Feststellung eines Grades der Behinderung
Soziale Anpassungsschwierigkeiten
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100.
Die 1961 geborene Klägerin beantragte am 30. Juli 2013 die Feststellung eines GdB und machte unter anderem geltend, sie leide
unter den Folgen einer Genital-Operation (Mann zu Frau) mit Beseitigung des Penis, der Glans und der Hoden, einer Entstellung
durch Haarausfall, einem Bluthochdruck, Stress, einer Erschöpfung, Müdigkeit, Schlafproblemen, Durchfall, Ekzemen, einer Achillodynie,
Schmerzen der Sehnenansätze und der Fußsohle, einer Atrophie des Hippocampus sowie einem Fehlen der Zähne 3-7 und 3-5. Aus
einem im Widerspruchsverfahren überreichten Operationsbericht vom 8. September 1992 ergibt sich, dass bei der Klägerin am
7. September 1992 aufgrund der Diagnose eines Mann-zu-Frau-Transsexualismus eine Kastration und Penisamputation mit Bildung
einer Neovagina mit Neuimplantation der Urethra erfolgt ist.
Der Beklagte holte einen Befundbericht des M V vom 5. August 2013 ein. Dort war die Klägerin zwischen dem 8. März 2013 und
dem 14. Juni 2013 insgesamt sechsmal vorstellig unter anderem wegen rezidivierenden Harnwegsinfekten und subjektiv empfundenen
Herzrhythmusstörungen. Der Beklagte ließ diesen Befundbericht versorgungsärztlich auswerten und lehnte mit Bescheid vom 29.
November 2013 die Feststellung über das Vorliegen einer Behinderung ab, da kein GdB von wenigstens 20 festgestellt werden
könne.
Mit Widerspruchsschreiben vom 17. Dezember 2013 führte die Klägerin aus, bereits der Verlust der Hoden bedinge einen GdB von
wenigstens 20 bis 30. Dabei sei es unerheblich, aus welchem Grund sie die Hoden verloren habe. Des Weiteren leide sie unter
einer Gesichtsentstellung. Eine einfache Gesichtsentstellung, die nur wenig störend sei, sei mit einem Einzel-GdB von 20 bis
30 zu bewerten, eine hochgradige Entstellung des Gesichts mit einem Einzel-GdB von 50. Sie schätze ein, dass in ihrem Fall
der GdB mit 35 zu bewerten sei. Des Weiteren leide sie unter einer Atrophie des Hippocampus. Sie sei wegen der psychischen
Leistungseinschränkung berentet worden. Es sei somit ein Einzel-GdB von 50 angemessen. Die Folgen der psychischen Traumen
seien mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten, die chronischen Darmstörungen mit einem Einzel-GdB von 20. Darüber hinaus leide
sie unter einem Verlust der Glans und der Hoden. Dies sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, ihre Hautprobleme mit einem
Einzel-GdB von ebenfalls 20 und die Störungen am Haltungs- und Bewegungsapparat mit einem Einzel-GdB von 10. Insgesamt ergebe
sich damit ein Gesamt-GdB von 225, so dass eindeutig eine Schwerbehinderung gegeben sei. Mit Schreiben vom 6. Januar 2014
hat die Klägerin ihr Widerspruchsbegehren konkretisiert und einen Gesamt-GdB von 100 geltend gemacht. Ergänzend übersandte
die Klägerin ein im Auftrag der Rentenversicherung erstelltes Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie
Dr. K vom 14. Juni 2002.
Die vom Beklagten beauftragte praktische Ärztin und Fachärztin für Sportmedizin Dr. Kü führte in ihrem Gutachten vom 18. Mai
2014 unter anderem aus, bei der Klägerin lägen psychosomatische Störungen/Anpassungsstörungen mit einem Einzel-GdB von 50
und ein Bluthochdruck vor.
Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2014 gab der Beklagte dem Widerspruch der Klägerin teilweise statt, indem er einen GdB
von 50 feststellte, wies den Widerspruch jedoch im Übrigen zurück.
Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Berlin Befundberichte des Facharztes für Chirurgie Dr. Me vom 25. Oktober
2015, der die Klägerin vom 21. Juli bis 02. September 2014 wegen einer HWS-Distorsion und einer Prellung des linken und rechten
Ellenbogens mit Weichteilschwellung behandelt hatte, des Facharztes für Haut- und Geschlechtskrankheiten Dr. W vom 16. November
2015, die mitteilte, die Klägerin einmalig am 19. September 2013 wegen einer moderaten atopischen Dermatitis behandelt zu
haben, sowie des Arztes für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. Ma vom 17. Dezember 2015, der bei der Klägerin eine Antriebsschwäche,
Transsexualismus, eine Hypertonie, eine hormonelle Dysregulation und eine Alibidimie diagnostizierte, eingeholt.
Der als Sachverständiger bestellte Facharzt für Allgemeinmedizin Dipl.-Psych. B hat in seinem – nach dem die Klägerin sich
geweigert hatte, sich untersuchen zu lassen - nach Aktenlage erstellten Gutachten vom 5. Dezember 2016 unter anderem ausgeführt,
die Klägerin leide unter einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit einem Einzel-GdB von 50 sowie einer Transsexualität
sowie einer Aufhebung der sexuellen Erlebnisfähigkeit nach Geschlechtsumwandlungsoperation mit einem Einzel-GdB von 20. Den
Gesamt-GdB bewertete der Sachverständige mit 50. Hinsichtlich des Inhalts des Gutachtens im Einzelnen wird auf Blatt 165 bis
175 der Gerichtsakte verwiesen.
Mit Gerichtsbescheid vom 9. Mai 2018 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und sich im Wesentlichen auf das Gutachten
des Sachverständigen Dipl.-Psych. B gestützt.
Gegen den ihr am 25. Mai 2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 21. Juni 2018 Berufung bei dem Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg eingelegt.
Sie begehrt weiterhin die Feststellung eines Einzel-GdB wegen eines Verlustes des Penis mit vollständiger Entfernung der Corpora
cavernosa von 80, eines Einzel-GdB von 25 bis 30 wegen eines Verlustes beider Hoden, eines Einzel-GdB von 20 bis 30 wegen
einer einfachen Gesichtsentstellung, eines Einzel-GdB von 20 wegen einer Lockerung des Kniebandapparates, eines Einzel-GdB
von 10 bis 30 wegen einer Refluxkrankheit der Speiseröhre, eines Einzel-GdB von 50 bis 60 wegen eines Hirnschadens mit psychischen
Störungen, eines Einzel-GdB von 20 bis 30 wegen chronischer Darmstörungen und eines Einzel-GdB von 20 bis 30 wegen bestehender
Ekzeme. Der Gesamt-GdB sei mit 100 einzuschätzen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 9. Mai 2018 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 29. November 2013
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2014 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr einen Gesamt-GdB
von 100 ab 30. Juli 2013 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat Befundberichte von dem Dermatologen Sch eingeholt, der mitgeteilt hat, die Klägerin in der Zeit vom 23. Februar
2015 bis zum 8. März 2018 einmal jährlich wegen eines Hautausschlags an Händen und Füßen sowie Juckreiz behandelt zu haben,
des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. We vom 13. Oktober 2018, der mitgeteilt hat, die Klägerin leide unter einer arteriellen
Hypertonie, einem Transsexualismus, einem Vitamin-D-Mangel, einem Ekzem sowie einer Extrasystolie, des Zahnarztes Dr. Kr vom
22. Oktober 2018 sowie des Facharztes für Gynäkologie und Geburtshilfe Dr. M vom 12. November 2018, der mitteilte, als Diagnosen
bei der Klägerin eine Adipositas sowie eine Hypertonie gestellt zu haben.
Der Versuch, die Akte des Landgerichts Leipzig zum Az. 6 O 3133/02 beizuziehen, ist gescheitert, weil diese bereits gemäß Aktenordnung vernichtet worden war. Übersandt worden sind allerdings
das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 30. Oktober 2006 (Az. 6 O 3133/02) sowie das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden vom 5. Februar 2009 (Az. 4 U 87/07). In diesem Verfahren hatte die Klägerin gegenüber den dortigen Beklagten, die sie 1992 behandelnden Ärzte, Arzthaftungsansprüche
geltend gemacht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die die Klägerin betreffenden
Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist zutreffend. Die mit der Berufung weiterverfolgte
Klage ist in Gestalt der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage im Sinne des §
54 Abs.
1 Satz 1 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig, jedoch unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 29. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 18. Juni 2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen den Beklagten für
die Zeit ab dem 30. Juli 2013 keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 50.
