Rente wegen Erwerbsminderung
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Gründe
I
Die im Jahre 1975 geborene Klägerin begehrt eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Die Beklagte lehnte einen Rentenantrag der Klägerin vom 6.2.2015 nach Einholung diverser Befund- und Behandlungsberichte sowie
eines orthopädischen Sachverständigengutachtens ab (Bescheid vom 13.11.2015; Widerspruchsbescheid vom 10.8.2016). Das SG hat im Klageverfahren zunächst ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten und auf Antrag der Klägerin ein weiteres orthopädisches
Gutachten eingeholt. Mit Urteil vom 23.4.2018 hat es - im Wesentlichen dem zweiten orthopädischen Gutachten folgend - die
Beklagte unter Aufhebung der Bescheide verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aus Arbeitsmarktgründen
aufgrund eines Leistungsfalls vom 13.9.2017 beginnend am 1.4.2018 bis zum 31.3.2020 zu gewähren. Auf die Berufung der Beklagten
hat das LSG von Amts wegen ein orthopädisches und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten sowie auf Antrag der Klägerin
ein weiteres neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt. Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 26.1.2022 hat es
das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es stehe zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin noch in der Lage sei, mindestens
sechs Stunden täglich körperlich leichte Arbeiten mit qualitativen Leistungseinschränkungen zu verrichten. Der Senat treffe
die Feststellungen aufgrund der medizinischen Unterlagen, insbesondere des im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachtens
sowie der von Amts wegen im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren eingeholten Gutachten. Gestützt werde das Beweisergebnis
durch den Umstand, dass die Klägerin über Jahre einer geringfügigen Beschäftigung nachgegangen sei.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie rügt Verfahrensmängel.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, weil sie nicht formgerecht begründet ist. Die Klägerin hat einen
Verfahrensmangel iS des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG nicht nach Maßgabe der Erfordernisse des §
160a Abs
2 Satz 3
SGG bezeichnet. Die Beschwerde ist daher gemäß §
160a Abs
4 Satz 1 iVm §
169 SGG zu verwerfen.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung
beruhen könne (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG), müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG) zunächst die den Verfahrensfehler (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist
es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem
Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 Satz 1
SGG und auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist.
Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung der Klägerin nicht gerecht. Sie rügt zunächst eine Verletzung des §
103 SGG, weil das LSG einem Beweisantrag ohne ausreichende Begründung nicht gefolgt sei. Das LSG habe mit Schreiben vom 14.1.2022
unter anderem mitgeteilt, dass weiterhin beabsichtigt sei, im Rahmen der Senatssitzung am 26.1.2022 durch Urteil ohne mündliche
Verhandlung zu entscheiden, und es folgende Anträge der Klägerin zu Grunde legen werde: "Die Klägerin beantragt, die Berufung
der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise ein interdisziplinäres Gesamtgutachten einzuholen". Im Urteil sei der vom LSG vorher
selbst formulierte Hilfsantrag ohne jede Begründung nicht wiedergegeben worden. Fließe ein derartiger Antrag in das Urteil
überhaupt nicht ein, so liege bereits hierin ein Verfahrensmangel, ganz abgesehen davon, dass eine Begründung insoweit durch
das Berufungsgericht nicht vorliege. Die angefochtene Entscheidung könne auch auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Es bestehe
in jedem Fall die Möglichkeit, dass eine Entscheidung über den Hilfsantrag ggf zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis
geführt hätte, selbst wenn man die Rechtsauffassung des LSG zu Grunde lege.
Wird ein Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht geltend gemacht, muss die Beschwerdebegründung hierzu jeweils
folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, bis zum Schluss aufrechterhaltenen
prozessordnungsgemäßen Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund
derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag
berührten Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses
der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft
unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme
von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (stRspr; vgl BSG Beschluss vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 3.4.2020 - B 9 SB 71/19 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 13.5.2022 - B 5 R 20/22 B - juris RdNr 6; Fichte in Fichte/Jüttner,
SGG, 3. Aufl 2020, §
160a RdNr 56; Voelzke in jurisPK-
SGG, §
160a RdNr 173, Stand der Einzelkommentierung 15.6.2022).
Mit ihrem Vorbringen hat die Klägerin bereits nicht aufgezeigt, dass sie beim LSG einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag
gestellt hat. Das bloße Verlangen, ein interdisziplinäres Gesamtgutachten einzuholen, ist nicht ausreichend. Ein prozessordnungsgemäßer
Beweisantrag muss vielmehr benennen, über welche im Einzelnen bezeichneten Punkte (vgl §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
403 ZPO) und mit welchem Ziel Beweis erhoben werden soll (vgl BSG Beschluss vom 17.5.2022 - B 5 R 21/22 B - juris RdNr 7). Der Beweisantrag im Rentenstreitverfahren muss sich möglichst präzise mit den Folgen dauerhafter Gesundheitsbeeinträchtigungen
auf das verbliebene berufliche Leistungsvermögen befassen. Je mehr Aussagen von Sachverständigen zum Beweisthema bereits vorliegen,
desto genauer muss der Beweisantragsteller von ihm behauptete Unterschiede zum Gegenstand des Beweisthemas machen (vgl BSG Beschluss vom 26.1.2017 - B 13 R 337/16 B - juris RdNr 7; BSG Beschluss vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6). Beweisanträge, die so unbestimmt bzw unsubstantiiert sind, dass im Grunde erst die Beweisaufnahme selbst die entscheidungs-
und damit beweiserheblichen Tatsachen aufdecken soll bzw die allein den Zweck haben, dem Beweisführer, der nicht genügend
Anhaltspunkte für seine Behauptungen angibt, erst die Grundlage für substantiierte Tatsachenbehauptungen zu verschaffen, sind
als Beweisausforschungs- bzw -ermittlungsanträge auch im vom Amtsermittlungsgrundsatz geprägten sozialgerichtlichen Verfahren
unzulässig (vgl BSG Beschluss vom 17.7.2019 - B 5 R 191/18 B - juris RdNr 7 mwN).
