Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft bei einem Quincke-Ödem
Tatbestand:
Die Berufung betrifft eine Angelegenheit aus dem Schwerbehindertenrecht. Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger als
Schwerbehinderter einzustufen ist.
Der inzwischen 23-jährige Kläger leidet an einem hereditären Angioödem (im Folgenden: HA), auch Quincke-Ödem genannt. Es handelt
sich um eine angeborene Gesundheitsstörung, die auf einem C1-Esterase-Inhibitor-Mangel beruht. Sie führt zu episodisch auftretenden
Ödemen im Bereich der Haut und der Schleimhäute. Betroffen sind häufig Gesicht, Hals, Arme, Beine und auch innere Organe.
Besonders gefährlich sind Schwellungen im Bereich der Atemwege und des Darmes. Laborchemisch war der Defekt bereits etwa 1993
festgestellt worden. Der Verdacht auf eine Disposition des Klägers war dadurch entstanden, dass auch dessen Vater und Großmutter
an einem HA leiden. Bis 2008 kam die Krankheit beim Kläger jedoch nicht zum Ausbruch.
Zu einem ersten Krankheitsschub kam es im März 2008. Vom 29. bis 31.03.2008 befand sich der Kläger deswegen in stationärer
Behandlung im Klinikum A. Laut dessen Bericht vom 29.03.2008 war eine zunehmende Weichteilschwellung im Gesicht aufgetreten.
Wegen zunehmenden Engegefühls im Hals mit Schluckbeschwerden, so der Bericht weiter, habe sich der Kläger im Krankenhaus vorgestellt.
Nach der Gabe des Medikaments Berinert (C1-Esterase-Inhibitor-Konzentrat) bildeten sich die Symptome wieder zurück. Eine weitere
stationäre Behandlung in der gleichen Klinik erfolgte vom 03. bis 05.08.2008 (Bericht vom 05.08.2010). Der Grund für diese
Behandlung war ein aktueller Schub nach einem Trauma mit Lippen- und Lidschwellung. Erneut verabreichte die Klinik das Medikament
Berinert, woraufhin die Symptome abklangen.
Am 22.08.2008 beantragte der Kläger die Feststellung eines Grads der Behinderung (GdB). Der Beklagte stellte mit Bescheid
vom 10.11.2008 einen GdB von 40 fest bei den Gesundheitsstörungen HA (Einzel-GdB 30) und Akne (Einzel-GdB 20). Dagegen legte
der Kläger am 20.11.2008 Widerspruch ein und übersandte eine Liste von Personen, die aufgrund eines HA die Schwerbehinderteneigenschaft
zuerkannt erhalten hätten. Mit Widerspruchsbescheid vom 07.01.2009 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Dagegen hat der Kläger am 15.01.2009 Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben mit dem Ziel, die Feststellung eines GdB von
50 zu erreichen. Der Beklagte hat vor dem Sozialgericht darauf hingewiesen, es gebe heutzutage eine sehr gut wirksame Langzeitprophylaxe
mit Androgenderivaten. Aufgrund der Nebenwirkungen dieser Langzeitprophylaxe sei sie auf jeden Fall bei Patienten mit schweren
und häufigen Anfällen angezeigt. Bei anderen Patienten könne abgewartet werden, wobei das Notfallmedikament Berinert verordnet
werden könne. Beim Kläger seien bislang nur zwei Attacken aufgetreten. Wegen der Seltenheit der Attacken sei der Einzel-GdB
von 30 sicher nicht zu niedrig; auch bei einer Bienen- oder Wespenallergie mit zum Teil lebensbedrohlichen allergischen Reaktionen
wäre keinesfalls ein höherer GdB zu vergeben. Bei einer Häufung der Attacken stehe die Langzeitprophylaxe zur Verfügung, die
sich sowohl beim Vater als auch bei der Großmutter des Klägers als sehr effektiv erwiesen habe.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des Allgemeinmediziners Dr. E. eingeholt sowie ein Gutachten nach Aktenlage des
Dermatologen und Allergologen Dr. K. M. veranlasst. Der hat in seinem Gutachten vom 16.09.2009 bemerkt, die Bewertung der
Akne mit 20 sei offenbar nicht streitig. In beiden Fällen notfallmäßiger Behandlung wegen des HA im Jahr 2008 hätten die Veränderungen
im Hals- und Gesichtsbereich rasch auf eine intravenöse Substitutionsbehandlung angesprochen. Eine Dauerprophylaxe mit dem
neuen Medikament Icatibant sei angeraten worden. Die Indikation hierzu scheine jedoch relativ zu sein, da Schübe bisher nicht
wirklich gehäuft aufgetreten seien. Eine entsprechende suffiziente Notfallbehandlung am Ort und in der weiteren Umgebung sei
