Feststellung des Pflegebedarfs in der sozialen Pflegeversicherung; Begleitung bei Arztbesuchen
Tatbestand:
Umstritten ist ein Anspruch der Klägerin auf Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe I ab dem 1.3.2009.
Die 1958 geborene Klägerin, die überwiegend von ihrem Ehemann gepflegt wird, beantragte im März 2009 bei der Beklagten die
Gewährung von Leistungen (Kombinationsleistungen) aus der sozialen Pflegeversicherung. In ihrem Gutachten vom Mai 2009 (persönliche
Untersuchung der Klägerin am 25.5.2009) nannte die Pflegefachkraft E vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK)
als pflegebegründende Diagnosen: Coxarthrose, Schmerz, Adipositas, Kniegelenksarthrose, reaktiv depressives Syndrom. Sie schätzte
den Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege mit 29 Minuten täglich im Wochendurchschnitt ein (Körperpflege 20 Minuten; Mobilität
9 Minuten). Darauf gestützt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 4.6.2009 die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung
ab. Sie wies den hiergegen eingelegten Widerspruch der Klägerin unter Berücksichtigung einer gutachtlichen Stellungnahme nach
Aktenlage der Pflegefachkraft H/Arzt im MDK Dr C vom August 2009 durch Widerspruchsbescheid vom 12.11.2009 zurück.
Am 9.12.2009 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Speyer erhoben und ein Pflegetagebuch vorgelegt. Die Beklagte hat dem SG ein Gutachten des Arztes im MDK Dr C vom Mai 2010 (persönliche Untersuchung der Klägerin am 12.5.2010) vorgelegt. Dieser
hat einen Pflegebedarf der Klägerin in der Grundpflege von 28 Minuten kalendertäglich im Wochendurchschnitt (Waschen/Baden
15 Minuten; Kämmen eine Minute; Darmentleerung zwei Minuten; An- und Auskleiden 9 Minuten; Stehen - Transfer - eine Minute)
angegeben. Das SG hat ein Gutachten des Internisten B vom November 2010 (Hausbesuch am 27.11.2010) eingeholt. Dieser hat ausgeführt, bei der
Klägerin lägen folgende Gesundheitsstörungen vor: 1. Funktionsbehinderung des linken Hüftgelenkes mit Gehbehinderung bei Hüftgelenksarthrose
und Zustand nach Operation; Kniegelenksarthrose rechts; 2. chronisches Wirbelsäulensyndrom; Schulter-Arm-Syndrom rechts, diskret
auch links; Karpaltunnelsyndrom beidseits; chronisches Schmerzsyndrom; 3. Harninkontinenz; 4. depressive Anpassungsstörung;
5. Sehschwäche. Der Gutachter hat kalendertäglich im Wochendurchschnitt einen Pflegebedarf von 47 Minuten (ua sechs Minuten
für die Begleitung der Klägerin - Fahrzeit zuzüglich Wege zum Kfz - zu behandelnden Ärzten und 5 Minuten für die dabei anfallenden
Wartezeiten) in der Grundpflege und 130 Minuten in der Hauswirtschaft angegeben.
Durch Urteil vom 22.6.2011 hat das SG Speyer die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin
Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe I ab dem 1.3.2009 zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Der Hilfebedarf der Klägerin in der Grundpflege sei mit insgesamt 50 Minuten kalendertäglich im Wochendurchschnitt einzuschätzen.
Der Hilfebedarf in der Grundpflege in den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität (ohne Verlassen und Wiederaufsuchen
der Wohnung) betrage insgesamt 39 Minuten kalendertäglich im Wochendurchschnitt. Im Bereich des Waschens/Badens seien insgesamt
18 Minuten täglich anzusetzen (Ganzkörperwäsche fünf Minuten; Teilwäsche des Unterkörpers abends wegen der Harninkontinenz
drei Minuten; Baden fünf Minuten; Haarewaschen fünf Minuten). Weiterhin seien nach den Darlegungen des Gutachters B täglich
zwei Minuten Hilfe beim Kämmen, zwei Minuten für die Toilettenhygiene, eine Minute für die Nahrungsaufnahme, sechs Minuten
für die Hilfe beim Aufstehen/Zubettgehen, neun Minuten für die Hilfe beim An- und Auskleiden und eine Minute für die Hilfe
beim Stehen (Transfer) zu berücksichtigen. Zusätzlich seien für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wochnung 11 Minuten
kalendertäglich ansatzfähig. Bei der Klägerin fielen durchschnittlich einmal wöchentlich Arztbesuche in K bzw W an, wobei
die reine Fahrzeit für die Hin- und Rückfahrt durchschnittlich 37 Minuten betrage. Hinzu kämen drei Minuten für die Hilfe
beim Treppensteigen und vier Minuten für Hilfen beim Ein- und Aussteigen aus dem PKW, womit sich insgesamt für die Fahrten
zuzüglich der anfallenden Fußwege ein Zeitaufwand von 44 Minuten pro Woche (= ca sechs Minuten täglich) ergebe. Außerdem seien
die Wartezeiten bei den Ärzten zu berücksichtigen, die im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) mit jeweils 30 bis 45 Minuten (= durchschnittlich täglich fünf Minuten) in Ansatz zu bringen seien. Zwar sei eine Begleitung
der Klägerin während der Fahrten nicht aus medizinischen Gründen erforderlich. Da sie jedoch auf den Wegen von und zum Fahrzeug
und beim Einsteigen in das Kfz auf Hilfe angewiesen sei, sei die Begleitung während der Fahrt aus praktischen Erwägungen heraus
erforderlich (Hinweis auf Landessozialgericht - LSG - Berlin-Brandenburg 19.11.2009 - L 27 P 75/08, juris Rn 24). Die Klägerin, der der Nachteilsausgleich "B" zuerkannt worden sei, könne nicht auf die Inanspruchnahme öffentlicher
Verkehrsmittel ohne Begleitperson verwiesen werden. Die Nutzung eines Taxis sei ihr aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar.
Sie könne auch nicht auf eine Fahrkostenübernahme nach §
60 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) verwiesen werden, weil sie in diesem Fall darauf angewiesen wäre, sich jede Fahrt vorab genehmigen zu lassen. Im Übrigen
dürften die Genehmigungsvoraussetzungen nach §
60 SGB V iVm den Krankentransportrichtlinien in der Person der Klägerin wohl nicht erfüllt sein. Auch die Wartezeiten der Begleitperson
in der Arztpraxis seien zu berücksichtigen. Zwar müsse der Ehemann der Klägerin auch hier nicht aus pflegerischen Gründen
anwesend sein. Andererseits lohne es sich in dieser Zeit für ihn nicht, nach Hause zu fahren. Er könne sich in Wartezeiten
von 30 bis 45 Minuten auch keinen sinnvollen anderen Beschäftigungen widmen. Da sich in Bezug auf den Umfang der Pflegebedürftigkeit
im streitbefangenen Zeitraum keine wesentliche Änderung ergeben habe, stünden der Klägerin die Leistungen nach der Pflegestufe
I für den gesamten Zeitraum ab dem 1.3.2009 zu.
Gegen dieses ihr am 25.8.2011 zugestellte Urteil richtet sich die am 21.9.2011 eingelegte Berufung der Beklagten, die vorträgt:
Nach den Begutachtungs-Richtlinien (BRi) seien im Rahmen der Zeiten für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung nur
solche Maßnahmen außerhalb der Wohnung zu berücksichtigen, die unmittelbar für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu
Hause notwendig seien und das persönliche Erscheinen des Betroffenen erforderten. Sie verweise auf die zeitnah nach der Antragstellung
der Klägerin durchgeführte MDK-Begutachtung. Im Gegensatz zu dem Arzt B, der seine Einschätzung nach Aktenlage vorgenommen
habe, sei hier eine wesentlich genauere Einsichtnahme in die individuellen Verhältnisse, insbesondere die häusliche Umgebung
erfolgt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Speyer vom 22.6.2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Das angefochtene Urteil sei zutreffend. Es treffe nicht zu, dass der Arzt B sein Gutachten nur nach Aktenlage
erstattet habe.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die abgeschlossene Akte S 9 P 72/10 ER (SG Speyer) sowie die Prozessakte des vorliegenden Rechtsstreits verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand
der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die nach §§
143 f,
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG - zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das SG hat der Klage zu Recht stattgegeben. Zur Begründung verweist der Senat auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils
(§
153 Abs
2 SGG), wobei er Folgendes ergänzt:
Die Voraussetzungen der Pflegestufe I gemäß §
15 Abs
3 Nr
1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB XI) - Pflegebedarf mindestens 90 Minuten, davon mehr als 45 Minuten in der Grundpflege - sind bei der Klägerin seit dem 1.3.2009
erfüllt. Der Senat stützt sich in dieser Überzeugung auf das Gutachten des Arztes B .
