Bewertung des Grades der Behinderung nach dem SGB IX bei epileptischen Anfällen vom Grand Mal-Typ
Tatbestand
Die Beklagte stellte bei der am 00.00.1966 geborenen Klägerin aufgrund eines Hirnanfallsleidens und eines degenerativen Wirbelsäulensyndroms
sowie eines Schulter-Arm-Syndroms mit Bescheid vom 25.02.2011 einen GdB von 30 fest.
Am 06.03.2014 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Feststellung eines höheren GdB. Die Beklagte holte zunächst aktuelle
Befundberichte der behandelnden Ärzte ein und veranlasste eine versorgungsärztliche Stellungnahme. In dieser ging der beratende
Arzt der Beklagten von Funktionsbeeinträchtigungen durch ein Hirnanfallsleiden (GdB 30) und ein degeneratives Wirbelsäulensyndrom
und Schulter-Arm-Syndrom (GdB 20) aus. In der Gesamtschau empfahl er die Feststellung eines GdB von weiterhin 30.
Mit Bescheid vom 15.04.2014 lehnte die Beklagte die Feststellung eines höheren GdB ab. Dem widersprach die Klägerin und trug
vor, ihre gesundheitlichen Leiden seien nicht ausreichend gewürdigt worden. Durch die regelmäßig auftretenden Krampfanfälle
sei sie nicht mehr in eine Arbeitsstelle vermittelbar und in allen Bereichen des Lebens stark beeinträchtigt. Die Beklagte
wies den Widerspruch der Klägerin nach Einholung einer erneuten ärztlichen Stellungnahme mit Widerspruchsbescheid vom 03.06.2014,
der Klägerin zugestellt am 13.11.2014, als unbegründet zurück.
Die Klägerin hat am 12.12.2014 Klage vor dem Sozialgericht Düsseldorf (SG) erhoben. Sie hat die Auffassung vertreten, aufgrund des Anfallsleidens sei ein höherer GdB gerechtfertigt. Überdies sei
bei ihr noch ein Aneurysma im Gehirn festgestellt worden.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 15.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.06.2014 zu verpflichten,
bei der Klägerin ab Änderungsantragstellung einen Grad der Behinderung von mehr als 30 festzustellen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, die Gesundheitsbeeinträchtigungen der Klägerin seien zutreffend festgestellt worden. Es
sei nicht objektiviert nachgewiesen, dass das Hirnanfallsleiden der Klägerin tatsächlich in dem Ausmaß vorliege, wie die Klägerin
es darstelle.
Zur Stützung ihres Vortrags hat die Klägerin unter dem 26.03.2015 sowie dem 06.01.2017 einen "Anfallskalender" und ärztliche
Berichte vorgelegt, u.a. des behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. H vom 08.08.2014, 03.02.2015 und 17.02.2017. Dieser
hat über Behandlungen der Klägerin u.a. in 07/15, 11/15 und 03/16 berichtet, in der die Klägerin ihm Anfälle geschildert habe
sowie über eine Medikamentenumstellung und eine im März 2016 avisierte Vorstellung in der Epileptologie der Uniklinik C. Das
SG hat weitere Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt, u.a. des Dr. H vom 02.06.2015. Sodann hat das SG von Amts wegen weiteren Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Prof. Dr. H und
eines orthopädischen Gutachtens von Dr. E. Der Hauptsachverständige Prof. Dr. H ist unter Berücksichtigung des orthopädischen
Zusatzgutachtens zu dem Ergebnis gekommen, dass bei der Klägerin ein Gesamt-GdB von 60 angemessen sei. Der Zusatzgutachter
Dr. E hat festgestellt, dass die orthopädischen Beeinträchtigungen (Funktionssysteme "Wirbelsäule" wegen Funktionseinschränkung
der Wirbelsäule, "Obere Extremitäten" wegen Funktionseinschränkung der rechten Schulter und einer operativ behandelten Verletzung
am rechten Handgelenk und "Untere Extremitäten" wegen knorpeligen Verschleißveränderungen am Kniescheibengleitlager rechts
) links) jeweils keinen höheren GdB als 10 verursachten. Prof. Dr. H hat ausgeführt, dass das Anfallsleiden der Klägerin als
ein solches mit mittlerer Anfallshäufigkeit einzustufen sei. Dies bedinge nach Ziffer B 3.1.2 der Versorgungsmedizinischen
Grundsätze einen GdB-Rahmen von 60-80. Bei der Klägerin lägen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Anfälle vom
Grand-mal-Typ, also große Anfälle vor, diese träten im Durchschnitt 3 x monatlich bzw. nach dem von der Klägerin seit Mitte
2014 geführten Anfallskalender 1 - 3 x monatlich auf. Aufgrund der bei der Klägerin in der Regel nachts auftretenden Anfälle
sei ein Verbleiben am unteren Rahmen mit 60 seiner Auffassung nach ausreichend.