jederzeit gesichert. Darüber hinaus wäre es möglich, dem Kläger das entsprechende Medikament persönlich zukommen zu lassen,
damit es bei einem erneuten Auftreten entsprechender Hautveränderungen stets sofort verfügbar sei. Eine Häufung von Attacken
liege bislang nicht vor. Der Einzel-GdB von 30 für das HA sei korrekt. Auch der Gesamt-GdB von 40 sei bei einem Einzel-GdB
von 20 für Akne richtig gebildet. Der Kläger hat zu dem Gutachten vorgebracht, der Sachverständige habe verkannt, dass jederzeit
mit einem Anfall gerechnet werden müsse.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 22.02.2010 abgewiesen. Ein höherer GdB als 40, so das Sozialgericht zur Begründung,
könne nicht festgestellt werden. Der Einzel-GdB von 30 für das HA sei nicht zu niedrig angesetzt. Das Sozialgericht hat insoweit
auf das Gutachten des Dr. M. sowie auf einen Befundbericht des Hausarztes Dr. E. vom 21.05.2009 verwiesen, wonach der Kläger
mit einer Firazyr-Fertigspritze (zur Akuttherapie) ausgestattet sei. Zwar seien häufiger auftretende Schübe nachgewiesen,
ein schwerer chronischer Verlauf des HA liege dagegen nicht vor. Für Akne sei ein Einzel-GdB von 20 befundgerecht. Der Gesamt-GdB
von 40 sei zutreffend gebildet worden.
Die dagegen am 01.03.2010 eingelegte Berufung hat der Kläger damit begründet, bei ihm liege bereits ein schwerer chronischer
Verlauf des HA vor. Der Senat hat Befundberichte des Allgemeinmediziners Dr. E., des Hautarztes Dr. O. sowie der Klinik für
und Allergologie des Klinikums A (Prof. Dr. D., Dr. K.) eingeholt. Das Klinikum hat auf Bitte des Senats auch seine Berichte
an die behandelnden Ärzte übersandt.
Der Kläger beantragt zuletzt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 22.02.2010 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 10.11.2008
in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.01.2009 zu verurteilen, ab 22.08.2008 einen GdB von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, insbesondere wegen des Inhalts medizinischer Berichte und Gutachten, wird
auf die Akten des Beklagten, des Sozialgerichts und des Bayerischen Landessozialgerichts verwiesen. Diesen haben allesamt
vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zwar zulässig, aber nicht begründet.
Streitgegenstand ist die mit Bescheid vom 10.11.2008 und Widerspruchsbescheid vom 07.01.2009 getroffene Feststellung eines
GdB von 40. Damit wendet sich der Kläger gegen die erstmalige Feststellung eines GdB, weil diese ihm zu niedrig erscheint.
Ein höherer GdB als 40 kann aber nicht zuerkannt werden, so dass die Berufung ohne Erfolg bleibt.
Nach §
69 Abs.
1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (
SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen
das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§
69 Abs.
1 Satz 4
SGB IX). Die materiell-rechtlichen Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der aufgrund von § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Rechtsverordnung gelten entsprechend (§
69 Abs.
1 Satz 5
SGB IX). Bei Letzteren handelt es sich um die zum 01.01.2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG), die als
Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412) Rechtsnormcharakter haben (vgl. BSG, Urteil vom 23.04.2009 - B 9 SB 3/08 R, RdNr. 27, 29; Giese, Bedeutung von Begutachtungsempfehlungen, antizipierten Sachverständigengutachten und Leitlinien - aus
Sicht des sozialen Entschädigungsrechts, MedSach 2010, S. 85). Sie haben die bis dahin der Rechtsanwendung zugrunde liegenden
Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) ersetzt (BSG, aaO., RdNr. 27). Das Bundessozialgericht vertritt augenscheinlich
die Auffassung, die VG würden erst für die Zeit ab 2009 Wirksamkeit entfalten (keine unechte Rückwirkung), während für die
streitgegenständliche Phase davor, hier vom 22.08. bis 31.12.2008, noch die AHP maßgebend sind (so wohl BSG, Urteil vom 30.09.2009
- B 9 SB 4/08 R, RdNr. 19). Da für den vorliegenden Fall die AHP und die VG gleich lauten, erübrigt sich eine Erörterung dieses Problems.
Der Beklagte hat den GdB mit 40 keinesfalls zu niedrig festgestellt. Entgegen der Auffassung des Klägers ist dieser nicht
schwerbehindert im Sinn von §
2 Abs.
2 SGB IX. Die bei ihm vorliegenden Behinderungen sind vollständig erfasst und jedenfalls nicht unterbewertet.
1. Die einzelnen Behinderungen
Das HA erscheint mit einem Einzel-GdB von 30 sehr großzügig taxiert. Einschlägig ist insoweit Teil B Nr. 17.2 VG (gleich lautend
Nr. 26.17 AHP 2008):
"17.2 Chronisch rezidivierende Urtikaria/Quincke-Ödem
selten, bis zu zweimal im Jahr auftretend, leicht vermeidbare Noxen oder Allergene 0-10
häufiger auftretende Schübe, schwer vermeidbare Noxen oder Allergene 20-30
schwerer chronischer, über Jahre sich hinziehender Verlauf 40-50
Eine systemische Beteiligung z. B. des Gastrointestinaltraktes oder des Kreislaufs ist ggf. zusätzlich zu berücksichtigen."
Bisher ist es beim Kläger im Wesentlichen nur zu zwei Anfällen pro Jahr gekommen (gemäß den im Berufungsverfahren beigezogenen
Befundberichten nur im Jahr 2008 dreimal), die mit Ausnahme der beiden Krankenhausaufenthalte im März und August 2008 keine
weiteren stationären Behandlungen notwendig machten:
- Im Jahr 2008 kam es zu den beiden genannten Aufenthalten im Klinikum A im März (Symptom: Hals-, Kehlkopf- und Gesichtsschwellung)
und im August (Symptom: Lippen- und Lidschwellung). Außerdem stellt sich der Kläger am 02.11.2008 erneut im Klinikum A vor,
weil sich nach einer Erkältung eine Schwellung der linken Hand gebildet hatte (aber keine Zungen- oder Lippenschwellung, kein
Stridor, keine Spastik, vgl. Bericht des Klinikums A vom 02.11.2008). Der Kläger erhielt damals zum ersten Mal das neue Medikament
Firazyr, das eine gute Wirkung erzielte.
- Nur zwei Anfälle sind im Jahr 2009 dokumentiert. Am 05.05.2009 stellte sich der Kläger wegen einer Fußschwellung beim Hautarzt
Dr. O. vor, konsultierte deswegen jedoch nicht das Klinikum. Ein Bericht des Klinikums vom 11.05.2009 weist lediglich eine
Kontrolluntersuchung dort am 08.05.2009 aus. Diesem Bericht zufolge hatte das Klinikum für die Akuttherapie wieder Berinert
empfohlen, der Kläger habe aber an Firazyr festhalten wollen, weil er einen schnelleren Wirkungseintritt und eine Verlängerung
der Intervalle zwischen den Ereignissen festgestellt habe. Am 07.11.2009 wurde der Kläger im Klinikum als Notfall ambulant
behandelt, weil sich nach Auftreten einer Grippe eine Weichteilschwellung plantar rechts, also am Fuß, gezeigt hatte. Erneut
wurde der Kläger erfolgreich mit Firazyr behandelt.
- Im Jahr 2010 kam es wiederum nur zu zwei Schüben: Am 25.02.2010 stellte sich der Kläger in der Notaufnahme des Klinikums
A wegen einer Augenlidschwellung vor. Vorausgegangen waren eine Erkältung sowie ein Stoß gegen die Stirn. Die Klinik stellte
eine leichte Schwellung des linken Augenober- und -unterlids fest, keine Zungen- oder Lippenschwellung, kein Stridor, keine
Spastik. Die Behandlung erfolgte wiederum erfolgreich mit Firazyr. Die bis zur mündlichen Verhandlung letzte Vorstellung beim
Klinikum A geschah am 20.07.2010, weil der Kläger Schwellungen an den Füßen und in der Genitalgegend bemerkt hatte. Erneut
kam Firazyr erfolgreich zum Einsatz. Der Kläger hat dabei einen von der Klinik angeratenen stationären Aufenthalt abgelehnt
und die Klinik nach der Behandlung wieder verlassen.
Gemessen an der geringen Häufigkeit der Schübe läge man im Bereich eines Einzel-GdB von 10. Da die Schübe aber zumeist nach
Infekten aufgetreten sind, sind sie augenscheinlich schwerer zu vermeiden. Das spricht für einen Einzel-GdB von 20. Der vom
Sachverständigen Dr. M. befürwortete Einzel-GdB von 30 erscheint dagegen sehr wohlwollend, ist jedoch noch vertretbar. Ein
noch höherer Einzel-GdB als 30 wäre indes nicht zu rechtfertigen. Denn der dafür geforderte "schwere chronische, über Jahre
sich hinziehende Verlauf" kann keinesfalls festgestellt werden. Dabei kann dahin stehen, ob sich das HA des Klägers in diesem
Sinn bereits über Jahre hinzieht. Jedenfalls fehlt es an einem schweren chronischen Verlauf.
Der Kläger argumentiert, die Chronizität sei allein daraus abzuleiten, dass die Krankheit auf einem Gendefekt beruht, der
unbestritten nicht beseitigbar ist. Auf einen schweren Verlauf schließt er, weil die Krankheit schlimmstenfalls lebensgefährliche
Ausmaße annehmen kann und letztlich nie eine absolute Sicherheit vor derart schweren Anfällen besteht. Das mag zutreffen.
Gleichwohl liegt beim Kläger kein schwerer chronischer Verlauf vor. Der argumentative Ansatz des Klägers ist schon deswegen
verfehlt, weil er gedanklich zwischen die Adjektive "schwer" und "chronisch" ein Komma setzt, das die Bestimmungen tatsächlich
aber nicht enthalten. Gegeben sein muss mithin eine "schwere Chronizität". Das aber impliziert, dass es auf die Schwere der
Beschwerden als solche ankommen muss, nicht auf die bloße genetisch bedingte Krankheitsdisposition.
Dass die Auffassung des Klägers nicht zutrifft, zeigt sich auch darin, dass nach seiner Anschauung ausnahmslos jeder Fall
des HA den schweren chronischen Störungen zuzuordnen wäre. Denn unbestreitbar liegt bei jedem Fall des HA ein irreversibler
genetischer Defekt vor und bei jedem Fall besteht abstrakt die Gefahr lebensbedrohlicher Anfälle. Gemäß dieser Interpretation
dürfte es überhaupt keine Fälle geben, die nicht "schwer chronisch" sind - mit anderen Worten müsste jeder Fall mindestens
mit einem Einzel-GdB von 40 bewertet werden. Dann aber wäre die in Teil B Nr. 17.2 VG, Nr. 26.17 AHP 2008 vorgesehene Abstufung
unverständlich.
Außerdem löst der Kläger bei seiner Argumentation in unzulässiger Weise den logisch gegebenen Zusammenhang zwischen den drei
vorgesehenen Bewertungstatbeständen. Die beiden geringer bewerteten Tatbestände stellen ausschließlich auf Häufigkeit der
Schübe sowie Vermeidbarkeit der Noxen oder Allergene ab. Diese Kriterien dürfen bei der Beurteilung des schweren chronischen
Verlaufs nicht ausgeblendet werden. Würde man diesen Tatbestand von den materiellen Kriterien der Schubhäufigkeit und der
Vermeidbarkeit der Noxen oder Allergene gedanklich abkoppeln, würden sich die einzelnen Tatbestände nicht mehr hinreichend
voneinander abgrenzen lassen - die formale Einschlägigkeit mehrerer Bewertungstatbestände wäre an der Tagesordnung. Diese
Abgrenzbarkeit ist aber (zwingend) notwendig, damit das Regelwerk den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen zu genügen
vermag.