Bei der Klägerin ist von folgendem durchschnittlichen Zeitaufwand im Bereich der Grundpflege kalendertäglich im Wochendurchschnitt
auszugehen:
Waschen; Baden; Haarewaschen insgesamt 18 Minuten (zusätzlich zu den von dem Arzt B und von Dr C angegebenen 15 Minuten kommen,
wie das SG zu Recht dargelegt hat, weitere drei Minuten für das Haarewaschen hinzu, weil die Haare der Klägerin, die zu einem Pferdeschwanz
gebunden werden, auch trocken zu föhnen sind; die Pflegefachkraft E ist insoweit zutreffend von einer erforderlichen Zeit
von insgesamt 18 Minuten ausgegangen),
Kämmen zwei Minuten (Arzt B ; Pflegefachkraft E),
Darmentleerung zwei Minuten (Arzt B ; Dr C),
mundgerechtes Zubereiten der Nahrung eine Minute (Arzt B : Hilfe beim Schneiden von festem Fleisch erforderlich)
Aufstehen/Zubettgehen sechs Minuten (Arzt B ; soweit die Pflegefachkraft E diesbezüglich nur einen Zeitaufwand von zwei Minuten
und Dr C überhaupt keinen Pflegeaufwand berücksichtigt haben, überzeugt dies nicht),
An- und Auskleiden neun Minuten (Arzt B und Dr C ; die von der Pflegefachkraft E hierfür angesetzten sieben Minuten sind nicht
ausreichend)
Stehen (Transfer) eine Minute (Arzt B und Dr C).
Zu den sich hieraus ergebenden 39 Minuten sind weitere sechs Minuten für die Begleitung bei Fahrten zu Ärzten und fünf Minuten
für Wartezeiten bei Ärzten kalendertäglich im Wochendurchschnitt zu addieren, wodurch sich ein Pflegebedarf von insgesamt
50 Minuten kalendertäglich im Wochendurchschnitt ergibt.
Dem Gutachter B zufolge ist bei der Klägerin bei Fahrten zu Ärzten wegen Sturzgefahr eine Begleitperson auf den Wegen von
ihrer Wohnung in den PKW und von dem Kfz zur Arztpraxis und jeweils zurück erforderlich. Auch die Fahrzeit des Ehemanns der
Klägerin als Begleitperson ist im Rahmen des Pflegebedarfs zu berücksichtigen, obwohl an sich während der Fahrt selbst keine
Begleitperson notwendig ist. Zwar heißt es in den BRi (D 4.3 15.), Fahrzeiten seien dann zu berücksichtigen, wenn während
der Fahrt Beaufsichtigungsbedarf besteht und deshalb eine kontinuierliche Begleitung des Pflegebedürftigen erforderlich ist.
Die Berücksichtigung von Fahrzeiten kann jedoch nicht auf solche Fallgestaltungen beschränkt bleiben. Vielmehr ist die Fahrzeit
auch in Ansatz zu bringen, wenn die Begleitperson notwendig ist, um die Sicherheit des Versicherten auf Wegen von dem Kfz
zur Arztpraxis und zurück zu gewährleisten (im Ergebnis ebenso LSG Berlin-Brandenburg 19.11.2009 - L 27 P 75/08, juris Rn 24).
