Sozialgerichtliches Verfahren
Klagerücknahmefiktion
Betreibensaufforderung
formelle Voraussetzungen
fehlende Klagebegründung
Wegfall des Rechtsschutzinteresses
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die fiktive Rücknahme einer Klage im Verfahren vor dem Sozialgericht Magdeburg.
Die 1953 geborene Klägerin bezog Arbeitslosengeld bis zum 30. Dezember 2011. Sie lebte von ihrem Ehemann getrennt in einer
Mietwohnung. Dieser zahlte ihr aufgrund eines Vergleichs vom 10. November 2011 Trennungsunterhalt i.H.v. 450 €/Monat. Zusätzlich
waren ab Dezember 2011 ratenweise Nachzahlungen i.H.v. je 200 €/Monat auf den rückständigen Unterhalt zu leisten. Die Klägerin
erzielte Erwerbseinkommen i.H.v. 120 € im Dezember 2011 und i.H.v. 65 € im Januar 2012.
Sie beantragte beim Beklagten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II) ab dem 31. Dezember 2011. Mit Bescheid vom 29. Dezember 2011 lehnte der Beklagte die Bewilligung von Leistungen für den
31. Dezember 2011 ab. Mit Bescheid vom 18. Januar 2012 bewilligte er Leistungen für die Zeit von Januar bis Juni 2012. Als
Einkommen berücksichtigte er Unterhalt i.H.v. 650 €, für Januar 2012 außerdem ein Erwerbseinkommen i.H.v. 185 €.
Daraufhin erhob die Klägerin am 31. Januar 2012 Widerspruch. Das für Januar 2012 angerechnete Erwerbseinkommen habe sie teilweise
davor erzielt. Außerdem dürfe der Trennungsunterhalt i.H.v. 200 € nicht angerechnet werden. Denn im Jahr 2011 habe ihr Sohn
die Mietzahlungen übernommen; diesen Betrag habe sie zurückzuzahlen.
Mit Änderungsbescheid vom 22. Februar 2012 korrigierte der Beklagte die Anrechnung des Erwerbseinkommens für Januar 2012 und
berücksichtigte nur noch Erwerbseinkommen i.H.v. 65 €. Es folgten weitere Änderungsbescheide für die Zeit von Januar bis Juni
2012. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 2012 als unbegründet zurück.
Auf die dagegen erhobene Klage (S 21 AS 272/13) verurteilte das Sozialgericht den Beklagten auf dessen Anerkenntnis mit Gerichtsbescheid vom 28. Juni 2017, an die Klägerin
insgesamt weitere 123,18 € für den Zeitraum Januar bis Juni 2012 zu zahlen. Im Übrigen wies es die Klage ab. Der Trennungsunterhalt
bleibe jedoch nicht teilweise nach § 11a SGB II unberücksichtigt. Die dagegen gerichtete Berufung ist mit Urteil des erkennenden Senats vom 14. Februar 2018 (L 5 AS 503/17) zurückgewiesen worden.
Die Klägerin erhob bereits am 28. November 2012 beim Sozialgericht Magdeburg Untätigkeitsklage (S 21 AS 3872/12) und begehrte unter dem 11. Februar 2014 die Bescheidung ihres Antrags vom 31. Januar 2012 für Dezember 2011 sowie Mai bis
Juni bzw. März bis Juni 2011.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 17. März 2014 den Antrag vom 31. Januar 2012 betreffend den Bescheid vom 18. Januar 2012
ab. Es bestehe kein Anspruch für Dezember 2011 wegen der Anrechnung von Einkommen. Für den Zeitraum ab März 2011 werde eine
Überprüfung abgelehnt, weil keine Antragstellung vorgelegen habe. Dagegen legte die Klägerin am 20. März 2014 Widerspruch
ein und rügte, von dem Trennungsunterhalt dürften 200 € nicht angerechnet werden. Eine Angabe über den maßgeblichen Zeitraum
enthielt das Schreiben nicht. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 3. April 2014 wegen „Ablehnung
der Überprüfung des Bescheids vom 18.01.2012 (Höhe der Leistungen für den Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 30.6.2012)“ zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 28. April 2014 Klage beim Sozialgericht Magdeburg gehoben (S 21 AS 1305/14). Auch nach mehreren Aufforderungen hat sie keine Begründung vorgelegt.
