Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses der Befreiung vom Beitragszuschlag für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung
in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft
Tatbestand
Umstritten ist, ob der Kläger den Beitragszuschlag für Kinderlose nach §
55 Abs.
3 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB XI) als Bestandteil des Beitrags zur sozialen Pflegeversicherung zu leisten hat.
Der Kläger lebte in den Jahre 1996 bis 2013 mit seiner früheren Lebensgefährtin und deren leiblichen Kindern (1991 geborener
Sohn, 1994 geborene Tochter) zusammen. Er trug zur Erziehung und zum Unterhalt der Kinder bei. Seit dem 1.1.2012 ist er bei
der Beklagten pflegeversichert. Sein Arbeitgeber führte an die Beklagte für ihn im Rahmen der Entrichtung der Sozialversicherungsbeiträge
jeweils den für Kinderlose im Vergleich zu Elternteilen um 0,25 Prozent erhöhten Beitrag zur sozialen Pflegeversicherung ab.
Unter dem 4.2.2014 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erstattung des geleisteten Beitragszuschlags für Kinderlose,
weil die beiden Kinder seiner früheren Lebensgefährtin in seinem Haushalt gelebt hätten. Die Beklagte lehnte diesen Antrag
mit Bescheid vom 7.2.2014 und Widerspruchsbescheid vom 10.4.2014 ab, da der Kläger nicht Stiefvater der Kinder seiner früheren
Lebensgefährtin und daher gemäß §
55 Abs.
3 Satz 1
SGB XI zur Entrichtung des Beitragszuschlags für Kinderlose verpflichtet gewesen sei.
Mit seiner am 9.5.2014 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Durch Urteil vom 21.4.2015 hat das Sozialgericht
(SG) Mainz den angefochtenen Bescheid aufgehoben, soweit er die Freistellung vom Beitragszuschlag für Kinderlose für noch nicht
gezahlte Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung betreffe, sowie die Beigeladene, die jetzige Arbeitgeberin des Klägers,
verurteilt, für den Kläger ab dem Monat April 2015 den Beitrag zur sozialen Pflegeversicherung ohne den Beitragszuschlag für
Kinderlose abzuführen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klage habe hinsichtlich
des Beitragszuschlages für die Zeit vom 1.1.2012 bis zum 31.3.2015 keinen Erfolg, da der Kläger in diesem Zeitraum nach §
55 Abs.
3 Satz 1
SGB XI zur Zahlung des nicht reduzierten Beitrages zur sozialen Pflegeversicherung verpflichtet gewesen sei. Zu den Eltern im Sinne
des §
55 Abs.
3 Satz 2
SGB XI i.V.m. §
56 Abs.
1 Satz 1 Nr.
3 und Abs.
3 Nr.
2 und
3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB I) gehörten auch Stiefeltern. Die Stiefelterneigenschaft setze aber ein verfestigtes, mehrjähriges Elternteil-Kind-Verhältnis
voraus. Den insoweit nach §
55 Abs.
3 Satz 2
SGB XI erforderlichen Nachweis habe der Kläger gegenüber der Beigeladenen nicht vor dem Monat März 2015 erbracht. Die Klage sei
jedoch hinsichtlich des Beitragszuschlages für den Zeitraum ab April 2015 begründet. Der Nachweis der Stiefelterneigenschaft
sei seit der durch das SG im Klageverfahren durch Beschluss vom 10.3. 2015 erfolgten Beiladung als erbracht anzusehen. Die Eigenschaft als Stiefkind
setze nicht die Ehe zwischen einem leiblichen Elternteil oder Adoptivelternteil und dem Stiefelternteil voraus (Hinweis auf
Sozialgericht - SG -Kassel 26.3.2008 - S 7 R 578/05). Gegen das herkömmliche Verständnis des Begriffs der Stiefelterneigenschaft sprächen verschiedene Entwicklungen im juristisch-gesellschaftlichen
Verständnis. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe die gelebte Elternschaft in den Schutzbereich des Art
6 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) einbezogen; durch dieses Grundrecht sei die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft von Eltern mit Kindern unabhängig
von der Verwandtschaft im Rechtssinne geschützt (Hinweis auf BVerfG 19.2.2013 - 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09, [...] Rn 62). Zudem werde in der Forschung und von der Bundesregierung und den Landesregierungen in der Familienberichterstattung
ein erweiterter Stiefelternbegriff verwandt, wonach auch bei nichtverheirateten Paaren, in deren Haushalt die biologischen
Kinder eines Elternteils aufwüchsen, der andere Teil Stiefelternteil sein könne.
Gegen dieses ihr am 30.6.2015 zugestellte Urteil richtet sich die am 23.7.2015 eingelegte Berufung der Beklagten, die vorträgt,
der Begriff der Stiefelternschaft im Sinne des §
55 SGB XI setze zwingend die Eheschließung zwischen einem leiblichen Elternteil des Kindes und dem "nicht biologischen Elternteil"
voraus.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Mainz vom 21.4.2015 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene hat sich nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen
Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die nach §§
143 f,
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG - zulässige Berufung ist begründet. Das SG hat der Klage zu Unrecht teilweise stattgegeben; das angefochtene Urteil ist insoweit abzuändern.
