Amtsermittlungsgrundsatz im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I
Die Klägerin begehrt als Sonderrechtsnachfolgerin ihres im November 1996 gestorbenen Ehemannes H. S. (Versicherter)
die Feststellung, dass bei diesem eine Berufskrankheit (BK) nach Nr 1302 der Anlage zur
Berufskrankheiten-Verordnung (
BKV), also eine Erkrankung durch Halogenkohlenwasserstoffe, bestanden hat.
Der Versicherte hatte bei seiner Tätigkeit in der PVC-Fabrikation im B. -C. in S.
rund dreißig Jahre lang Kontakt mit dem krebserregenden Halogenkohlenwasserstoff Vinylchlorid gehabt. Nachdem im Juli 1996
bei ihm Oberbauchbeschwerden aufgetreten waren, war eine umfangreiche Diagnostik durchgeführt worden, die den dringenden Verdacht
auf eine Krebserkrankung der Leber ergeben hatte. Die Art des Tumors hatte jedoch trotz einer Leberbiopsie nicht geklärt werden
können. Am 28. November 1996 war der Versicherte an Leberversagen gestorben. Eine Autopsie wurde nicht durchgeführt.
Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) lehnte die Anerkennung der Lebererkrankung als BK Nr 1302 der Anlage zur
BKV ab, da ohne Obduktion und histologische Untersuchung nicht gesagt werden könne, ob es sich bei dem Leberkrebs um einen durch
schädliche berufliche Einwirkungen verursachten Primärtumor oder um die Tochtergeschwulst eines anderen, nicht mit der Berufstätigkeit
in Zusammenhang stehenden Tumors, etwa eines früher durchgemachten und nicht endgültig ausgeheilten Kehlkopfkrebses oder eines
unentdeckt gebliebenen Karzinoms im Magen-Darm-Trakt oder in der Lunge, gehandelt habe (Bescheid vom 24. April 1997; Widerspruchsbescheid
vom 2. Dezember 1997). Im nachfolgenden Klageverfahren hat der vom Sozialgericht (SG) als Sachverständiger gehörte Internist und Arbeitsmediziner Dr. P. im Ergebnis bestätigt, dass mangels gesicherter
Befunde die Herkunft des Lebertumors letztlich ungeklärt und die berufliche Verursachung damit offen bleibe. Dem hat sich
der Arbeits- und Sozialmediziner Prof. Dr. W. in einer gutachtlichen Stellungnahme angeschlossen.
Das SG hat gleichwohl durch Urteil vom 5. Februar 2001 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Lebererkrankung
als BK Nr 1302 und den Tod des Versicherten als deren Folge anzuerkennen und der Klägerin die daraus resultierenden gesetzlichen
Leistungen zu gewähren. Zwar habe nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden können, um welche Art von Tumor es sich gehandelt
und wo er seinen Ausgang genommen habe. Das könne der Klägerin aber nicht entgegengehalten werden, weil die Beklagte es versäumt
habe, rechtzeitig auf die Notwendigkeit einer Obduktion hinzuweisen. Der dadurch entstandene Beweisnotstand müsse Beweiserleichterungen
zugunsten der Klägerin nach sich ziehen. Da alle Anzeichen für das Vorliegen eines primären Leberzellkrebses sprächen, sei
dieser als bewiesen anzusehen. Dass für die Entstehung eines solchen Tumors wahrscheinlich die berufliche Exposition gegenüber
Vinylchlorid verantwortlich sei, ergebe sich aus den ärztlichen Gutachten.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Entscheidung des SG hinsichtlich der Verurteilung zu Hinterbliebenenleistungen aufgehoben, da diese nicht Gegenstand des angefochtenen Bescheides
gewesen seien. Im Übrigen hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 26. August 2004). Es hat der Klägerin
zwar keine Beweiserleichterung zugebilligt, es aber im Sinne des Vollbeweises als erwiesen angesehen, dass es sich bei der
Krebserkrankung der Leber um einen Primärtumor und nicht um die Absiedlung einer an anderer Stelle lokalisierten Krebsgeschwulst
gehandelt habe. Der Versicherte sei nach Ausbruch der Krankheit einer umfangreichen Diagnostik unterzogen worden, die keinen
Anhalt für einen anderweitigen Tumor ergeben habe. Infolgedessen sei der Senat vom Vorliegen eines Leberzellkarzinoms überzeugt.
Dass sich die Ärzte Dr. P. und Prof. Dr. W. mangels einer histologischen Untersuchung des erkrankten
Gewebes nicht in der Lage gesehen hätten, hinreichend sichere Aussagen über Art und Herkunft des Tumors zu treffen, hindere
die getroffene Feststellung nicht; denn das Gericht entscheide selbst in freier Beweiswürdigung, ob ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal
gegeben sei.
Mit der Beschwerde begehrt die Beklagte die Zulassung der Revision, weil das LSG einem von ihr gestellten Beweisantrag nicht
gefolgt sei und damit seine Sachaufklärungspflicht verletzt habe.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz ergangen.
Dieser von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel führt gemäß §
160a Abs
5 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Das LSG hat seine in §
103 SGG normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es dem von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung
gestellten Antrag auf Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens zur Frage des Nachweises einer als
BK anzuerkennenden Lebererkrankung ohne hinreichende Begründung nicht entsprochen hat. Die Wendung "ohne hinreichende Begründung"
in §
160 Abs
2 Nr
3 SGG ist nicht formell, sondern materiell im Sinne von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Es
kommt darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen wäre, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis
zu erheben. Die Amtsermittlungspflicht ist verletzt, wenn entscheidungserhebliche Tatsachen offen geblieben sind, sei es,
weil die notwendigen Feststellungen überhaupt fehlen oder weil sie nicht prozessordnungsgemäß zustande gekommen sind. Das
Letztere macht die Beschwerde hier mit Recht geltend, indem sie rügt, das LSG habe mangels eigener medizinischer Sachkunde
nicht ohne sachverständige Hilfe vom Nachweis eines primären Leberzellkarzinoms ausgehen dürfen, insbesondere nachdem alle
im Verfahren gehörten ärztlichen Gutachter sich wegen des Fehlens histologischer Befunde zu Aussagen über Art und Herkunft
der Krebserkrankung außerstande gesehen hätten.
