Übernahme von Kosten der Unterkunft für die Zeit einer Inhaftierung
Besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten
Zur Abwendung eines Wohnungsverlustes notwendige Gerichtskosten und Anwaltskosten
Tatbestand
Im Streit ist die Übernahme von Kosten der Unterkunft für die Zeit der Inhaftierung des Klägers (vom 29.9.2014 bis zum 30.4.2015)
und die Abwendung des Wohnungsverlusts (Gerichts- und Anwaltskosten einer Räumungsklage) in einer Gesamthöhe von etwa 4.800,00
€.
Der 1978 geborene Kläger lebt in der im Kreisgebiet des Beklagten gelegenen Stadt Stade und bewohnt dort eine 2005 von ihm
bezogene Zweizimmerwohnung, für die er eine Grundmiete von 225,00 € sowie monatliche Vorauszahlungen für Betriebs- und Heizkosten
von 65,00 € bzw. 40,00 € zu entrichten hat. Wegen einer instabilen Persönlichkeitsstörung mit einer deutlich geminderten Frustrationstoleranz
und einer Störung der Affektregulation und - daraus resultierend - des Sozialverhaltens bei chronischer Alkoholabhängigkeit
ist für ihn seit 2005 eine umfassende Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt eingerichtet, u.a. für die Aufgabenkreise Sorge
für die Gesundheit, Vermögenssorge und Wohnungsangelegenheiten. Aufgrund einer Ersatzfreiheits- und einer Freiheitsstrafe
von insgesamt gut sieben Monaten mit Haftantritt zum 29.9.2014 beantragte er beim Beklagten am 24.9.2014 die Übernahme seiner
Unterkunftskosten während der Haft, hilfsweise die Kosten für die Räumung der Wohnung und die Einlagerung seiner Möbel. Zu
dieser Zeit bezog der einkommen- und vermögenslose Kläger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II, bewilligt für die Zeit bis September 2014 durch Bescheide des Jobcenters Stade vom 10.4.2014 und 6.11.2014. Der Beklagte
lehnte eine Kostenübernahme mit der Begründung ab, die voraussichtliche Haftdauer überschreite eine Dauer von sechs Monaten
und ein drohender Wohnungsverlust rechtfertige - für sich genommen - eine Hilfe wegen sozialer Schwierigkeiten nicht. Der
Betreuer des Klägers könne sich entsprechend seiner Aufgabenkreise um die Anmietung einer neuen Wohnung für die Zeit nach
der Haftentlassung kümmern (Bescheid des Beklagten vom 23.10.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.4.2015).
Nach Klageerhebung beim Sozialgericht (SG) Stade hat auch das in erster Instanz beigeladene Jobcenter eine Hilfe - ein Darlehen für die rückständigen Unterkunftskosten
- abgelehnt (Bescheid vom 18.6.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.8.2015), dem Kläger aber im nachfolgenden
Klageverfahren beim SG (- S 39 AS 490/15 -), nachdem er eine Räumung seiner Wohnung in dem Prozess mit seinem Vermieter beim Amtsgericht (AG) Stade (- 66 C 550/15 -) nur durch die Abgabe eines Anerkenntnisses abwenden konnte, ein Darlehen für die rückständigen Mietkosten von 2.825,00
€ gewährt (gerichtlicher Vergleich vom 31.5.2016; Ausführungsbescheid vom 1.6.2018). Das Darlehen wird bis zum rechtskräftigen
Abschluss des vorliegenden Verfahrens gestundet. Der in dem Verfahren gegen das Jobcenter als Zeuge vernommene Vermieter des
Klägers bezifferte die gegen den Kläger bestehende Gesamtforderung (einschließlich Gerichts- und Anwaltskosten) auf 4.795,34
€. In dem vorliegenden Verfahren hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der Ablehnungsentscheidung des Beklagten verurteilt, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Gerichts Leistungen zur Erhaltung seiner Wohnung zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe auch unter
Berücksichtigung der Betreuerbestellung wegen der drohenden Obdachlosigkeit nach Haftentlassung einen Anspruch auf Leistungen
zur Überbrückung besonderer Lebensverhältnisse nach § 67 Satz 1 SGB XII, die aber ihrer Art nach im Ermessen des Beklagten stünden (§ 68 Abs. 1 i.V.m. § 69 SGB XII i.V.m. § 4 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zu § 69 SGB XII). Das diesem zustehende Ermessen sei aber gemäß § 36 Abs. 1 Satz 2 SGB XII insoweit reduziert, dass der Kläger zur Abwendung von Wohnungslosigkeit jedenfalls die Übernahme der Mietschulden in Höhe
von 2.825,00 € als Zuschuss verlangen könne. Über die Übernahme der weiteren Schulden, die aufgrund des Räumungsprozesses
entstanden seien, - als Beihilfe oder als Darlehen - habe der Beklagte nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB XII noch eine Ermessensentscheidung zu treffen (Urteil vom 24.1.2018, dem Beklagten zugestellt am 8.2.2018).
