Parallelentscheidung zu BSG B 14 AS 229/18 B v. 30.10.2019
Gründe:
Die Beschwerden der Klägerinnen gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG vom 16.11.2018 sind zulässig, denn
sie haben mit ihnen eine Verletzung von §
153 Abs
4 Satz 2
SGG und zugleich einen Verstoß gegen die grundrechtsgleichen Rechte auf den gesetzlichen Richter nach Art
101 Abs
1 Satz 2
GG sowie auf rechtliches Gehör nach Art
103 Abs
1 GG hinreichend bezeichnet (§
160a Abs 2 Satz 3 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 SGG). Die Beschwerden sind insoweit auch begründet.
Nach §
153 Abs
4 Satz 1
SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung
für nicht erforderlich hält, falls die mit dem Rechtsmittel angefochtene Entscheidung des SG kein Gerichtsbescheid ist. Nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG sind die Beteiligten vorher zu hören. Diesem rechtlichen Gehör ist Genüge getan, wenn den Beteiligten mit der Anhörungsmitteilung
Gelegenheit sowohl zur Äußerung von etwaigen Bedenken, die sie gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und ohne
Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter haben, als auch zur Stellungnahme in der Sache selbst eingeräumt wird. Wenn nach einer
ersten Anhörungsmitteilung in qualifizierter Weise vorgetragen wird und das LSG auch unter Würdigung dieses neuen Vorbringens
an seiner Absicht festhalten will, über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nur durch die Berufsrichter
zu entscheiden, bedarf es einer erneuten Anhörungsmitteilung nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG mit Gelegenheit zur Äußerung hierzu. Denn das Anhörungserfordernis nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG ist aus verfassungsrechtlichen Gründen zugunsten der Beteiligten weit auszulegen, weil die Anhörungsmitteilung die ansonsten
durch die mündliche Verhandlung ermöglichte umfassende Anhörung der Beteiligten adäquat kompensieren soll. Eine erneute Anhörung
ist indes aus Gründen der Prozessökonomie nicht erforderlich, wenn das nach der ersten Anhörungsmitteilung erfolgte Vorbringen
nicht entscheidungserheblich, ohne jegliche Substanz oder bloß wiederholend ist. Doch muss das neue Vorbringen entscheidungserheblich
nicht in dem Sinne sein, dass es auch Grundlage für eine zulässige und begründete, nicht auf die Verletzung des Rechts auf
den gesetzlichen Richter gestützte Verfahrensrüge sein könnte. Denn sonst würde in diesen Konstellationen die prozessuale
Absicherung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts auf den gesetzlichen Richter ins Leere laufen (vgl zu diesen Maßstäben
letztens BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 155/16 B und B 14 AS 156/16 B - jeweils juris RdNr 2 mit Nachweisen älterer Rechtsprechung; zur Kritik an diesen Maßstäben vgl Burkiczak, NVwZ 2016,
806, 811 ff).
Vorliegend fehlt es an der erforderlichen erneuten Anhörung. Nach der Anhörungsmitteilung durch das LSG vom 4.10.2018 mit
einer Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 15.11.2018 nahm der Prozessbevollmächtigte der Klägerinnen am 12.11.2018 Stellung
und trug - durch Verweis auf einen Schriftsatz im Parallelverfahren - ua erstmals dazu vor, dass Rechtsgrundlage der angefochtenen
Bescheide (Berücksichtigung von Einkommen im durch endgültige Bescheide geregelten Bewilligungszeitraum) nicht § 48 SGB X, sondern nur - unter wesentlich strengeren Voraussetzungen - § 45 SGB X sein könne, denn das beklagte Jobcenter habe nach der Rechtsprechung des BSG wegen prospektiv schwankenden Einkommens lediglich vorläufig Leistungen bewilligen dürfen. Aufgrund dieser Stellungnahme
haben die Klägerinnen eine erneute Mitteilung des LSG erwarten dürfen, über die Berufung zu ihren Ungunsten durch Beschluss
ohne mündliche Verhandlung nur durch die Berufsrichter entscheiden zu wollen, wenn es an diesem Vorhaben festhalten wollte.
Denn die Stellungnahme vom 12.11.2018 enthält weder eine bloße Wiederholung der Berufungsbegründung noch sonst bloß Entscheidungsunerhebliches
oder Substanzloses, sondern mit ihr ist seitens der Klägerinnen im Berufungsverfahren erstmals zu einem relevanten rechtlichen
Gesichtspunkt vorgetragen worden. Hierdurch hat sich die Prozesssituation nach der ersten Anhörung im oben beschriebenen Sinne
entscheidungserheblich geändert (zur Qualifizierung von Vortrag als neu und relevant vgl auch BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 37/17 B - juris RdNr 9 f). Das LSG hat indes nach Eingang der Stellungnahme der Klägerinnen nicht durch eine erneute Anhörungsmitteilung
deutlich gemacht, an seiner beabsichtigten Entscheidung über die Berufung durch Beschluss festhalten zu wollen, sondern den
Schriftsatz vom 12.11.2018 am 14.11.2018 dem Beklagten zur Stellungnahme übersandt, sodann jedoch ohne weitere Ankündigung
gegenüber den Beteiligten am 16.11.2018 durch den angefochtenen Beschluss entschieden.
In diesem Beschluss gibt das LSG den Vortrag der Klägerinnen zu §§ 45 und 48 SGB X im Tatbestand wieder, ohne diesen in den Entscheidungsgründen als von vornherein unmaßgeblich zu bewerten. Es beurteilt den
hierin ggf liegenden Austausch der Rechtsgrundlage als im Ergebnis unbeachtlich, ohne den Klägerinnen zu den dafür maßgeblichen
tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten im Rahmen des § 45 SGB X zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
Wegen des vorliegenden Verfahrensmangels der unterbliebenen notwendigen erneuten Anhörung war das LSG bei seinem Beschluss
nicht vorschriftsmäßig besetzt. Denn eine Verletzung des §
153 Abs
4 Satz 2
SGG durch eine unterbliebene Anhörung führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern
und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes (§
547 Nr 1
ZPO iVm §
202 Satz 1
SGG), bei dem eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen ist (vgl letztens BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 155/16 B und B 14 AS 156/16 B - jeweils juris RdNr 4 mit Nachweisen älterer Rechtsprechung). Dieser die angefochtene Entscheidung des LSG insgesamt betreffende
absolute Revisionsgrund führt zur Aufhebung und Zurückverweisung (§
160a Abs
5 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.