Bei einer Sachlage wie der vorliegenden kann die Zeitdauer zwischen dem Verlassen des Hauses durch den Versicherten und dessen
Rückkehr in den eigenen Wohnbereich nicht in einzelne Teile aufgesplittert werden, mit der Folge, dass nur ein Teil der Zeit
pflegeversicherungsrechtlich zu berücksichtigen wäre. Einer solchen Betrachtungsweise steht der Umstand entgegen, dass dem
Versicherten regelmäßig keine andere Person für den Weg vom Kfz zur Arztpraxis und zurück zur Verfügung steht als der Fahrer
des PKW. Gegen eine Aufspaltung der Zeitdauer zwischen dem Verlassen des Hauses und der Rückkehr des Versicherten in den eigenen
Wohnbereich in einen pflegeversicherungsrechtlich relevanten und einen nicht berücksichtigungsfähigen Teil spricht auch die
Rechtsprechung zur Anrechnung von Wartezeiten der Begleitperson während des Aufenthalts in der Arztpraxis (dazu BSG 6.8.1998 - B 3 P 17/97 R, juris). Danach zählt eine Wartezeit, während der der Hilfebedürftige vom Arzt untersucht wird oder sich ärztlich angeordneten
Maßnahmen in der Arztpraxis unterzieht, auch dann zum berücksichtigungsfähigen Hilfebedarf, wenn in der Arztpraxis eine Begleitperson
nicht notwendig ist, aber die Pflegeperson während dieser Zeit keiner Tätigkeit nachgehen kann, der sie sich widmen würde,
wenn die Notwendigkeit der Hilfeleistung nicht bestünde (BSG aaO. juris Rn 19).
Gegen die pflegeversicherungsrechtliche Berücksichtigung der Fahrzeiten kann auch nicht eingewandt werden, die Klägerin könne
die Fahrten zu den ärztlichen Behandlungen mit einem Taxi zurücklegen. Dieser Einwand greift von vornherein nicht durch, wenn
der mögliche Taxifahrer nicht bereit wäre, die Klägerin auf den Wegen zur Arztpraxis und zurück zu begleiten. Aber selbst
wenn der Taxifahrer die Begleitung auf diesen Wegen übernehmen würde, wäre die Rechtslage nicht anders zu beurteilen. Auf
solchen wäre der Taxifahrer als Pflegeperson der Klägerin anzusehen, weshalb der anfallende Zeitaufwand ansatzfähig wäre.
Ausgehend von den dargestellten Grundsätzen kann auch in Bezug auf die Person des Taxifahrers keine Aufspaltung in einen pflegeversicherungsrechtlich
relevanten und einen nicht berücksichtigungsfähigen Teil vorgenommen werden. Wie die Rechtslage zu beurteilen wäre, wenn die
Beklagte oder die zuständige Krankenkasse die Kosten der Taxifahrten übernehmen würde, braucht der Senat nicht zu entscheiden,
da eine solche Fallgestaltung nicht vorliegt.
Die Wartezeiten des Ehemanns der Klägerin als Begleitperson sind pflegeversicherungsrechtlich berücksichtigungsfähig, da dieser
während des Wartens in der Arztpraxis zeitlich und örtlich gebunden ist (vgl BRi aaO.; BSG 6.8.1998 aaO.).
Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung besteht für die Klägerin und ihren Ehemann nach dem Sachverständigen Burkhardt
ein Hilfebedarf von 130 Minuten kalendertäglich im Wochendurchschnitt, dh für die Klägerin von mindestens 65 Minuten kalendertäglich.
Das SG ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I bereits ab dem Monat der Antragstellung
(1.3.2009) erfüllt sind; der Pflegebedarf war im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum im Wesentlichen unverändert. Soweit
sich der vom Senat (im Wesentlichen im Anschluss an den Sachverständigen B, der die Klägerin persönlich untersucht hat) angenommene
Pflegebedarf von demjenigen der Gutachten der Pflegefachkraft E und des Dr C unterscheidet, folgt er diesen MDK-Gutachten
nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG).