Anspruch am sozialgerichtlichen Verfahren Beteiligter auf Gestattung der Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung per Videokonferenz
Anforderungen an die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens durch das Gericht – hier im Falle der Begründung des Antrags einer
Behörde mit Kosten- und Zeitersparnis
Gründe
Gemäß §
110a Abs.
1 SGG (Fassung vom 25.04.2013, gültig ab 01.11.2013) kann das Gericht den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf
Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort
Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird dann zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer
übertragen.
Die Entscheidung über die Gestattung erfolgt im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Ein Anspruch der Beteiligten auf Gestattung
der Teilnahme per Videokonferenz besteht auch auf deren Antrag nicht. Abwägungsrelevant sind im Rahmen des §
110a SGG insbesondere die von dem Antragsteller geäußerten Motive, eine Videokonferenz zu nutzen, dazu gehören vor allem medizinische
Gründe. Allein die vom Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit, eine Teilnahme von einem anderen Ort aus zu gestatten, führt nicht
zu einer Bindung des dem Gericht in §
110a Abs.
1 Satz 1
SGG ausdrücklich eingeräumten Ermessens (vgl. BSG, Beschluss vom 24.06.2021 - B 13 R 163/20 B -, juris).
Abwägungsrelevant sind im Rahmen des §
110a SGG insbesondere die von dem Antragsteller geäußerten Motive, eine Videokonferenz zu nutzen. Medizinische Gründe wiegen naturgemäß
schwerer als rein finanzielle oder zeitliche Gründe. Auf Seiten des Gerichts sind der Beschleunigungsgrundsatz und die Konzentrationsmaxime
zu berücksichtigen; zudem das Interesse an einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung durch Vernehmung von andernfalls unerreichbaren
Zeugen oder Sachverständigen bzw. durch Schaffung der Möglichkeit einer Befragung von Zeugen und Sachverständigen durch einen
Beteiligten, der ohne Videoübertragung andernfalls an einer Teilnahme an dem Termin zur Beweisaufnahme gehindert wäre. In
die Abwägung einzustellen ist ferner die Eignung der Technik für die erwartete Verhandlungssituation. Hierbei kann das Gericht
eine Prognose anstellen, ob die Videokonferenz eine verfahrensfehlerfreie Verhandlung ermöglichen wird und ob die Technik
eine effiziente, störungsfreie oder jedenfalls in Abwägung ausreichend störungsarme Sitzung zulässt. Hierbei können auch die
Ergebnisse aus einem vorherigen Techniktest mit den Beteiligten und Erkenntnisse darüber, von welchem anderen Ort sie teilnehmen
wollen, berücksichtigt werden. Andererseits hat das Gericht auch zu beachten, ob es selbst in verhältnismäßiger Weise in der
Lage ist, erwartete Defizite zu vermeiden; bspw. durch Vorgaben an den "anderen Ort" (Festlegung hinsichtlich der Räumlichkeit
etc.) oder durch Durchführung eines weiteren Testtermins vor der eigentlichen Verhandlung. Vor allem in Bezug auf Beweisaufnahmen
ist weiter in das Ermessen einzustellen, ob die Videokonferenztechnik die Beweisaufnahme nicht unverhältnismäßig erschwert
oder sogar geeignet ist, das Beweisergebnis zu verfälschen. Dies kann bereits dadurch der Fall sein, dass eine bloße Bild-
und Tonübertragung die Beurteilung der Glaubwürdigkeit beeinträchtigen könnte (vgl. zum Ganzen Müller in: Ory/Weth, jurisPK-ERV
Band 3, 1. Aufl., §
110a SGG Rdnr. 62ff).
Die nach dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 25.08.2021 (zur BT-Drs. 19/32091) fortbestehende epidemische Lage von
nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes schränkt das Ermessen hier nicht im Sinne einer intendierten Ermessensausübung ein. Denn die entsprechende Soll-Vorschrift
des §
211 Abs.
3 SGG ist zum 01.01.2021 wieder außer Kraft getreten und hier daher nicht mehr anwendbar (Art. 5, 20 Abs. 3 des Gesetzes zu sozialen
Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, BGBl. 2020 I, 1055). Angesichts der aktuell niedrigen Inzidenz, der weiterhin
geltenden Schutz- und Hygienemaßnahmen im öffentlichen Nah- und Fernverkehr sowie im Gericht selbst und der nunmehr frei verfügbaren
Impfmöglichkeit geht das Gericht auch nicht davon aus, dass dem oder der Bevollmächtigten des Beklagten bei einer Anreise
zum Termin ein ernster Gesundheitsschaden droht (vgl. hierzu auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 16.06.2021 - L 13 R 201/20 -, juris). Der Beklagte hat einen solchen Grund abgesehen davon auch nicht geltend gemacht.
Der Beklagte hat in seiner Antragsbegründung vom 30.08.2021 den Antrag damit begründet, dass durch die digitale Teilnahme
Kosten- und vor allem Zeitersparnisse möglich seien, da Verhandlungspausen, Verspätungen von Beteiligten etc. zur weiteren
Sachbearbeitung genutzt werden können. Derzeit bestehe akute Personalknappheit durch vakante Stellen im gehobenen und höheren
Dienst. Verschärft werde diese Situation durch unumgängliche Personalgestellungen des Referates an die Task Force IfSG mindestens bis zum Jahresende. Darüber hinaus seien die Erfahrungen mit digitalen Gerichtsterminen hinsichtlich der Verlässlichkeit
des Systems und der erzielten Erörterungsergebnisse durchweg positiv. Ein Unterschied zur Teilnahme in Präsenz sei für den
Beklagten nicht feststellbar.
Die vom Beklagten vorgebrachten Gründen rechtfertigen in der Abwägung mit dem Interesse des Klägers an einer mündlichen Erörterung
mit persönlicher Anwesenheit eines Vertreters des Beklagten nicht die Gestattung der Teilnahme des Beklagten per Videokonferenz.
Die persönliche Anwesenheit eines Vertreters des Beklagten stellt grundsätzlich den Normalfall und nicht den Ausnahmefall,
welcher einer besonderen Rechtfertigung bedarf, dar. Zudem ist es Aufgabe des Landes, für eine ausreichende Personalausstattung
zu sorgen, welche der Behörde die Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben ermöglicht. Eine Personalunterdeckung - zumal über
den vom Beklagten angegebenen längeren Zeitraum - kann nicht dazu führen, dass sich die Behörde grundsätzlich und ohne konkrete
auf den einzelnen Fall bezogene Gründe der Teilnahme an Erörterungsterminen oder mündlichen Verhandlungsterminen verweigert.
Die Mitwirkung an Gerichtsverfahren, die der Überprüfung der von der Behörde getroffenen Entscheidungen dienen, und somit
auch die Teilnahme an Gerichtsterminen gehört zu den gesetzlichen Aufgaben des Beklagten. Daher stellt eine Personalunterdeckung
ebenso wie bei einer Untätigkeit nach §
88 SGG keinen zureichenden Grund für eine Teilnahme per Videokonferenz dar (vgl. hierzu Schmidt in Meyer - Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
Kommentar zum
SGG, 13. Auflage 2020, §
88 Rdnr. 7b). Zu berücksichtigen ist auch, dass der Beklagte seinen Dienstsitz nur 11 km vom Gerichtsort entfernt in S hat und
trotz Teilnahme am Termin eine Weiterarbeit des entsandten Mitarbeiters davor oder danach möglich ist.
Vorliegend kommt zudem zum Tragen, dass der Kläger weder im Verwaltungsverfahren noch im erstinstanzlichen Verfahren, welches
durch Gerichtsbescheid ohne Erörterungs- oder Verhandlungstermin endete, die Möglichkeit hatte, sein Anliegen persönlich vorzutragen
und zu besprechen. Gerade in solchen Fällen kann ein Erörterungstermin dazu dienen, dass durch die erstmalige persönliche
Anwesenheit eines Behördenvertreters der Sachverhalt dem Betroffenen erläutert werden kann. Dies bietet auch der Behörde die
Chance, ihren Rechtsstandpunkt dem betroffenen Bürger nochmals zu erklären und eventuelle Missverständnisse aufzuklären. In
diesem Sinn zeigt die persönliche Anwesenheit eines Vertreters der Behörde im Termin dem Bürger auch, dass sein Anliegen von
der Behörde ernst genommen wird, selbst wenn es in der Sache nach Auffassung des Beklagten nicht berechtigt sein sollte. Zwar
besteht nicht in jedem Fall, ein Anspruch auf Anberaumung eines Erörterungstermins, da dies im richterlichen Ermessen steht
(vgl. Schmidt a.a.O, § 106 Rdnr. 7). Im vorliegenden Fall hält die Berichterstatterin jedoch nach Abwägung sämtlicher relevanter
Belange die Durchführung eines Erörterungstermins mit persönlicher Anwesenheit beider Beteiligter nach §
106 Abs.
3 Nr.
7 SGG für erforderlich, mit der Folge, dass der Beklagte einen Terminsvertreter zu entsenden hat.
Der Antrag ist daher abzulehnen.
Dieser Beschluss ist nach §
177 SGG nicht anfechtbar.