Berücksichtigt man all dies, vermag man im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte dafür zu finden, dass ein schwerer chronischer
Verlauf gegeben sein könnte. Nur ein einziges Mal, nämlich beim ersten Anfall im März 2008, waren die Atemwege von der Schwellung
betroffen. Im Übrigen haben sich die Schwellungen auf Körperregionen beschränkt, deren Veränderung nicht im Stande ist, eine
Lebensgefahr auszulösen. Während der Kläger 2008 immerhin noch zwei stationäre Aufenthalte hatte und im Oktober dieses Jahres
eine umfangreichere Diagnostik vorgenommen wurde, hat seine Beeinträchtigung durch das HA in den Folgejahren weiter abgenommen.
Pro Jahr kam es nur zu zwei Schüben, die sich auf "unproblematische" Körperregionen beschränkten. Die therapeutischen Maßnahmen
erschöpften sich jeweils in kurzen ambulanten Behandlungen im Klinikum A. Die medikamentöse Behandlung mit Firazyr - vorher
aber auch schon mit Berinert - verlief stets sehr erfolgreich. Der Kläger selbst sieht in dem ab Ende 2008 verabreichten Medikament
Firazyr einen Fortschritt dergestalt, dass die schubfreien Intervalle länger geworden seien. Er fühlt sich sogar so sicher,
dass er im Juli 2010 auf einen von den Ärzten angeratenen stationären Aufenthalt im Klinikum A verzichtet hat. Von einer merklichen
Beeinträchtigung des Klägers kann bei dieser Krankheitsbiografie kaum gesprochen werden. Hinzu kommt, dass es nach den eingeholten
medizinischen Stellungnahmen auch ein Sofort-Medikament für den Notfall gäbe, das sich der Kläger prophylaktisch beschaffen
könnte. Zusammenfassend erscheint es nicht angebracht, dass der Kläger bei seiner Argumentation auf das "Worst-Case-Szenario"
eines HA abstellt. Denn bei ihm ist die Krankheit bislang eher unauffällig und - mit Ausnahme des ersten, möglicherweise auch
des zweiten Schubs - harmlos verlaufen. Die Äußerungen des Sachverständigen Dr. M. und des Versorgungsmedizinischen Dienstes
des Beklagten lassen in Zusammenschau mit den aktuellen Befunden der behandelnden Ärzte keinen anderen Schluss zu.
Die als Behinderung festgestellte Akne dürfte mit einem Einzel-GdB von 20 überwertet sein, unterbewertet ist sie keinesfalls.
Einschlägig ist insoweit Teil B Nr. 17.3 VG (gleich lautend Nr. 26.17 AHP 2008):
"17.3 Akne
Acne vulgaris
leichteren bis mittleren Grades 0-10
schweren Grades mit vereinzelter Abszess- und Knotenbildung und entsprechender erheblicher kosmetischer Beeinträchtigung 20-30
Acne conglobata
auf die Prädilektionsstellen begrenzte häufige Abszess- und Fistelbildungen und lokalisationsbedingte Beeinträchtigungen 30-40
schwerste Formen mit rezidivierenden eitrigen, vernarbenden axilläringuinalen und nuchalen Abszessen (Acne triade) und ggf.