Die Beklagte hat dem Sachverständigen Prof. Dr. H nicht zu folgen vermocht und bemängelt, dessen Aussagen beruhten im Wesentlichen
auf den subjektiven Angaben der Klägerin und könnten nicht objektiviert werden. Daher könne die Beklagte mit den darauf basierenden
Schlussfolgerungen nicht übereinstimmen und weiterhin keinen höheren GdB anerkennen. Die einzige Möglichkeit, die Angaben
der Klägerin zu objektivieren, sei ein Langzeit-Monitoring.
Der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. H hat in einer ergänzenden Stellungnahme vom 10.01.2016 dargelegt, dass selbst
bei ungünstigster Betrachtungsweise für die Klägerin (4 Anfälle / Jahr) seiner Auffassung nach zumindest ein GdB von 50 bestehe.
Das SG hat des Weiteren ein Sachverständigengutachten des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen Dr. G vom 25.07.2015 aus
einem Verfahren der Klägerin gegen die DRV Rheinland (SG Düsseldorf, Az. S 44 R 8/15) beigezogen. Dr. G ist in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Epilepsie-Syndrom mit vorwiegend schlafgebundenen
Grand-Mal-Anfällen vorliege. Er hat angegeben, ein Anfallstagebuch der Klägerin nicht gesehen zu haben. Er hat darauf hingewiesen,
dass er dringend eine intensivierte Diagnostik bzw. Anpassung der antikonvulsiven Medikation zwecks besserer Kontrolle des
Epilepsie-Syndroms empfehle.
Nach weiterer Diagnostik durch Prof. Dr. F, Direktor der Klinik für Epileptologie der Universitätsklinik C wurde am 29.06.2016
eine Umstellung der Medikation der Klägerin durchgeführt. Die Klägerin hat angegeben, seit der Wirkung der medikamentösen
Umstellung anfallsfrei zu sein. Allerdings leide sie unter starken Nebenwirkungen wie erheblichem Gewichtsverlust, Asthenie,
Somnolenz und Amnesie.
Mit Urteil vom 22.02.2017 hat das SG die Beklagte verurteilt, bei der Klägerin unter Abänderung der entgegenstehenden Bescheide einen GdB von 60 ab Antragstellung
festzustellen. Die Klägerin habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere der Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen
Prof. Dr. H und Dr. E, einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 60. Zu berücksichtigen sei dabei das Hirnanfallsleiden
mit einem Einzel-GdB von 60. Nach Auffassung der Kammer stelle sich das bei der Klägerin vorhandene Leiden als ein solches
mittlerer Häufigkeit gemäß Ziffer B 3.1.2 der versorgungsmedizinischen Grundsätze dar und sei mithin innerhalb des Rahmens
von 60-80 zu bewerten. Das Gericht stelle dabei, ebenso wie der Sachverständige Prof. Dr. H, auf die seitens der Klägerin
eingereichten Unterlagen bezüglich der Dokumentation ihrer Anfälle ab. Der Sachverständige komme nach Auswertung des seit
Mitte 2014 seitens der Klägerin geführten Anfallskalenders zu dem Ergebnis, dass monatlich jeweils 1-3 große Anfälle aufträten.