Die Kammervorsitzende hat die Klägerin unter dem 2. März 2016 aufgefordert, die Klage innerhalb von drei Monaten zu begründen
und hat auf die Rechtsfolgen in §
102 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) verwiesen. Sowohl die Verfügung als auch das Anschreiben sind von der Kammervorsitzenden eigenhändig unterschrieben worden.
Das Anschreiben ist der Klägerin am 10. März 2016 zugestellt worden. Mit Verfügung vom 13. Juni 2016 ist das Verfahren als
zurückgenommen statistisch ausgetragen worden.
Am 21. Juni 2016 hat die Klägerin mitgeteilt, dass sie die Klage nicht zurückgenommen habe. Vorsorglich werde Fortsetzungs-
bzw. Wiederaufnahmeantrag gestellt und auf die Widerspruchsbegründung Bezug genommen.
Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 18. November 2019 festgestellt, dass die Klage gemäß §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG durch fingierte Klagerücknahme beendet sei. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung hätten vorgelegen.
Insbesondere habe Anlass bestanden, vom Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen. Die Betreibensaufforderung sei auch
formell ordnungsgemäß ergangen. Die Klägerin habe das Klageverfahren nicht innerhalb von drei Monaten nach deren Zugang betrieben.
Dagegen hat die Klägerin am 11. Dezember 2019 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Sie habe mehrfach
nach dem 13. Juni 2016 die Fortsetzung des Klageverfahrens begehrt. Anhaltspunkte für ein mangelndes Rechtsschutzbedürfnis
bestünden nicht. Eine Klagebegründung sei entgegen der Auffassung des Sozialgericht gerade nicht erforderlich (Hinweis auf
Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg, Urteil vom 17. April 2013, L 5 KR 605/12). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) komme eine Rücknahmefiktion nur in Ausnahmefällen in
Betracht. Die erforderliche Gesamtwürdigung fehle vorliegend. Zur Begründung ihrer Klage hat sie unter dem 11. Mai 2021 ausgeführt,
von dem Trennungsunterhalt dürften 200 € für die Zeit von Januar bis Juni 2012 nicht angerechnet werden. In der mündlichen
Verhandlung des Rechtsstreits hat sie als streitigen Zeitraum das Jahr 2011 angegeben. Ferner hat sie gerügt, das Sozialgericht
hätte nicht durch Gerichtsentscheid entscheiden dürfen.
Die Klägerin beantragt
den Gerichtsbescheid vom 18. November 2019 aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht Magdeburg zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte
und der Verwaltungsakten des Beklagten ergänzend verwiesen. Diese sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung ist fristgerecht erhoben und zulässig.
Sie ist insbesondere statthaft gemäß §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG, der auch in den Fällen prozessualer Vorfragen wie einer Klagerücknahmefiktion Anwendung findet (Bundessozialgericht [BSG],
Urteil vom 19. März 2020, B 4 AS 4/20 R [16]; Juris). Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 750 € übersteigt.
Die Klägerin begehrt höhere Leistungen nach dem SGB II für Januar bis Juni 2012 ohne Anrechnung von 200 € monatlich aus der Unterhaltsnachzahlung (= 1.200 €). Unerheblich ist insoweit,
dass sie ihr Begehren in der mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits auf das Jahr 2011 korrigiert hat. Auch unter Zugrundelegung
der Begründung der Untätigkeitsklage vom 11. Februar 2014 wären fünf Monate des Jahres 2011 im Streit (= 800 €).
II.
Die Berufung ist jedoch unbegründet, da der angefochtene Gerichtsbescheid vom 18. November 2019 nicht zu beanstanden ist.
Das erstinstanzliche Klageverfahren ist durch eine fiktive Klagerücknahme beendet worden. Denn die tatbestandlichen Voraussetzungen
für diese Fiktion haben vorgelegen.