zusätzlicher Beteiligung des Pilonidalsinus (Acne tetrade) wenigstens 50"
Dass der Beklagte für die Akne überhaupt einen Einzel-GdB angesetzt hat, beruht auf einem Entlassbrief des Klinikums A vom
29.03.2008, der im Rahmen der ersten stationären Behandlung wegen des HA erstellt worden war. Dort wird Akne palpulopustulosa
Gesicht, oberer Rücken und Unterarme erwähnt. Im Entlassbrief zur zweiten stationären Behandlung im Klinikum A erscheint diese
Nebendiagnose dagegen nicht mehr. Allein auf der Grundlage dieser beiden Arztbriefe hat Dr. B. vom Versorgungsmedizinischen
Dienst des Beklagten in seiner Stellungnahme vom 06.11.2008 einen Einzel-GdB von 20 veranschlagt. Dieser ist seither stets
"weitertransportiert" worden, ohne dass seine Berechtigung hinterfragt worden wäre. Dabei existieren deutliche Hinweise, dass
ein Einzel-GdB von 20 zu wohlwollend taxiert ist. Obwohl ein Einzel-GdB von 20 nach den VG bzw. den AHP 2008 bereits eine
erhebliche kosmetische Beeinträchtigung voraussetzt, hat ausgerechnet der Hautarzt Dr. O. den Kläger in keiner Weise wegen
Akne behandelt oder auch nur eine entsprechende Diagnose mitgeteilt. So wird darüber im Befundbericht vom 24.06.2010 kein
Wort verloren. Gleiches gilt für den Hausarzt Dr. E ... Das ist umso erstaunlicher, als laut Pschyrembel, Therapeutisches
Wörterbuch, 1999, S. 9, bereits bei leichten bis mittelschweren Formen eine Behandlungsindikation je nach Beeinträchtigung
und subjektivem Leidensdruck besteht. Im Rahmen dieses Verfahrens bedarf dies jedoch keiner Klärung, weil der Senat die Richtigkeit
eines Einzel-GdB von 20 unterstellen kann. Jedenfalls kommt eine Höherbewertung nicht in Betracht. Dazu fehlen jegliche Anhaltspunkte,
insbesondere auch Äußerungen des Klägers zu einer eventuellen Verschlimmerung. Zwar kennt das Sozialprozessrecht kein "Unstreitigstellen"
von Tatsachen, das im Stande wäre, die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit von vornherein von der Amtsermittlungspflicht zu
entbinden. Hier aber würden weitere medizinische Ermittlungen "ins Blaue hinein" geführt, weil allein das Schweigen in den
aktuellen Berichten der behandelnden Ärzte in Verbindung mit dem Schweigen des Klägers einen hinreichend sicheren Schluss
zulässt, dass für die Akne keinesfalls ein höherer Einzel-GdB als 20 zu rechtfertigen ist.
Der Heuschnupfen des Klägers begründet keinen Einzel-GdB. Dr. O. hat im Befundbericht vom 24.06.2010 mitgeteilt, seit März
2010 seien deswegen keine Behandlungen mehr erfolgt, Dr. E. hat in seinem Attest vom 12.03.2009 von einer saisonalen Rhinitis
gesprochen. Das in der gleichen Bescheinigung erwähnte atopische Ekzem findet nirgendwo sonst Erwähnung - nicht einmal in
den von den Gerichten angeforderten Befundberichten des Dr. E. selbst.
2. Die Bildung des Gesamt-GdB
Der Gesamt-GdB ist mit 40 - unterstellt man die Richtigkeit der beiden Einzel-GdB von 30 und 20 - zutreffend bemessen. Liegen
mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft vor, so wird der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen
der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§
69 Abs.
3 Satz 1
SGB IX). In einem ersten Schritt sind dabei die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen
(von der Norm abweichenden) Zuständen und die sich daraus ergebenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten
Schritt sind diese den in den VG bzw. AHP genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In
einem dritten Schritt ist dann - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (Teil A Nr. 3
lit. c VG, Nr. 19 Abs. 3 AHP) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen
Beeinträchtigungen der (Gesamt-)GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen
(sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung
die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VG bzw. AHP feste GdS/GdB-Werte angegeben sind
(Teil A Nr. 3 lit. b VG, Nr. 19 Abs. 2 AHP; vgl. dazu BSG, Urteil vom 24.04.2008 - B 9/9a SB 10/06 R, RdNr. 23). Grundsätzlich
führen zusätzliche Gesundheitsstörungen, die nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind, nicht zu einer Zunahme des
Gesamt-GdB (vgl. Teil A Nr. 3 lit. d ee VG, Nr. 19 Abs. 4 AHP). Weiter ist bestimmt, dass vielfach auch bei leichten Funktionseinschränkungen
mit einem Einzel-GdB von 20 keine Auswirkungen auf den Gesamt-GdB festgestellt werden können (aaO.).
Nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Dr. M., die vom Versorgungsmedizinischen Dienst des Beklagten bestätigt
werden, ist bei einer Gesamtbetrachtung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers - würden sie denn tatsächlich
im Ausmaß eines Einzel-GdB von 30 für das HA und 20 für die Akne vorliegen - die Erhöhung des höchsten Einzel-GdB 30 um 10
angemessen. Ein Gesamt-GdB von 50 lässt sich hingegen nicht rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.