Für den Kläger ist auch in der Zeit ab dem 1.4.2015 der Beitragszuschlag für Kinderlose abzuführen. Nach §
55 Abs.
3 Satz 1
SGB XI erhöht sich der Beitragssatz nach Absatz 1 Satz 1 und 2 dieser Vorschrift für Mitglieder nach Ablauf des Monats, in dem sie
das 23. Lebensjahr vollendet haben, um einen Beitragszuschlag in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten (Beitragszuschlag für Kinderlose).
Diese Vorschrift gilt zwar nach §
55 Abs.
3 Satz 2
SGB XI nicht für Eltern im Sinne des §
56 Abs.
1 Satz 1 Nr.
3 und Abs.
3 Nr.
2 und
3 SGB I. Der Kläger ist jedoch in Bezug auf die Kinder seiner früheren Lebensgefährtin kein Elternteil im Sinne des §
56 Abs.
1 Satz 1 Nr.
3 SGB I, da er nicht leiblicher Vater oder Adoptivvater der Kinder ist. Er war und ist ferner kein Stief- oder Pflegeelternteil iSd
§
56 Abs.
3 Nr.
2 und
3 SGB I.
Nach §
56 Abs.
2 SGB I sind Eltern auch Stiefeltern. Stiefeltern sind nach dem allgemeinen Wortverständnis Ehegatten in Bezug auf nicht zu ihnen
in einem Kindschaftsverhältnis stehende leibliche oder angenommene Kinder des anderen Ehegatten (Bundessozialgericht - BSG - 18.7.2007 - B 12 P 4/06 R, [...] Rn 16). Zwar mögen eingetragene Lebenspartner insoweit aus verfassungsrechtlichen Gründen (vgl. BVerfG 7.5.2013 -
2 BvR 909/06, [...]) Ehegatten gleichzustellen sein (so Seewald in Kasseler Kommentar,
SGB I, §
56 Rn 12a). Für Partner sonstiger nichtehelicher Lebensgemeinschaften gilt dies dagegen nach geltender Rechtslage nicht. Im
Rahmen des §
55 SGB XI ist eine dahingehende Erweiterung des Stiefelternbegriffs im Übrigen schon deshalb ausgeschlossen, weil §
55 Abs.
3a Nr.
2 SGB XI ausdrücklich von dem Erfordernis der Eheschließung mit einem Elternteil ausgeht.
Die Ausgestaltung des Gesetzes, wonach ein Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, soweit es sich nicht um eine gleichgeschlechtliche
eingetragene Lebenspartnerschaft handelt, in Bezug auf die Eigenschaft als Stiefelternteil einem Ehepartner gegenüber nicht
gleichgestellt ist, verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art
3 Abs.
1 Grundgesetz (
GG). Wegen des durch Art
6 Abs.
1 GG für die Ehe geschaffenen verfassungsrechtlichen Schutz- und Förderauftrags ist der Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt,
die Ehe als rechtlich verbindliche und in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten (etwa bei Kindschaft oder
Mittellosigkeit) ausgestaltete dauerhafte Paarbeziehung gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen (BVerfG 7.5.2013 aaO
Rn 83; vgl. zur Frage der Gleichstellung "faktischer Stiefkinder" BVerfG 10.12.2004 - 1 BvR 2320/98, [...]). Nur wenn die Privilegierung der Ehe mit einer Benachteiligung anderer, in vergleichbarer Weise verbindlich verfasster
Lebensformen einhergeht, obwohl diese nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zwecken
vergleichbar sind, rechtfertigt der bloße Verweis auf das Schutzgebot der Ehe eine solche Differenzierung nicht (BVerfG 7.5.2013
aaO Rn 84). Da zwischen dem Kläger und seiner früheren Lebensgefährtin keine vergleichbar einer Ehe rechtlich verbindliche
Paarbeziehung bestand, liegt kein Verstoß gegen Art
3 Abs.
1 GG vor.
Die Eigenschaft des Klägers als Pflegeelternteil im Sinne des §
56 Abs.
3 Nr.
3 SGB I kommt nicht in Betracht, worüber zwischen den Beteiligten zu Recht kein Streit besteht. Voraussetzung für die Eigenschaft
als Pflegeelternteil ist, dass ein Obhuts- und Betreuungsverhältnis mit den leiblichen Eltern nicht mehr vorliegt (BSG 28.4.2004 - B 2 U 12/03 R, SozR 4-2700 §
70 Nr. 1 Rn 16; Lebich in Hauck/Noftz,
SGB I, K §
56 Rn 14; vgl. zum Waisenrentenrecht Keller in Hauck/Noftz,
SGB VII, K §
67 Rn 10). Solange beim Kläger ein Obhuts- und Betreuungsverhältnis zu den Kindern seiner Lebensgefährtin bestand, lag jedoch
auch ein solches zwischen dieser und ihren Kindern vor.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG).