zunächst, dass der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren
erkennbare und notwendige Ermittlungen unterlassen hat. Erkennbar in diesem Sinne sind Ermittlungen, wenn sich der Behörde
ihre Notwendigkeit ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer Auslegung erschließen musste (Krauß a.a.O.,
SGG, §
192 Rn 78). Notwendig in dem vorgenannten Sinn sind solche Ermittlungen, deren Kenntnis für die anstehende Sachentscheidung auf
der Grundlage des geltenden Rechtes und der höchstrichterlichen Rechtsprechung unabdingbar sind (vgl. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
a.a.O., § 192 RdNr. 18b).
Im hier zugrundeliegenden Verfahren wäre es schon im Verwaltungsverfahren erkennbar gewesen, dass weitere Ermittlungen notwendig
waren. Das SG weist in seinem angefochtenen Beschluss vom 24. September 2019 zunächst zutreffend und nicht ergänzungsbedürftig darauf hin,
dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers bereits im Widerspruchsverfahren mit seinem Schriftsatz vom 11. April 2017 die
wesentliche Kritik an dem Gutachten von Dr. D. vorgetragen hat, die dann auch im gerichtlichen Verfahren vom medizinischen
Dienst des Landes (Dr. F.) geäußert wurde. Dies gilt insbesondere für die diagnostischen Kriterien für die Feststellung einer
Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und die Verkennung dessen, dass es für die Möglichkeit der Auslösung von Schäden
durch sexuellen Missbrauch nicht auf die Anwendung von Gewalt ankommt (vgl. S. 70 des Gutachtens von Dr. D.), was ja auch
der bekannten höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht (vgl. etwa BSG Urteil vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 7/93 juris Rn 10 ff). Dieses Problem hätte dem Beschwerde führenden Land aber bereits bei der versorgungsärztlichen Überprüfung
durch Medizinaldirektorin Dr. E. am 3. Januar 2017 auffallen müssen. Hierbei ist die Häufigkeit dieser Diagnose und ähnlicher
Fragestellungen in versorgungsrechtlichen Verfahren insbesondere im Opferentschädigungsrecht zu berücksichtigen. Dem Verwaltungsvorgang
des Landes Niedersachsen ist aber auch im Widerspruchsverfahren nicht zu entnehmen, dass auf die dezidierte Kritik des Gutachtens
erneut der medizinische Dienst beteiligt wurde oder etwa Dr. D. oder Dr. E. um eine Stellungnahme zu den Einwänden des Prozessbevollmächtigten
gebeten wurde.
Dem kann das Beschwerde führende Land nicht entgegenhalten, selbst der Prozessbevollmächtigte habe das Gutachten von Dr. D.
nicht für vollkommen unbrauchbar gehalten, wie dies mehrfach vorgetragen worden ist. Immerhin hatte er ja aber bereits auf
entscheidende – später von Dr. F. geteilte – Gesichtspunkte hingewiesen und auf die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen aufmerksam
gemacht.
Das Beschwerde führende Land kann auch nicht geltend machen, es sei ihm nicht möglich gewesen, Mängel des Gutachtens von Dr.
D. bereits im Verwaltungsverfahren zu erkennen, weil erst Dr. F. im Gerichtsverfahren darauf aufmerksam gemacht habe. Insoweit
ist darauf hinzuweisen, dass auch Dr. F. dem medizinischen Dienst zuzurechnen ist – es dem medizinischen Dienst im Grundsatz
also offensichtlich möglich war, die möglichen Schwächen des Gutachtens zu erkennen. Eine künstliche Trennung zwischen dem
medizinischen Dienst einerseits und der Verwaltung andererseits kann nicht zugrunde gelegt werden. Vielmehr rechnet der medizinische
Dienst zu eben jener Verwaltung, die nach § 20 SGB X (vgl. insbesondere Abs. 2 der Vorschrift) verpflichtet ist, den Sachverhalt unparteiisch aufzuklären.
Mithin waren die tatbestandlichen Voraussetzungen des §
192 Abs.
4 SGG gegeben und das SG war berechtigt, das ihm eingeräumte Ermessen auszuüben. Anhaltspunkte für Ermessensfehler sind weder vom Beschwerdeführer
vorgetragen noch für den Senat ersichtlich. Die Entscheidung des SG war rechtmäßig.
Da es sich bei dem vorliegenden Beschwerdeverfahren nach der gesetzlichen Konzeption um ein von dem Hauptsacheverfahren verschiedenes
Nebenverfahren handelt, beruht die Kostenentscheidung auf der Anwendung von §
197a Abs.
1 SGG i.Vm. §§
161 Abs.
2 VwGO, 2 Abs. 1 Satz 1 GKG, und 154 Abs.
2,
162 Abs.
2 VwGO (vgl. Senatsbeschluss v. 22. März 2018 – L 10 SB 126/17; Krauß a.a.O. Rn 84).
Der Beschluss ist in Anwendung von §
177 SGG nicht anfechtbar.