Ebenso wenig ist der Beschwerdebegründung zu entnehmen, warum das LSG sich zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen
müssen und weshalb das voraussichtliche Ergebnis der unterbliebenen Beweisaufnahme durch Einholung eines "interdisziplinären
Gesamtgutachtens" dazu geführt hätte, dass das Berufungsgericht zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung hätte gelangen
können. Ein Tatsachengericht, das - wie hier - mehrere Gutachten aus verschiedenen medizinischen Fachrichtungen eingeholt
hat, ist allenfalls (und auch erst) dann verpflichtet, einen Sachverständigen zusätzlich mit einer Gesamtbeurteilung aller
bereits vorliegenden Gutachtenergebnisse zu beauftragen, wenn sich die aus der Sicht der Fachgebiete jeweils festgestellten
Defizite überschneiden und ggf potenzieren können (stRspr; zB BSG Urteil vom 10.12.2003 - B 5 RJ 24/03 R - SozR 4-1500 § 128 Nr 3 RdNr 22; BSG Beschluss vom 6.9.2017 - B 5 R 51/17 B - juris RdNr 12 mwN). Diesbezügliche Anhaltspunkte sind der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen.
Soweit die Klägerin eine Verletzung der Vorschrift des §
124 Abs
2 SGG rügt, da das LSG ihren Hilfsantrag im Urteil nicht erwähnt habe, sie ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung aber nur im Zusammenhang mit den im gerichtlichen Schreiben vom 14.1.2022 aufgeführten Anträgen erteilt habe,
ist ebenfalls kein Verfahrensfehler hinreichend dargetan. Mit der Anfrage zur Zustimmung zu einer Entscheidung nach §
124 Abs
2 SGG bringt das Gericht zum Ausdruck, dass es das Verfahren für entscheidungsreif hält. Inwiefern das grundsätzlich vorbehaltlos
zu erteilende Einverständnis hier ausnahmsweise und in zulässiger Weise eingeschränkt worden sein soll, hat die Klägerin nicht
dargelegt.
Die Klägerin hat auch eine Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß §
62 SGG nicht hinreichend dargetan. Sie ist der Auffassung, das LSG habe die näheren Umstände ihrer Beschäftigung aufklären und sie
darauf hinweisen müssen, dass es wesentlich auf die Umstände und die Art und Weise der Beschäftigung ankomme.
Damit hat die Klägerin weder eine Gehörsverletzung aufgrund einer Überraschungsentscheidung noch eine Verletzung der richterlichen
Hinweispflichten entgegen §
160a Abs
2 Satz 3
SGG schlüssig und nachvollziehbar dargelegt. Eine allgemeine Verpflichtung des Gerichts, die Beteiligten vor einer Entscheidung
auf eine in Aussicht genommene Tatsachen- und Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung
möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern, gibt es nicht. Sie wird weder durch den allgemeinen
Anspruch auf rechtliches Gehör aus §
62 SGG bzw Art
103 Abs
1 GG noch durch die Regelungen zu richterlichen Hinweispflichten (§
106 Abs 1 bzw §
112 Abs
2 Satz 2
SGG) begründet, denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung
(vgl BSG Beschluss vom 13.4.2022 - B 5 R 291/21 B - juris RdNr 20 mwN). Von einer Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis
auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf
nicht zu rechnen brauchte (stRspr; vgl BSG aaO RdNr 21 mwN). Die Klägerin hat hier nicht aufgezeigt, weshalb sie angesichts des bisherigen Verfahrensverlaufs nicht mit der vom LSG vorgenommenen
Bewertung rechnen musste. Zudem fehlt es an Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit. Das LSG hat sich entscheidend auf
die medizinischen Gutachten gestützt und den Umstand, dass die Klägerin jahrelang einer geringfügigen Beschäftigung nachgegangen
ist, lediglich als weiteres Argument für seine Auffassung angeführt.
Soweit darüber hinaus auch mangelhafte Sachaufklärung geltend gemacht wird, kommt der Gehörsrüge keine eigenständige Bedeutung
zu. Die besonderen gesetzlichen Anforderungen an die Sachaufklärungsrüge dürfen durch ein Ausweichen auf die Gehörsrüge nicht
umgangen werden. Andernfalls liefen die Beschränkungen, die §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG für die Sachaufklärungsrüge normiert, im Ergebnis leer. Deshalb hängt die Zulässigkeit der Beschwerde ausschließlich von
den Voraussetzungen der Sachaufklärungsrüge ab (vgl BSG Beschluss vom 28.5.2013 - B 5 R 38/13 B - juris RdNr 12; BSG Beschluss vom 12.5.2020 - B 12 KR 1/20 B - juris RdNr 12). Den sich daraus ergebenden Erfordernissen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Klägerin hat ausgehend von ihrer
Sachverhaltsschilderung bereits keinen bis zum Schluss aufrechterhaltenen Beweisantrag bezüglich ihrer geringfügigen Beschäftigung
gestellt.
Indem sich die Klägerin letztlich gegen die Beweiswürdigung (§
128 Abs
1 Satz 1
SGG) des LSG wendet, lässt sie unberücksichtigt, dass eine derartige Rüge im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausdrücklich
ausgeschlossen ist (§
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG). Erst recht ist nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde, ob die hiermit angegriffene Entscheidung rechtlich richtig
ist (vgl BSG Beschluss vom 20.10.2021 - B 5 R 230/21 B - juris RdNr 6 mwN).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl §
160a Abs
4 Satz 2 Halbsatz 2
SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.