Gemäß §
102 Abs.
2 SGG gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn eine Klägerin das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate
nicht betreibt (Satz 1). Eine solche fiktive Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (Satz 2 i.V.m. Abs.
1 Satz 2 der Vorschrift). Die Klägerin ist in der Betreibensaufforderung auf die sich nach Satz 1 ergebenden Rechtsfolgen
hinzuweisen (Satz 3).
Bei der fiktiven Klagerücknahme handelt es sich um eine gesetzliche Regelung für Fälle, in denen das Rechtsschutzinteresse
an einem Verfahren entfallen ist (BT-Drucks. 16/7716, S. 19 zu Nr.
17). Dies steht mit Art.
19 Abs.
4 GG in Einklang, wobei der Ausnahmecharakter bei ihrer Auslegung und Anwendung im Hinblick auf die Rechtsschutzgewährleistung
zu beachten ist (BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1993, 2 BvR 1972/92 [12 f]; BSG, Urteil vom 4. April 2017, B 4 AS 2/16 R [21]; beide Juris). Es müssen daher konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluss zulassen, dass einem Beteiligten
an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1998, 2 BvR 2662/95 [19]; Juris).
1.
Die formellen Voraussetzungen einer Betreibensaufforderung i.S.d. §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG sind vorliegend erfüllt.
Die Klagerücknahmefiktion kann einen Rechtsstreit nur beenden, wenn zuvor der Klägerin vom Gericht eine wirksame Betreibensaufforderung
zugegangen ist (§
102 Abs.
2 Satz 1
SGG). Eine Betreibensaufforderung muss vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet worden sein; ein den
Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Die Aufforderung muss konkret und klar sein (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl., §
102 Rn. 8c). Die Adressatin der Aufforderung ist darin auf die Rechtsfolgen, die gemäß §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG eintreten können, hinzuweisen (§
102 Abs.
2 Satz 3
SGG). Schließlich ist die Betreibensaufforderung der Klägerin oder ggf. ihrer Bevollmächtigten zuzustellen (BSG, Urteil vom 4. April 2017, B 4 AS 2/16 R, [24]).
a.
Die zuständige Kammervorsitzende beim Sozialgericht Magdeburg hat die Betreibensaufforderung vom 2. März 2016 mit vollem Namen
unterschrieben. Die Aufforderung ist dem Bevollmächtigten der Klägerin mit Postzustellungsurkunde am 10. März 2016 förmlich
zugestellt worden. Die Aufforderung hat den erforderlichen Hinweis auf die Rechtsfolgen enthalten, die gemäß §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG eintreten können.
b.
Die Betreibensaufforderung ist auch inhaltlich konkret und klar gewesen.
Die Klägerin ist zuvor mit mehreren gerichtlichen Verfügungen zur Vorlage einer Klagebegründung aufgefordert worden. Auch
die Betreibensaufforderung vom 2. März 2016 hat die konkrete Handlungsaufforderung enthalten, die Klage zu begründen.
c.
Diese Mitwirkungshandlung durfte auch vom Sozialgericht eingefordert werden.
Für eine Betreibensaufforderung genügt nicht jegliche Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit. Vielmehr ist nur das Unterlassen
der prozessualen Handlungen beachtlich, die das Gericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung
es für notwendig hält (vgl. BSG vom 1. Juli 2010, B 13 R 74/09 R [52]; Urteil vom 4. April 2017, a.a.O. [29]; beide Juris). Denn es gehört zu den Aufgaben des Gerichts, den Rechtsstreit
bis zur Entscheidungsreife zu fördern. Dabei sind unklare Anträge auszuräumen, es ist auf die Stellung sachdienlicher Anträge
hinzuwirken und die wesentlichen Einwendungen der Beteiligten sind zu klären (§
106 Abs.
1 und
2 SGG). Dafür ist eine Klägerin nicht von Mitwirkungsobliegenheiten freigestellt (§
92 Abs.
1 Satz 3, 4 und Abs.
2 SGG). Ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses kann nicht allein aus dem Umstand gefolgert werden, dass eine Klägerin ihre Klage
- gegebenenfalls trotz gerichtlicher Aufforderung - nicht begründet hat. Dies folgt schon daraus, dass das