Hiergegen richtet sich die am 5.3.2018 eingelegte Berufung des Beklagten. Unter Vertiefung seines Vorbringens in erster Instanz
macht er geltend, der vom Kläger geltend gemachte Wohnungsverlust nach Haftentlassung gehöre zwar grundsätzlich zu den besonderen
Lebensverhältnissen mit sozialen Schwierigkeiten i.S. des § 67 SGB XII. Hinzutreten müsse aber, dass bei der Haftentlassung der Eintritt sozialer Schwierigkeiten nach den Umständen des Einzelfalles,
insbesondere abhängig von der Lage des örtlichen Wohnungsmarktes und den persönlichen Verhältnissen, unmittelbar drohe. Zum
Zeitpunkt des Haftantritts habe es aber keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass es dem Kläger mit Unterstützung seines Betreuers
nicht möglich sein würde, nach der Haftentlassung eine andere Wohnung zu beziehen, oder ein Wohnungswechsel zu (weiteren)
sozialen Schwierigkeiten für den Kläger geführt hätte. Ein Verbleib in der bisherigen Wohnung sei auch nicht aus gesundheitlichen
Gründen oder wegen seiner Persönlichkeitsstruktur notwendig gewesen. Zudem sei es auch nicht belegt, dass der Kläger drohende
Schwierigkeiten nicht „aus eigener Kraft“ i.S. des § 67 Satz 1 SGB XII hätte überwinden können. Insoweit sei nicht nur auf ihn selbst abzustellen, sondern auch auf seinen gerichtlich bestellten
Betreuer. Mit dessen Hilfe hätte der alleinstehende Kläger für die Zeit ab Haftentlassung ohne Weiteres eine neue Wohnung
anmieten und beziehen können. Außerdem hätte er einen Teil der Gesamtstrafe - die Ersatzfreiheitsstrafe von 100 Tagen - durch
freie Arbeit abwenden und damit die während der Haft anfallenden Unterkunftskosten mindern können.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des SG Stade vom 24.1.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung des SG für zutreffend.
Der Beigeladene stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (Schriftsätze
vom 27. und 28.5. sowie vom 8.6.2021)
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Prozessakte des beim
SG abgeschlossenen Parallelverfahrens (- S 39 AS 490/15 -) sowie der Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der ebenfalls beigezogenen Auszüge der Akte des Betreuungsgerichts (AG
Stade - NZS 41 XVII 257/00 -) Bezug genommen. Diese Akten haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung
gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§
124 Abs.
2 SGG).
Die form- und firstgerecht (§
153 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere ohne Zulassung statthafte (§§
143,
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG) Berufung ist unbegründet. Das SG hat den Beklagten zwar zu Unrecht (nur) auf Neubescheidung verurteilt; allerdings ist der Beklagte durch diese Entscheidung
nicht beschwert.
Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs.
1 und 4, §
56 SGG) ist der Bescheid des Beklagten vom 23.10.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.4.2015 (§
95 SGG), durch den der Antrag des Klägers vom 24.9.2014 auf Übernahme seiner Unterkunftskosten während der Haft, hilfsweise der
Einlagerungskosten für seine Möbel, insgesamt abgelehnt worden ist. Entgegen der Auffassung des SG ist hier - neben der Anfechtungsklage - nicht eine Verpflichtungsklage (§
54 Abs.
1 SGG) statthaft, sondern eine kombinierte (unechte) Leistungsklage (§
54 Abs.
4 SGG), weil sich der Anspruch des Klägers allein auf eine Geldleistung (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII) bezieht, die nicht im Ermessen des Beklagten liegt.
Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der Unterkunft für die Zeit seiner Inhaftierung
(vom 29.9.2014 bis zum 30.4.2015) und die Abwendung eines Wohnungsverlusts (Gerichts- und Anwaltskosten einer Räumungsklage)
auf Leistungen nach §§ 67, 68 SGB XII (als Pflichtleistung).
Der beklagte Landkreis ist nach der bis zum 31.12.2019 geltenden Rechtslage als örtlicher Träger der Sozialhilfe (§ 3 Abs. 1 und 2 Satz 1 SGB XII) gemäß § 97 Abs. 1 und 2 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 6 Abs. 1 des Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des SGB XII (Nds. AG SGB XII vom 16.12.2004, GVBl. S. 644, außer Kraft am 1.1.2020 durch Gesetz vom 24.10.2019, GVBl. S. 300; VO zu § 69 SGB XII) sachlich für die Leistung zuständig gewesen, weil eine Zuständigkeit des Landes Niedersachsen als überörtlicher Träger nicht
nach § 6 Abs. 2 Nr. 4 Nds. AG SGB XII gegeben ist; die Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII betreffen hier weder stationäre oder teilstationäre Leistungen noch solche, die dazu bestimmt sind, Nichtsesshaften bei der
Überwindung ihrer besonderen sozialen Schwierigkeiten zu helfen. Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich aus
§ 98 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 98 Abs. 4 SGB XII, weil sich der Kläger in seinem Kreisgebiet vor dem Haftantritt gewöhnlich aufgehalten hat. Die Zuständigkeit des Beklagten
ergibt sich nach neuem Recht (seit 1.1.2020) daraus, dass er als örtlicher Träger der Sozialhilfe von dem an sich sachlich
zuständigen Land Niedersachsen (§ 97 Abs. 1 und 2 Satz 1 SGB XII i.V.m. §
3 Abs.
1 Satz 1 des Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des
SGB IX und SGB XII - Nds. AG SGB IX/XII - vom 24.10.2019, Nds. GVBl. S. 300) herangezogen wird und insoweit im eigenen Namen entscheidet (vgl.
§ 4 Abs. 2 Nr. 1, § 6 Abs. 4 Nds. AG SGB IX/XII; sog. Wahrnehmungszuständigkeit).
Nach § 67 Satz 1 SGB XII haben Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, einen Anspruch auf Leistungen
zur Überwindung dieser Schwierigkeiten, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sind.
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 12.12.2013 - B 8 SO 24/12 R - juris), der sich der Senat angeschlossen hat (vgl. etwa Beschlüsse vom 18.12.2019
- L 8 SO 268/19 B - und 19.9.2016 - L 8 SO 237/16 B ER -), bezieht sich das Tatbestandsmerkmal der "besonderen Lebensverhältnisse"
auf die soziale Lage des Betroffenen, die durch eine besondere Mangelsituation - etwa an Wohnraum - gekennzeichnet sein muss
und wird in § 1 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten
(BGBl. I 2001, 179, zuletzt geändert durch Gesetz vom 27.12.2003, BGBl. I 3022) durch eine abstrakte Beschreibung verschiedener typischer Situationen
konkretisiert, in denen aus Sicht des Verordnungsgebers von solchen besonderen Lebensverhältnissen ausgegangen werden kann.
Demgegenüber geht es bei den "sozialen Schwierigkeiten" nicht in erster Linie um wirtschaftliche Schwierigkeiten, sondern
um die Beeinträchtigung der Interaktion mit dem sozialen Umfeld und damit um die Einschränkung der Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft. Es muss sich insoweit um soziale Schwierigkeiten handeln, die typischerweise mit besonderen Lebensverhältnissen
einhergehen und die über solche sozialen Schwierigkeiten hinausgehen, die bereits für die Inanspruchnahme anderer Sozialhilfeleistungen
nach dem SGB XII vorausgesetzt werden (zum Vorstehenden BSG, a.a.O., Rn. 16).