Selbst bei nur jeweils einem großen Anfall pro Monat lägen zwischen den großen Anfällen folglich nur Wochen, so dass sich
die Kategorie der mittleren Häufigkeit ergebe und der Rahmen für die Vergabe des GdB von 60-80 öffne. Der Sachverständige
argumentiere, dass durch das fast ausschließliche Auftreten der Anfälle während der Nacht die Beeinträchtigung der Klägerin
eher geringer sei und daher der untere Rahmen angemessen sei. Wenngleich die Kammer auch nächtliche Anfälle als sehr einschränkend
beurteile, sei dem Sachverständigen im Vergleich zu den tagsüber auftretenden Anfällen zuzustimmen. Darüber hinaus sei die
Kammer der Auffassung, dass die Häufigkeit der Anfälle bei der Klägerin sich ebenfalls im unteren Bereich der mittleren Häufigkeit
befinde, so dass auch der untere Grenzwert des Rahmens ausreichend sei. Die Kammer teile indes nicht die Zweifel der Beklagten,
dass die vorstehend geschilderten Umstände nicht zutreffend sein könnten bzw. nicht ausreichend objektiviert seien. Die Auflistung
der Klägerin sowie ihre diesbezüglichen Beschreibungen seien ausreichend, um das Vorliegen der Epilepsie in dem beschriebenen
Ausmaß nachzuweisen. Es sei nach Dafürhalten der erkennenden Kammer nicht notwendig, nach jedem Anfall den Rettungsdienst
zu rufen bzw. den Hausarzt aufzusuchen, um eine Objektivierbarkeit der Anfälle herbeizuführen. Die Klägerin, welche seit 1998
unter der Epilepsie leide, kenne die Situation und habe ihre eigenen Strategien zur Bewältigung entwickelt. Nach einem stattgehabten
Anfall könnten auch weder der Rettungsdienst noch der behandelnde Arzt etwas an der Situation ändern oder behandeln. Auch
das im Rentenverfahren von Dr. G erstellte Gutachten führe zu keinem anderen Ergebnis. Der Umstand, dass der Sachverständige
kein Anfallstagebuch der Klägerin gesehen habe, könne nicht dazu führen, dass das ins hiesige Verfahren eingeführte Anfallstagebuch
nicht zu verwerten wäre. Im Übrigen lasse sich aus seinen deutlichen Empfehlungen zur weiteren Diagnostik bzw. Umstellung
der Medikation erkennen, dass er durchaus davon ausgehe, dass das Anfallsleiden bei der Klägerin in erheblichem Ausmaß vorliege.
Er stelle lediglich fest, dass die Genese nicht eindeutig geklärt sei und gebe seine Einschätzung wieder, dass durch eine
Anpassung der Medikation möglicherweise sogar ein dauerhaft besserer Zustand erreicht werden könne. Die im laufenden Klageverfahren
erfolgte bzw. begonnene Behandlung in der Uni-Klinik C stütze die Ausführungen des Gerichts ebenso. Auch die dort tätigen
Ärzte seien offensichtlich von einer (hohen) Anfallshäufigkeit, jedenfalls aber vorkommenden Anfällen bei der Klägerin ausgegangen
und hätten die Medikation der Klägerin umgestellt. Die Klägerin sei nach eigenen Angaben mittlerweile anfallsfrei. Sollte
die Anfallsfreiheit persistieren, werde zu gegebener Zeit über die Absenkung auf einen GdB von 30 nachzudenken sein. Aus dem
Umstand, dass die Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) vorsehe, dass ein GdB von 30 bei Anfallsfreiheit unter fortdauernder antikonvulsiver Behandlung zu vergeben sei, sehe das
Gericht seine Einschätzung zusätzlich gestützt. Die Beklagte habe im Verwaltungsverfahren einen GdB von 30 für das Anfallsleiden
zuerkannt, was folglich den Zustand der Anfallsfreiheit bedeute. Die Kammer halte es jedoch für ausgeschlossen, dass bei der
Klägerin vor Umstellung der Medikation im Juni 2016 Anfallsfreiheit vorgelegen habe. Unabhängig von der Einstufung in selten
/ mittel / häufig bzw. der ganz exakten Anzahl der Anfälle, ergebe sich nach Auffassung des Gerichts durch den Vortrag der
Klägerin, durch die eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie durch die Sachverständigengutachten zweifelsfrei,
dass die Klägerin in dem streitigen Zeitraum unter epileptischen Anfällen gelitten habe. Dementsprechend könne die Einschätzung
der Beklagten eines GdB von 30, welche dem angegriffenen Bescheid zugrunde liegt, nur unzutreffend sein. Die orthopädischen
Leiden der Klägerin erreichten jeweils keinen höheren GdB als 10 und führten demgemäß nicht dazu, dass der führende GdB von
60 für das Anfallsleiden noch weiter angehoben werden müsse bzw. könne.
Gegen das ihr am 06.04.2017 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 04.05.2017 Berufung eingelegt. Das Urteil des SG verstoße gegen die VersMedV und leide an Verfahrensfehlern. Der Sachverhalt sei nicht ausreichend ermittelt worden, die Beweiswürdigung sei unzureichend.
Grundlage der Feststellungen des Urteils seien maßgeblich subjektive Angaben der Klägerin. Im Übrigen habe im Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung unstreitig Anfallsfreiheit vorgelegen, was nur unzureichend berücksichtigt worden sei. Insbesondere
in Anbetracht der Anfallsfreiheit ab 2016 habe eine genaue Bewertung von Art und Ausmaß der Epilepsie unter Berücksichtigung
der neuen Therapieform berücksichtigt werden müssen. Es sei nicht nachvollziehbar, dass das SG die aktuelle Situation der Klägerin (Anfallsfreiheit) hinsichtlich möglicher Folgen nicht weiter aufgeklärt und stattdessen
zu erkennen gegeben habe, zu gegebener Zeit sei über eine Absenkung des GdB auf 30 nachzudenken. Ebenso habe es einer weiteren
Objektivierung der Befunde bedurft. Cerebrale Anfälle seien von der Klägerin lediglich anamnestisch angegeben, jedoch nicht
ausreichend ärztlich beobachtet worden und durch objektive klinische und apparative Untersuchungen nicht hinreichend nachgewiesen
worden. Es sei auch keine hinreichende Begründung erkennbar, die es der Klägerin unmöglich gemacht habe, ein Anfallsgeschehen
ärztlich dokumentieren zu lassen. Auch der Wirkstoffspiegel der verordneten Antikonvulsiva zur Überprüfung der Therapieinsuffizienz
liege nicht vor. Die Klägerin habe ganz nahliegende, ihr ärztlich angeratene Möglichkeiten zur Objektivierung ihrer Krankheit
nicht genutzt. Von "regelmäßig auftretenden Krampfanfällen" bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem SG sei jedenfalls nicht auszugehen. Auch der von der Klägerin vorgelegte Anfallskalender habe nicht ohne weiteres zur Grundlage
der Entscheidungsfindung des SG gemacht werden dürfen, es stelle sich die naheliegende Frage, ob das "Anfallstagebuch" verfahrensangepasst vorgelegt worden
sei. Zu den Daten der Anfälle seien von dem Bevollmächtigten, der Klägerin selber sowie dem behandelnden Facharzt unterschiedliche
Angaben gemacht worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.02.2017 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie meint, hinsichtlich der Beurteilung der Anfälle komme es auf
die Antragstellung im Jahr 2014 an, nicht auf die Anfallsfreiheit im Jahr 2017. Im Übrigen leide sie unter erheblichen Nebenwirkungen
der ab August 2016 verordneten Medikamente. In der akuten Anfallssituation bzw. unmittelbar danach werde ihr von ihrem Mann
bzw. dem Sohn Hilfestellung geleistet, ärztliche Inanspruchnahme sei nicht erforderlich, ein Arzt könne immer erst da sein,
wenn der wenige Minuten dauernde Anfall schon vorüber sei.
Der Senat hat aktuelle Befundberichte eingeholt des Neurologen und Psychiaters Dr. H sowie der Hausärztin Dr. T. Dr. H hat
berichtet, seit Juni 2016 bzw. August 2016 sei es nach Aussage der Klägerin zu keinen weiteren epileptischen Krampfanfällen
gekommen. Ein Anfallskalender liege ihm nicht vor, anamnestisch bestünden epileptische Anfälle seit 1998, bis 2013 seien diese
anamnestisch ca. 30 mal aufgetreten, bis 2013 höchstens 3-4 x im Jahr. 2014 sei über Anfälle berichtet worden 1-2 x im Monat,
auch 2016 über einen GM-Anfall pro Monat. Im Januar 2017 habe die Klägerin seit Medikamentenumstellung Anfallsfreiheit seit
ca. August 2016 angegeben. Dr. T hat eine Besserung der Epilepsie nach Anpassung der Medikation angegeben.
Die Klägerin hat aktuelle Arztberichte zu den Akten gereicht. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L hat unter dem
16.08.2018 eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode und Epilepsie diagnostiziert, wobei die
Klägerin angegeben habe, seit 2 Jahren anfallsfrei zu sein. Bei dem Internisten und Rheumatologen Dr. W hat sich die Klägerin
am 18.07.2018 vorgestellt, dort wurden zum Ausschluss einer Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis Untersuchungen vorgenommen
und Laborbefunde erhoben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der medizinischen Berichte und Gutachten sowie
der weiteren Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht (§
151 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz -
SGG-) eingelegte Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 22.02.2017 ist zulässig (§
143 SGG), aber nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 15.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.06.2014 ist
rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, §
54 Abs.
1 S. 2
SGG. Zu Recht hat das SG einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 60 ab dem 06.03.2014 bejaht.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf Neufeststellung des GdB ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit §
2 Abs.
1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) in den bis zum 31.12.2017 und ab dem 01.01.2018 geltenden Fassungen in Verbindung mit §
69 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen beziehungsweise in Verbindung mit §
152 Abs.
1 und
3 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung.
Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen,
die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Von einer solchen ist bei einer Änderung
im Gesundheitszustand auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt, während
das Hinzutreten weiterer Funktionsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 regelmäßig ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB bleibt.
Nach §
2 Abs.
1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder
seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen
und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach §
2 Abs.
1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige
oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten
Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung
in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Nach §
69 Abs.
1 Satz 1
SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung
und den GdB fest. Nach §
69 Abs.
1 Satz 1
SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach §
152 Abs.
1 Satz 1
SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird.
Als GdB werden dabei nach §
69 Abs.
1 Satz 4 und 5
SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen, nach §
69 Abs.
1 Satz 5 und 6
SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach §
152 Abs.
1 Satz 5 und 6
SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden
abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.
Für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen sind die seit dem 01.01.2009 geltenden "Versorgungsmedizinischen
Grundsätze" (- VG - Anlage zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (BTHG)
vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234), heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS)
im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem
Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf
die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung
des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu
entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach §
69 Abs.
3 Satz 1
SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen beziehungsweise nach §
152 Abs.
3 Satz 1
SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung
ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht
nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach §
2 Abs.
1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt
sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten
Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen
der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken),
sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris). Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht
nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).
Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist der Senat, ebenso wie bereits das SG, überzeugt, dass die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von zumindest 60 zu bewerten sind.
Dies ergibt sich bereits unter Berücksichtigung einer Epilepsie als im Wesentlichen relevanter Gesundheitsstörung der Klägerin.
Die VersMedV B 3.1.2 sieht für epileptische Anfälle folgendes vor:
"Epileptische Anfälle je nach Art, Schwere, Häufigkeit und tageszeitlicher Verteilung sehr selten
(generalisierte [große] und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von mehr als einem Jahr; kleine und einfach-fokale Anfälle mit
Pausen von Monaten) ...40 selten (generalisierte [große] und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von Monaten; kleine und einfach-fokale
Anfälle mit Pausen von Wochen) ...50-60
mittlere Häufigkeit
(generalisierte [große] und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von
Tagen) ... 60-80
häufig
(generalisierte [große] oder komplex-fokale Anfälle
wöchentlich oder Serien von generalisierten Krampfanfällen, von fokal betonten oder von multifokalen Anfällen; kleine und
einfach-fokale Anfälle täglich) ...90-100
nach drei Jahren Anfallsfreiheit bei weiterer Notwendigkeit antikonvulsiver Behandlung ...30
Ein Anfallsleiden gilt als abgeklungen, wenn ohne Medikation drei Jahre Anfallsfreiheit besteht. Ohne nachgewiesenen Hirnschaden
ist dann kein GdS mehr anzunehmen."
Der Senat geht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon aus, dass bei der Klägerin seit Antragstellung im Jahr 2014 bis
zumindest Juni 2016 epileptische Anfälle vom Grand Mal-Typ mit Pausen von Wochen bis wenigen Monaten vorlagen. Hinsichtlich
der Bewertung der Anfälle als solche vom Grand Mal-Typ folgt der Senat dem Sachverständigen Prof. Dr. H sowie dem im Rentenverfahren
gehörten Dr. G, welche beide die Anfälle aufgrund der vorgelegten Befundberichte und den Schilderungen der Klägerin als solche
eingeordnet haben. Hinsichtlich der Anfallshäufigkeit geht der Senat davon aus, dass die Klägerin seit der Antragstellung
bis Juni 2016 zumindest im Abstand von wenigen Monaten unter diesen Anfällen gelitten hat. Zwar hat die Beklagte zutreffend
darauf hingewiesen, dass im streitgegenständlichen Zeitraum seit 2014 kein epileptischer Anfall bei der Klägerin ärztlich
beobachtet worden ist. Sämtliche Angaben hierzu beruhen allein auf den Schilderungen der Klägerin. Für die Glaubhaftigkeit
der klägerischen Angaben zu den zwischen 2014 und 2016 gehäuft aufgetretenen Anfällen sprechen nach Auffassung des Senats
insbesondere die Berichte des behandelnden Neurologen Dr. H und der Universitätsklinik C sowie die von den behandelnden Ärzten
gesehene Notwendigkeit einer mehrfachen Medikamentenumstellung, ferner die Angaben der Klägerin gegenüber den Sachverständigen.
Die Glaubhaftigkeit der Schilderungen wird zudem maßgeblich gestützt durch die angegebene Anfallsfreiheit seit der letzten
Medikamentenumstellung im Juni 2016. Die konsultierten Ärzte haben den Beschwerdevortrag der Klägerin nicht in Zweifel gezogen
und entsprechende Behandlungen durchgeführt. So ergibt sich aus den Berichten des Dr. H vom 08.08.2014, 03.02.2015 und 02.06.2015,
dass die Klägerin noch im November 2013 über höchstens drei bis vier Anfälle im Jahr berichtet hatte, der letzte sei jedoch
erst wenige Wochen her. Im August 2014 wurde durch Dr. H eine gesteigerte Anfallshäufigkeit dokumentiert mit ein bis zwei
nächtlichen Grand-Mal-Anfällen monatlich. Im Oktober 2014 gab die Klägerin gegenüber Dr. H an, seit vier Wochen anfallsfrei
zu sein, im März 2015 berichtete sie, den letzten Anfall Ende Februar 2015 erlitten zu haben. Dr. H konnte am 08.08.2014 und
10.03.2015 auch jeweils einen suffizienten Wirkspiegel des verordneten antikonvulsiven Medikaments im Blut der Klägerin nachweisen.
In seinem für das SG erstatteten Befundbericht vom 02.06.2015 geht Dr. H von einer mittleren Anfallshäufigkeit aus bei generalisierten großen
Anfällen mit Pausen von Wochen bis maximal wenigen Monaten. In seinem Bericht vom 17.02.2017 hat Dr. H schließlich über weitere
Vorstellungen der Klägerin im Juli und November 2015 sowie März 2016 berichtet, anlässlich welcher die Klägerin über weitere
Anfälle berichtete. Eine erste Medikamentenumstellung ist durch Dr. H im November 2015 vorgenommen worden, im März 2016 hat
der behandelnde Neurologe schließlich die Vorstellung der Klägerin in der Universitätsklinik C veranlasst. Auch dort hat die
Klägerin anlässlich ihrer Vorstellung am 29.06.2016 berichtet, ein- bis zweimal monatlich unter Anfällen zu leiden. Anhaltspunkte
für eine Diskrepanz zwischen tatsächlich vorliegenden Beschwerden und subjektiven Angaben der Klägerin lassen sich den Berichten
nicht entnehmen. Auch der im Rentenverfahren beauftragte Sachverständige Neurologe Dr. G hat die Angaben der Klägerin zu den
Grand-Mal-Anfällen für glaubhaft gehalten und dringend eine Medikamentenumstellung angeregt. Schließlich lassen sich die Aufzeichnungen
der Klägerin selbst in dem von ihr vorgelegten Anfallskalenders mit den Angaben gegenüber Dr. H und Dr. G zu den stattgehabten
Anfällen zeitlich in Einklang bringen. So hat die Klägerin auch gegenüber Dr. G von epileptischen Anfällen ein- bis zweimal
monatlich berichtet und konkret als letztes Anfallsdatum vor der Begutachtung den 13.08.2015 benannt. Dieses Datum findet
sich auch in dem am 06.01.2017 vorgelegten Anfallstagebuch wieder. Der Senat verkennt nicht, dass der Prozessbevollmächtigte
der Klägerin im Schriftsatz vom 17.09.2014 Daten zu Anfällen aufgeführt hat, welche nicht mit dem Anfallstagebuch übereinstimmen.
Die Herkunft dieser Daten konnte auch in der mündlichen Verhandlung nicht aufgeklärt werden. Gleichwohl misst der Senat den
konsistenten Angaben der Klägerin selber und den Aufzeichnungen der behandelnden Ärzte im vorliegenden Fall den größeren Beweiswert
zu. Die Angaben der Klägerin bei Ihren Ärzten waren zur Überzeugung des Senats nicht verfahrens- sondern behandlungsorientiert,
wie sich wiederum (vgl. oben) insbesondere aus ihrer Mitwirkung bei der mehrfachen Änderung der nebenwirkungsreichen Medikation
und der Angabe von Anfallsfreiheit seit Juni 2016 ergibt.
Ausgehend von einer mittleren Anfallshäufigkeit ist nach Ziffer 3.2 der VersMedV für die Epilepsie ein GdB von mindestens 60 zugrunde zu legen. Da allein die Beklagte Berufungsführerin ist, kann der Senat
eine noch höhere Bewertung des GdB - ggf. unter Einschluss weiterer Gesundheitsstörungen - dahinstehen lassen.
Soweit die Beklagte rügt, dass die Anfallsfreiheit der Klägerin seit Juni 2016 nicht beachtet worden sei, hat das SG zu Recht darauf hingewiesen, dass nach der VersMedV erst nach drei Jahren Anfallsfreiheit bei weiterer Notwendigkeit antikonvulsiver Behandlung eine Herabsetzung des GdB auf
30 in Betracht kommt. Nach dem Vorstehenden geht der Senat davon aus, dass die Klägerin erst seit der Medikamentenumstellung
durch die Universitätsklinik C anfallsfrei ist. Da der Drei-Jahres-Zeitraum im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht
verstrichen ist, ist der GdB allein wegen der Epilepsieerkrankung der Klägerin weiterhin mit 60 zu bemessen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §
193 SGG.
Anlass zur Revisionszulassung besteht nicht, da die gemäß §
160 Abs.
2 SGG erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.