SGG eine Klagebegründung im §
92 Abs.
1 Satz 4
SGG nicht zwingend vorschreibt. Das bedeutet aber nicht, dass das Fehlen einer Klagebegründung im Rahmen des §
102 Abs.
2 SGG völlig unbeachtlich wäre. Vielmehr kann dies im Zusammenschau mit den weiteren konkreten Umständen des Einzelfalls auf einen
Wegfall des Rechtsschutzinteresses hindeuten. Dies gilt etwa dann, wenn sich mangels Begründung gar nicht feststellen lässt,
was Klagegegenstand sein soll oder weshalb die Überprüfung eines angefochtenen Bescheids begehrt wird (so: Urteil des erkennenden
Senats vom 27. Februar 2020, L 5 AS 412/19 ).
Hier geben die Umstände des Einzelfalls Anlass zu der Feststellung, dass das Sozialgericht zu Recht von einem Wegfall des
Rechtsschutzinteresses ausgehen durfte:
Die Beteiligten sind offenkundig von unterschiedlichen Überprüfungszeiträumen im Rahmen des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) ausgegangen. Die Klägerin hatte nach ihrem Schriftsatz vom 11. Februar 2014 zur Untätigkeitsklage höhere Leistungen für
Dezember 2011 sowie Mai bis Juni bzw. März bis Juni 2011 ohne Anrechnung von 200 € monatlich begehrt. Im Bescheid vom 17.
März 2014 hatte der Beklagte zu Recht darauf verwiesen, dass für den Zeitraum ab März 2011 mangels Leistungsbezugs gar keine
Überprüfung zulässig sei. Der Widerspruchsbescheid vom 3. April 2014 betrifft wiederum die Ablehnung der Überprüfung des Bescheids
vom 18. Januar 2012 für den Zeitraum vom Januar bis Juni 2012. Im Rahmen der Berufungsbegründung hat die Klägerin ebenfalls
eine höhere Leistungsbewilligung zuerst für Januar bis Juni 2012 und zuletzt für 2011 begehrt. Für das Sozialgericht war daher
nicht im Geringsten erkennbar, was Streitgegenstand der erhobenen Klage sein sollte.
Die Frage des zur Überprüfung gestellten Zeitraums im Rahmen des § 44 SGB X ist von streitentscheidender Bedeutung gewesen. Wegen der möglichen unterschiedlichen Rechtsfolgen hat sich zur Bearbeitung
der Klage die Notwendigkeit ergeben, von der Klägerin in Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht den Streitgegenstand zu erfahren:
Die streitige Anrechnung des nachgezahlten Unterhalts i.H.v. 200 €/Monat war für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2012
bereits Gegenstand des seinerzeit anhängigen Klageverfahrens S 21 AS 272/13. Ein Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X setzt aber einen bestandskräftigen Verwaltungsakt voraus. Ein solcher Antrag wäre also während eines noch rechtshängigen
Verfahrens unzulässig gewesen. Insoweit hätte eine doppelte Rechtshängigkeit vorgelegen.
Sollte die Klägerin im Zugunstenverfahren eine höhere Leistungsbewilligung für den 31. Dezember 2011 begehrt haben, war eine
Klagebegründung ebenfalls nicht entbehrlich. Denn es ist nicht ersichtlich, welcher ungedeckte Hilfebedarf - ohne den nachgezahlten
Unterhalt - bei ihr vorgelegen haben sollte. Einem Leistungsanspruch für diesen Tag hätten schon das im Dezember 2011 erzielte
Einkommen aus Arbeitslosengeld (379,80 €), der Unterhalt (450 €) sowie das im Bescheid vom 29. Dezember 2011 noch gar nicht
berücksichtigte Einkommen aus Erwerbstätigkeit (120 €) entgegen gestanden (gesamt: 949,80 €).
Hinsichtlich eines Zeitraums von März bis Juni 2011 hätte gar kein zur Überprüfung zu stellender Leistungsbescheid des Beklagten
vorgelegen. Insoweit wäre ein Antrag nach § 44 SGB X von vornherein unzulässig gewesen.
2.
Die Betreibensaufforderung hat auch die Fiktion der Klagerücknahme ausgelöst (§
102 Abs.
2 Satz 1
SGG).
Die Klagerücknahmefiktion nach §
102 Abs.
2 SGG tritt nach Sinn und Zweck der Vorschrift sowie ihren verfassungsrechtlichen Grenzen nur ein, wenn neben den formellen Voraussetzungen
bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der Aufforderung „sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses“
vorliegen. Es handelt sich insoweit um eine ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung (BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1993, 2 BvR 1972/92 [12 f]; Bundesverwaltungsgericht [BVerwG] vom 5. Juli 2000, 8 B 119/00; BSG, Urteil vom 4. April 2017, a.a.O. [27]; alle Juris). Der Senat geht hinsichtlich der „sachlichen Anhaltspunkte“ für den Wegfall
des Rechtsschutzinteresses davon aus, dass dies einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls bedarf. Dabei sind sowohl die
Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung als auch das Verhalten der Klägerin zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2017, a.a.O. [28]).
Hier durfte das Sozialgericht berechtigt annehmen, dass die Klägerin das Interesse an dem Rechtsstreit verloren hatte. Denn
sie war mit mehreren Verfügungen erfolglos daran erinnert worden, die angeforderte Klagebegründung vorzulegen. Dabei ist weder
ersichtlich noch behauptet worden, dass und falls ja, welche Hinderungsgründe dem entgegengestanden hätten. Seit der Klageerhebung
am 28. April 2014 hatte die Klägerin sich in keiner Weise zum Streitgegenstand und zu einer Klagebegründung geäußert.
Auch aus dem Vorbringen im Berufungsverfahren ergibt sich kein anderes Bild. In der Berufungsbegründung vom 5. Mai 2021 hat
die Klägerin auf einen Zeitraum von Januar bis Juni 2012 abgestellt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat sie hingegen
Zeiträume im Jahr 2011 genannt.
3.
Die Klägerin hat auch nach Zugang der Betreibensaufforderung das Verfahren nicht betrieben. Sie hat in der Zeit zwischen der
Zustellung der Betreibensaufforderung am 10. März 2016 und dem Ablauf der 3-Monatsfrist am 10. Juni 2016 keine Klagebegründung
vorgelegt oder wenigstens den Streitgegenstand benannt.
Es kann dabei offenbleiben, ob die Klägerin nach dem 13. Juni 2016 mehrfach ein Fortsetzungsbegehren gegenüber dem Sozialgericht
geltend gemacht haben sollte. Denn maßgeblich ist allein die in der Betreibensaufforderung gesetzte 3-Monatsfrist.
4.
Das Sozialgericht hat zutreffend nicht geprüft, ob eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich ist. Denn die Frist
nach §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG ist eine Ausschlussfrist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. November 2002, 8 B 112/02 [2]; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Oktober 2012, L 19 AS 1437/12 B [17]; beide Juris).
5.
Das Vorbringen der Klägerin, wegen Divergenz zu einer Entscheidung des LSG Baden-Württemberg hätte das Sozialgericht nicht
durch Gerichtsbescheid entscheiden dürfen, geht ebenfalls fehl.
Im Kern rügt sie einen Verfahrensverstoß gegen §
105 Abs.
1 Satz 1
SGG, der aber nicht vorliegt. Wenn ein LSG in einer Einzelfallentscheidung eine fiktive Klagerücknahme verneint hat, ist es anderen
Gerichten nicht grundsätzlich verwehrt, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Dies ist nur unzulässig, wenn es sich um eine
Sache mit besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art handelt. Dies ist hier zur Überzeugung des Senats
nach den Gesamtumständen nicht der Fall gewesen.
Außerdem wäre gemäß §
159 Abs.
1 Nr.
2 SGG eine Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung an das Sozialgericht nicht zulässig. Voraussetzung ist ein wesentlicher
Mangel des Verfahrens, aufgrund dessen eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Dies ist hier nicht
der Fall.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs.
2 SGG).