Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Auszubildende, Leistung als Darlehen in besonderen Härtefällen
Gründe:
Die unter Beachtung der Vorschrift des §
173 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers, der das Sozialgericht Reutlingen (SG) nicht abgeholfen hat (§ 174
SGG), ist begründet. Der angefochtene Beschluss lehnt zu Unrecht den Erlass einer einstweiligen Anordnung ab.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 1
SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 aaO. vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf
den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung
eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur
Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 aaO.). Die §§
920,
921,
923,
926,
928 bis
932,
938,
939 und
945 ZPO gelten entsprechend (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG).
Der hier allein in Betracht kommende Erlass einer Regelungsanordnung nach §
86b Abs.
2 SGG verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer
vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164 (beide auch in juris; jeweils m.w.N.)). Die
Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung
(Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung (
ZPO)); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes
verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Mithin erforderlich ist sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund, die jedoch, gemessen an dem mit dem
Antrag verfolgten Rechtsschutzziel (vgl. BVerfG NVwZ 2004, 95; NVwZ 2005, 927), in einer Wechselbeziehung zueinander stehen, sodass sich die Anforderungen je nach dem zu erwartendem Maß des Erfolgs in
der Hauptsache, der Dringlichkeit der erstrebten vorläufigen Regelung oder der Schwere des drohenden Nachteils vermindern
können (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Senatsbeschlüsse vom 4. Januar 2007 - L 7 SO 6235/06 ER-B - und vom 29. Januar
2007 - L 7 SO 5672/06 ER-B - (beide m.w.N.)). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig
die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (vgl. Senatsbeschlüsse vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72, vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164 (beide m.w.N.)). Die Eilbedürftigkeit der erstrebten
Regelung ist im Übrigen regelmäßig zu verneinen, soweit Ansprüche für bereits vor Stellung des einstweiligen Antrags abgelaufene
Zeiträume erhoben werden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 30. November 2006 - L 7 SO 5206/06 ER-B - und vom 28. Dezember 2006 -
L 7 AS 6383/06 ER-B- (beide m.w.N.)).
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen entgegen der Auffassung des SG vor. Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Der Antragsteller hat aller Voraussicht nach Anspruch auf Bewilligung ergänzender Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II) und zwar auf der Grundlage des § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II. Danach können Auszubildenden, deren Ausbildung im Rahmen
der §§
60 bis
62 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB III) dem Grunde nach förderungsfähig ist, in besonderen Härtefällen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen
erbracht werden. Der Antragsteller befindet sich in einer Berufsausbildung, die dem Grunde nach nach §
60 SGB III förderungsfähig ist. Er erhält nur deshalb keine Berufsausbildungsbeihilfe, weil seine Ausbildungsvergütung über dem nach
§
65 SGB III zu ermittelnden Bedarf liegt (allerdings unter dem nach dem SGB II zu errechnenden). Die Ausschlussklausel des § 7 Abs. 5
SGB II ergreift diese Ausbildung, auch wenn der Antragsteller tatsächlich keine Berufsausbildungsbeihilfe erhält. Es genügt
die abstrakte Förderungsfähigkeit (so zu der insoweit vergleichbaren Regelung des § 26 Abs. 1 BSHG Urteil des Senats vom 6. April 2006 - S 3 SO 1322/05 - m.w.N.; zu § 7 SGB II vergleiche in diesem Sinne Hessisches LSG Beschluss
vom 7. November 2006 - L 7 B 223/06 AS (juris)). Insofern unterscheidet sich § 7 SGB II von der Regelung des § 22 Abs. 7 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur
Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl I 1706), wonach neben der bewilligten Berufsausbildungsbeihilfe
Kosten der Unterkunft auch als Beihilfe übernommen werden können. Für dieses Verfahren der einstweiligen Anordnung muss dahingestellt
bleiben, ob dies eine gleichheitswidrige Unterscheidung ist (so Berlit in Münder, LPK-SGB II, 2. Auflage, § 22 Rdnr.127) und
welche Konsequenzen hieraus ggf. zu ziehen sind.
Im Falle des Antragstellers ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners und des SG vom Vorliegen einer besonderen Härte im Sinne des § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II auszugehen. Eine solche liegt in seiner außergewöhnlichen persönlichen Situation. Er ist als minderjähriger
Flüchtling nach Deutschland gekommen und leidet in Folge der Vorfluchterlebnisse an einer erheblichen Traumatisierung. Ein
persönliches Umfeld von Angehörigen gibt es nach dem Tod seines Vaters und dem Verschwinden seiner Mutter nicht. Langjährige
Freunde und Bekannte in Deutschland sind wegen des Aufenthaltes in Asylbewerberunterkünften und der langen Dauer des Asylverfahrens
nicht vorhanden. Damit fehlt ihm die Möglichkeit, im persönlichen Umfeld Hilfe oder Unterstützung zu bekommen.
Zwar ist eine besondere Härte nicht bereits dann anzunehmen, wenn der Lebensunterhalt des Auszubildenden nicht gesichert ist,
da das die vom Gesetz vorausgesetzte normale Härte im Falle einer dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung ist. Eine besondere
Härte ist vielmehr erst dann gegeben, wenn ein atypischer Lebenssachverhalt besteht, der es für den Auszubildenden auch unter
Berücksichtigung des öffentlichen Interesses objektiv nicht zumutbar erscheinen lässt, seine Ausbildung zu unterbrechen (so
SG Dresden, Beschluss vom 10. Juli 2006 S 23 AS 1002/06 ER (juris)). Zur Handhabung der Vorschrift sind in der Rechtsprechung Fallgruppen entwickelt worden, in denen eine solche
besondere Härte anzunehmen ist. So wird insbesondere die Notwendigkeit, eine weitgehend fortgeschrittene Ausbildung zu unterbrechen,
deren Finanzierung bislang gesichert war, als eine solche angesehen. Weiter sind Fälle herangezogen worden, in denen die konkrete
Ausbildung die einzige realistische Chance war, Zugang zum Erwerbsleben zu erhalten. Schließlich gilt als weitere Fallgruppe
diejenige, in der die finanzielle Grundlage für die Ausbildung, die zuvor gesichert gewesen war, entfallen ist, ohne dass
dies dem Hilfebedürftigen im Sinne einer Vertretbarkeit zuzurechnen war (vgl. zu diesen Fallgruppen LSG Berlin-Brandenburg,
Urteil vom 5. Juli 2006 - L 10 AS 544/06 - (juris) m.w.N.).
Trotz der Notwendigkeit der Bildung von Fallgruppen mit dem Ziel, die Norm handhabbar zu machen, darf nicht außer Acht gelassen
werden, dass § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II eine Öffnungsklausel ist, die gerade den besonderen und damit nicht immer verallgemeinerungsfähigen
Umständen des jeweiligen Auszubildenden Rechnung tragen will. Besondere Fälle entziehen sich in gewissem Umfang einer Verallgemeinerung.
Es ist daher zulässig und geboten, über die genannten Fallgruppen hinaus, die Möglichkeit der Anerkennung einer besonderen
Härte in weiteren Fällen anzuerkennen.
Für den Senat sind im hier zu entscheidenden Fall Besonderheiten gegeben, die zu einer solchen Annahme zwingen. Der Antragsteller
befindet sich infolge der jedenfalls im Beschwerdeverfahren glaubhaft gemachten persönlichen und gesundheitlichen Folgen seiner
Flucht in einer außergewöhnlichen Situation. Er ist als Minderjähriger (16-jährig) unbegleitet als Flüchtling in die Bundesrepublik
gekommen und genießt nunmehr Abschiebungsschutz. Nach den dem entsprechenden verwaltungsgerichtlichen Urteil des Verwaltungsgerichts
Freiburg (VG) vom 25. August 2003 (A 2 K 10299/01) zugrunde liegenden Feststellungen hat er ein schweres Verfolgungsschicksal erlitten, indem er gezwungen war, seinen von
Sicherheitskräften getöteten Vater zu identifizieren und selber inhaftiert und misshandelt worden ist. Der Aufenthalt seiner
sonstigen Familienangehörigen ist ihm nicht bekannt. Infolge der traumatischen Erlebnissen vor der Flucht leidet der Antragsteller
nach den vom VG eingeholten gutachtlichen Feststellungen des Arztes E. I. an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er
bedarf nach den Feststellungen dieses Arztes eines sicheren sozialen Umfeldes ohne die Gefahr weiterer, ihm bedrohlich erscheinender
Belastungen. Außerdem bedarf er dringend zur Stabilisierung Zukunftsperspektiven. Für den erst langsam beginnenden Trauerprozess
zum Verlust seiner Eltern benötigt er professionelle psychotherapeutische Begleitung.
Insgesamt gesehen befindet sich der Antragsteller in einer völlig außergewöhnlichen Situation, die mit der weniger junger
Menschen in Deutschland zu vergleichen sein dürfte, die nämlich jedenfalls ein familiäres Umfeld haben oder über die Zeit
ihres Lebens sich ein entsprechendes Umfeld von Freunden und Bekannten hier aufbauen konnten. Dieses persönliche und familiäre
Umfeld kann im Falle des Antragstellers nicht bestehen, so dass für ihn kaum Hilfs- oder Unterstützungsmöglichkeiten außerhalb
von staatlichen Sozialleistungen bestehen dürften. Als Hauptschulabgänger dürfte er bei dieser Vorgeschichte und ohne Berufsausbildung
in besonderem Maße einer ungewöhnlich unsicheren Situation auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sein, die wiederum die Folgen der
Traumatisierung verlängert oder verschlimmert. Es steht deshalb für den Senat außer Frage, dass sich diese persönliche Lebenssituation
des Antragstellers in einem solchen Maße von der anderer junger Menschen in einer Berufsausbildung unterscheidet, dass von
einer besonderen Situation i.S.v. § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II gesprochen werden muss. Ein Abbruch der Ausbildung würde vor dem
Hintergrund der persönlichen Geschichte eine Härte darstellen, die weit über den Zwang zum Abbruch der Ausbildung und über
die mangelnde Deckung des Lebensunterhaltes hinausginge. Ein Hinzuverdienst ist ihm - will er nicht seinen Ausbildungsplatz
riskieren - nach seinen insoweit glaubhaften Angaben derzeit verwehrt.
Damit ist aber eine besondere Härte aller Voraussicht nach zu bejahen. Die Situation stellt sich nach Auffassung des Senats
so dar, dass für den Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende eine Ermessensentscheidung im Sinne einer Ablehnung voraussichtlich
kein Raum mehr sein dürfte, da eine Ablehnung von Leistungen bei Bejahung der besonderen Härte ohnehin kaum in Betracht kommen
dürfte (vgl. Brühl in LPK-SGB II aaO., § 7 Rdnr. 103).
Nach den Berechnungen des Antragsgegners beträgt der ungedeckte Bedarf - ausgehend von den Grundsätzen des SGB II - 98,08
EUR (618,77 EUR abzüglich der Ausbildungsvergütung in Höhe von 520,96 EUR). In dieser Höhe kann daher allenfalls eine Leistung
zugesprochen werden. Die zeitliche Befristung ergibt sich aus dem vorläufigen Charakter der einstweiligen Anordnung. Eine
Befristung auf sechs Monate entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).