Die vom LSG für die Ablehnung des Beweisantrags angeführten Gründe sind nicht geeignet, das beanstandete Vorgehen zu rechtfertigen.
Richtig ist, dass das Gericht über das Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen unter Berücksichtigung aller erreichbaren
Indizien in freier Beweiswürdigung und ohne Bindung an vorhandene Gutachten entscheidet. Bei der Beurteilung medizinischer
Sachverhalte sind der richterlichen Beweiswürdigung aber Grenzen gesetzt, die sich aus dem Fehlen eigener Sachkunde und dem
Angewiesensein auf fremden Sachverstand ergeben. Der Richter kann ärztliche Äußerungen kritisch würdigen und sich bei divergierenden
Gutachten für eine Auffassung entscheiden, sofern sich die Plausibilität der jeweiligen medizinischen Aussagen ohne einschlägige
Fachkenntnisse beurteilen lässt. Die Grenzen freier Beweiswürdigung sind jedoch überschritten, wenn er in einer medizinischen
Frage trotz fehlender Sachkenntnis seine eigene abweichende Meinung an die Stelle derjenigen des ärztlichen Gutachters setzt.
Das ist hier geschehen, auch wenn das Berufungsgericht seine Auffassung vordergründig mit Hilfstatsachen wie dem fehlenden
Nachweis einer anderweitigen Krebserkrankung begründet hat, deren Feststellung für sich genommen keine spezielle Sachkunde
erfordert. Denn ob angesichts der Vorgeschichte und der aktenkundigen Untersuchungsergebnisse die Diagnose eines primären
Leberzellkarzinoms als gesichert gelten kann oder nicht, ist eine medizinische Frage, die sich letztlich nur mit ärztlichem
Fach- und Erfahrungswissen beantworten lässt. Nachdem alle mit der Sache befassten Gutachter die Frage verneint und bekundet
hatten, dass eine hinreichend sichere Aussage über die Art der Erkrankung nur nach feingeweblicher Untersuchung und Klassifizierung
des Tumors möglich sei, hätte sich das Gericht gedrängt fühlen müssen, einen weiteren Sachverständigen zu hören, wenn es dem
nicht folgen wollte.
Auf der Verletzung der Sachaufklärungspflicht kann die angefochtene Entscheidung beruhen, denn es ist denkbar, dass das LSG
nach weiteren Ermittlungen zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
Der Senat hat von der durch §
160a Abs
5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten
Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. In einem
etwaigen Revisionsverfahren könnte über den erhobenen Anspruch nicht abschließend entschieden werden, weil die dazu notwendigen
Tatsachenfeststellungen fehlen. Ob die Krebserkrankung des verstorbenen Ehemanns der Klägerin als BK anzuerkennen ist, hängt
nach Einschätzung der ärztlichen Sachverständigen, der sich das Berufungsgericht angeschlossen hat, von dem Nachweis ab, dass
es sich um einen primär in der Leber entstandenen Tumor gehandelt hat, weil nur dann der ursächliche Zusammenhang zwischen
den schädigenden Einwirkungen am Arbeitsplatz und dem Gesundheitsschaden (haftungsbegründende Kausalität) überwiegend wahrscheinlich
ist. Ob dieser Nachweis geführt ist, hat - gegebenenfalls nach weiteren Ermittlungen - das Tatsachengericht zu entscheiden.
In rechtlicher Hinsicht können sich Konsequenzen für die Beweiswürdigung ergeben, wenn sich herausstellen sollte, dass die
Beklagte pflichtwidrig an der notwendigen Beweiserhebung nicht mitgewirkt oder sie vereitelt hat, wie dies das SG in erster Instanz angenommen hatte. In einem solchen Fall kommt auch im Sozialgerichtsprozess der aus §
444 der
Zivilprozessordnung entwickelte allgemeine Rechtsgedanke zum Tragen, dass derjenige, der durch schuldhaftes Handeln oder Unterlassen eine an
sich mögliche Beweisführung vereitelt, sich gegebenenfalls so behandeln lassen muss, als sei die Beweisführung gelungen. Hat
ein pflichtwidriges Verhalten des Versicherungsträgers den beweisbelasteten Versicherten in eine Beweisnot gebracht, kann
der Tatrichter dieses Verhalten als einen für die Wahrheit des Vorbringens des Versicherten sprechenden Umstand berücksichtigen
und daraus im Rahmen der freien Beweiswürdigung den Schluss ziehen, dass der Beweis geführt sei (BSG SozR 3-1750 § 444 Nr
1; BSGE 77, 140, 145 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 12 S 47; BSG SozR Nr 60 zu §
128 SGG; noch weiter gehend im Sinne einer Beweislastumkehr: BSGE 41, 297 = SozR 2200 § 1399 Nr 4). Ob im vorliegenden Fall der Beklagten ein schuldhaftes Unterlassen bei der Aufklärung des Sachverhalts
zur Last fällt, das Schlussfolgerungen zugunsten der Klägerin rechtfertigt, kann mangels entsprechender Feststellungen im
angefochtenen Urteil ebenfalls nicht entschieden werden.
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.