Danach gehört der drohende Wohnungsverlust nach einer Haftentlassung im Grundsatz zu den "besonderen Lebensumständen mit sozialen
Schwierigkeiten" i.S. des § 67 SGB XII, weil der Verlust der Wohnung ähnlich dem Verlust des Arbeitsplatzes für einen Haftentlassenen deutlich schwerer zu kompensieren
ist als für andere Bürger, selbst dann, wenn der aus der Haft Entlassene nicht auf existenzsichernde Leistungen angewiesen
ist. Auch wenn die von § 67 SGB XII erfasste Bedarfslage (soziale Schwierigkeiten bei Entlassung) nicht schon im Zeitpunkt der beantragten Leistung, sondern
erst zukünftig besteht, können vorbeugende Sozialhilfeleistungen zum Erhalt der Wohnung für die Zeit nach der Haftentlassung
ggf. nach § 15 SGB XII beansprucht werden. Nach der Vorschrift des § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, die nicht zu Leistungen eigener Art berechtigt, sondern rechtlich im Zusammenhang mit der jeweiligen Hilfeart steht, soll
die Sozialhilfe vorbeugend gewährt werden, wenn prognostisch dadurch eine dem Einzelnen drohende Notlage ganz oder teilweise
abgewendet werden kann. Auch im Rahmen des § 67 SGB XII ist der Träger der Sozialhilfe ermächtigt und verpflichtet zu prüfen, ob der Zweck dieser Art von Sozialhilfe (Vermeidung
von Wohnungslosigkeit bei Haftentlassung) nicht dadurch besser erreicht werden kann, dass die danach in Betracht kommenden
Leistungen bereits vor Eintritt der Notlage gewährt werden. Da die "besonderen Lebensumstände" verbunden mit "sozialen Schwierigkeiten"
in Fällen wie dem vorliegenden eine Prognoseentscheidung im Hinblick auf die zu erwartende Situation bei Haftentlassung notwendig
machen, ist eine Abgrenzung der Fallgruppen voneinander in zeitlicher Hinsicht vorgegeben: Je näher die Haftentlassung bevorsteht,
desto konkreter kann sich die Notwendigkeit von Geldleistungen anstelle sonstiger Hilfen ergeben. Umgekehrt kann eine ausreichend
sichere Prognose dann nicht erstellt werden, wenn die Umstände nach Haftentlassung schon wegen der noch bevorstehenden Haftdauer
noch nicht eingeschätzt werden können. Jedenfalls ist aber bei dieser Prognoseentscheidung an die verbleibende Restdauer der
Haft bis zum möglichen Eintritt der Notlage anzuknüpfen (BSG, a.a.O., Rn. 16-19).
Nach diesen Maßgaben hatte der Kläger bei der Beantragung der Leistungen (am 24.9.2014), jedenfalls zum Zeitpunkt der letzten
Behördenentscheidung (Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 22.4.2015), einen Anspruch auf (vorbeugende) Sozialhilfeleistungen
zum Erhalt seiner Wohnung, weil die voraussichtliche Haftdauer eine sichere Prognose über die Umstände nach der Haftentlassung
zugelassen haben. Danach konnte wegen der Befristung des Haftaufenthalts sicher davon ausgegangen werden, dass der Kläger
Anfang Mai 2015 auf eine Unterkunft angewiesen sein wird und sich seine besondere Situation von den Umständen, die Haftentlassene
typischerweise vorfinden, sogar zu seinem Nachteil unterscheidet. Seine soziale Lebenssituation ist seit langem (mindestens
seit 2005) geprägt durch eine instabile Persönlichkeitsstörung mit einer deutlich geminderten Frustrationstoleranz und einer
Störung der Affektregulation und des Sozialverhaltens bei chronischer Alkoholabhängigkeit (vgl. auch das im Betreuungsverfahren
eingeholte Sachverständigengutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Rang, Bremervörde, vom 5.8.2013). Es
hat insoweit nahegelegen, dass der Kläger zur Vermeidung einer drohenden Verschärfung seiner sozialen Schwierigkeiten nach
Entlassung aus der Haft bezogen auf die Wohnsituation jedenfalls geordnete Verhältnisse vorfinden sollte, bestenfalls eine
vertraute Umgebung; der Kläger hatte die Wohnung bereits seit fast zehn Jahren bewohnt (seit 2005). Nach den beigezogenen
Auszügen der Akten des AG Stade (- NZS 41 XVII 257/00 -) hat der Erhalt der klägerischen Wohnung schon vor Haftantritt auch
im Rahmen seiner Betreuung eine wesentliche Rolle gespielt (dokumentiert etwa im August 2013). Danach teilt der Senat nicht
die Auffassung des Beklagten, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass ein Wohnungswechsel nicht zu (weiteren) sozialen Schwierigkeiten
geführt hätte und der Kläger - mit Unterstützung seines Betreuers - nach der Haftentlassung eine andere Wohnung hätte beziehen
können. Die Entscheidung des Betreuers, den Mietvertrag für die Wohnung des Klägers wegen der etwa siebenmonatigen Haftstrafe
nicht zu kündigen und die Finanzierung der damit einhergehenden Kosten durch Leistungen nach dem SGB XII bzw. SGB II sicherzustellen, ist zu Beginn der Haft im September 2014 und erst recht mit zunehmendem Ablauf der Haftdauer (dazu auch
gleich) sachlich vertretbar (gewesen), zumal durch eine Räumung der Wohnung und der Neuanmietung einer anderen ebenfalls nicht
unerhebliche Kosten einhergegangen wären (z.B. für Schönheitsreparaturen, Räumung, Möbeleinlagerung und Einrichtung der neuen
Wohnung).
Selbst wenn die Aufgabe der Mietwohnung und die Anmietung einer neuen für die Zeit nach der Haftentlassung eine zumutbare
Alternative gewesen sein sollte, wäre es für den Beklagten angezeigt gewesen, den Kläger (bzw. seinen Betreuer) in dieser
Hinsicht rechtzeitig zu beraten und persönlich zu unterstützen (§§ 67, 68 SGB XII i.V.m. § 4 Abs. 1 VO zu § 69 SGB XII), etwa durch eine sehr frühzeitige und nachvollziehbare Darlegung seines Standpunkts, dass ein Wohnungswechsel nicht nur
nach den persönlichen Verhältnissen des Klägers, sondern auch nach den Verhältnissen des Wohnungsmarkts in Stade zuzumuten
sei; zur Anmietung einer neuen Wohnung hätte er auch besondere Hilfestellungen durch das zuständige Wohnungsamt anbieten können.
Wegen der relativ kurzen Haftstrafe ist schnelle (Orientierungs-)Hilfe geboten gewesen. Dabei durfte sich der Beklagte nicht
allein darauf zurückziehen, dass der Kläger bereits Hilfe durch seinen Betreuer erhält; wie dargelegt, ist dessen Entscheidung,
von einer Kündigung abzusehen, sachlich vertretbar gewesen. Dagegen hat der Beklagte den Antrag auf Übernahme der Unterkunftskosten
mit der bloß formelhaften Begründung, die Haftdauer überschreite einen Zeitraum von sechs Monaten (vgl. zu dieser zeitlichen
Grenze noch OVG Lüneburg, Urteil vom 4.12.2000 - 4 M 3681/00 - juris Rn. 13), abgelehnt und den vom Betreuer hilfsweise gestellten Antrag auf Übernahme von Kosten für eine Räumung der
Wohnung und Möbeleinlagerung gar nicht beschieden. Im Laufe des Vorverfahrens, in dem (erstmals) eine Prüfung des Anliegens
des Kläger nach Maßgabe der Rechtsprechung des BSG vorgenommen worden ist (vgl. u.a. die Vermerke des Beklagten vom 26.1. und 20.2.2015, Bl. 38, 47 d. VA), hat sich wegen des
mehr und mehr absehbaren Haftendes eine Hilfe in Gestalt der Übernahme der geltend gemachten Kosten verdichtet.
Der Anspruch nach § 67 Satz 1, § 68 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, § 4 Abs. 2 VO zu § 69 SGB XII i.V.m. § 35 Abs. 1 SGB XII ist auf die Übernahme der während der Haft angefallenen Kosten der Mietwohnung gerichtet, ohne dass die Voraussetzungen einer
Schuldenübernahme nach § 36 SGB XII zu prüfen sind oder die Übernahme der Unterkunftskosten - wie etwa bei einer direkten Anwendung des § 35 SGB XII - erfordert, dass die betroffene Person die Wohnung tatsächlich bewohnt (vgl. dazu BSG, a.a.O., Rn. 20). § 4 Abs. 2 VO zu § 69 SGB XII enthält (bloß) eine Rechtsfolgenverweisung auf die Vorschriften des Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.6.2005 - L 20 B 2/05 SO ER - juris Rn. 7; Bayerisches LSG, Beschluss vom 17.9.2009 - L 18 SO 111/09 B ER - juris Rn. 23; Wehrhahn in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 68 Rn. 32). Der Anspruch setzt in der Rechtsfolge die Ausübung von Ermessen nicht voraus, weil hier ein atypischer Fall, der
ein Absehen vorbeugender Hilfe rechtfertigen kann (vgl. die Soll-Vorschrift des § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB XII), nicht vorliegt und - entgegen den Ausführungen des SG - § 36 SGB XII nicht einschlägig ist, sondern § 35 SGB XII. Hier liegen im rechtlichen Sinn keine Schulden vor, weil die Hilfe sich von vorneherein auf eine Übernahme der erst entstehenden
Verbindlichkeiten bezogen hat. Die Abgrenzung von Schulden zu laufenden Leistungen (nach § 35 SGB XII) ist danach vorzunehmen, ob es sich um einen tatsächlich eingetretenen, im Zeitpunkt der Kenntnis des Trägers der Sozialhilfe
(vgl. § 18 Abs. 1 SGB XII) von der Notwendigkeit der weitergehenden Sicherung der Unterkunft in der Vergangenheit liegenden und bisher noch nicht vom
Sozialhilfeträger gedeckten Bedarf handelt (BSG, a.a.O., Rn. 21).
Zu den während der Haft angefallenen Kosten der Mietwohnung gehört nicht allein der für diese Zeit rückständige Mietzins,
sondern (ausnahmsweise) auch die zur Abwendung des Wohnungsverlustes notwendigen Gerichts- und Anwaltskosten der Räumungsklage
(als einmaliger Bedarf), weil sie unmittelbar auf die rechtswidrige Leistungsablehnung des Beklagten zurückzuführen sind (vgl.
hierzu Bayerisches LSG, Urteil vom 30. 1.2014 - L 7 AS 676/13 - juris Rn. 25; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.6.2017 - L 9 AS 1742/14 - juris Rn. 56 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 17.6.2010 - B 14 AS 58/09 R; SG Hamburg, Urteil vom 5.7.2017 - S 48 AS 3875/15 - juris Rn. 17; Löcken in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 34 Rn. 36 a.E.; Piepenstock in jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 22 Rn. 70 a.E.; Berlit, info also 2020, 249, 257).
Da die während der Haft angefallenen Kosten der Mietwohnung (einschließlich der Kosten der Räumungsklage) jedenfalls von mehr
als 2.825,00 € betragen haben, bedarf die Entscheidung des SG, durch die der Beklagte unter Aufhebung seiner Ablehnungsentscheidung verurteilt worden ist, dem Kläger unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts Leistungen zur Erhaltung seiner Wohnung - jedenfalls als Zuschuss in Höhe von 2.825,00 € (sog.
Ermessensreduzierung auf Null) - zu gewähren, keiner Änderung. Einer Verurteilung des Beklagten unmittelbar zur Übernahme
der geltend gemachten Kosten steht im Rechtsmittelverfahren der Grundsatz entgegen, dass das Gericht bei seiner Entscheidung
nach der Dispositionsmaxime nicht über das hinausgehen und nichts anderes zusprechen darf als ihm vom Kläger bzw. hier vom
Rechtsmittelführer zur Entscheidung angetragen worden ist (ne ultra petita; vgl. hierzu etwa Giesbert in jurisPK-
SGG, 1. Aufl. 2017, § 123 Rn. 23 m.w.N.). Der Kläger hat gegen die Entscheidung des SG kein Rechtsmittel eingelegt.
In Ausführung des Urteils des SG wird der Beklagte die konkrete Höhe der Leistungen nach §§ 67, 68 SGB XII zu ermitteln haben, also in welcher Höhe (ungedeckte) Mietkosten im Einzelnen während des Haftaufenthalts vom 29.9.2014 bis
zum 30.4.2015 angefallen sind und auf welchen Betrag sich die Gerichts- und Anwaltskosten der Räumungsklage konkret belaufen.
Belastbare Nachweise haben insoweit weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren vorgelegen. Der Einwand des Beklagten,
der Kläger hätte einen Teil der Gesamtstrafe durch freie Arbeit abwenden und damit die während der Haft anfallenden Unterkunftskosten
mindern können, führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Ungeachtet der Frage, ob eine solche „Minderungspflicht“ überhaupt
besteht bzw. die Sozialhilfe insoweit nachrangig ist (§ 2 SGB XII), bezweifelt der Senat schon, dass der Kläger nach seiner Persönlichkeitsstruktur und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen
zu einer Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe im Stande gewesen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§
160 abs. 2
SGG) liegen nicht vor.