Nach §
152 Abs.
1 Satz 1
SGB IX in seiner seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung (entsprechende Regelung zuvor in §
69 Abs.
1 Satz 1
SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest.
Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind seit dem 1. Januar 2009 die in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ zu beachten, die durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite
249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928), vom 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124), vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I Seite 2153) und vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122) sowie durch Gesetze vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I Seite 3234), 17. Juli 2017 (BGBl. I Seite 2541) und vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I Seite 2652) Änderungen erfahren haben.
Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Grundsätzen als Grad der Behinderung in Zehnergraden zu bestimmen. Für die Bildung
des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach §
152 Abs.
3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander
zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen
Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob
und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von
einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen
zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen
dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen
Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich
nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von
20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr.
3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV).
Nach Maßgabe dieser Grundsätze kommt hier die Verurteilung des Beklagten zur Feststellung eines höheren GdB als 50 nicht in
Betracht. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus einer Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere
aus dem Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Psych. B, das auf einer kritischen Würdigung der in den Akten enthaltenen medizinischen
Unterlagen beruht und sowohl auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehre als auch im Einklang mit den Versorgungsmedizinischen
Grundsätzen erstattet worden ist.
Führend ist hier eine psychische Erkrankung der Klägerin, die nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten ist.
Bei der Klägerin liegt eine kombinierte Persönlichkeitsstörung vor, wie sich aus einer Zusammenschau des im erstinstanzlichen
Verfahrens eingeholten Gutachtens des Dipl.-Psych. B mit dem im Auftrag des Beklagten erstellten Gutachten der praktischen
Ärztin und Fachärztin für Sportmedizin Dr. Kü sowie dem im Auftrag des Rentenversicherungsträgers erstellten Gutachten des
Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K ergibt.
Diese Erkrankung ist mit einem Einzel-GdB von 50 maximal bewertet, denn es erscheint aus Sicht des Senates zweifelhaft, ob
die Klägerin überhaupt unter einer schweren Störung oder eine stärker behindernden Störung mit wesentlicher Einschränkung
der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen,
Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) leidet. Im Gutachten der Dr. Kü wird die Psyche als „allseits orientiert,
keine formale Denkstörung, Grundstimmung leicht depressiv, wechselnd, misstrauisch, zum Teil resigniert, vorwurfsvoll“ beschrieben.
Des Weiteren wird ausgeführt, die Klägerin fühle sich nicht verstanden und falsch behandelt, es lägen deutliche Somatisierungstendenzen
vor. Psychiatrische Behandlungsversuche seien in der Vergangenheit abgebrochen worden. Eine ausgeprägtere Störung im oben
genannten Sinne lässt sich damit wohl kaum feststellen. Auch der Gutachter Dr. K hat die Klägerin anlässlich seiner Untersuchung
als bewusstseinsklar, in allen Ebenen voll orientiert, prinzipiell kontaktfähig und auch kontaktbereit, zurückhaltend, misstrauisch,
sensitiv, von der Grundstimmung her weitgehend indifferent, zum Teil auch etwas dysphorisch und zum Teil gedrückt, vom Antrieb
her eher adynam und schwunglos mit monotoner Sprache und relativer Hypomimie, affektiv matt, emotional übernachhaltig beeindruckbar
und reagierend, zum Teil latent vorwurfsvoll und externalisierend, erheblich vertrauensgestört, mit einem gestörten Selbstwerterleben
und erheblichen Ambivalenzen zwischen Anspruchsverhalten und Resignation, hinterfragend, abwehrend und misstrauisch, mit sehr
geringer intrapsychischer Selbstreflexion und Tendenz zur Somatisierung, einer eingeschränkten Stresstoleranz, einer reduzierten
Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit sowie zum Teil überwertig erscheinender Erlebnisverarbeitung beschrieben. Zusammenfassend
hat er ausgeführt, im Mittelpunkt stünde ein sich chronifizierendes neurasthenisches Syndrom gepaart mit diffusen organischen
Beschwerden wohl psychosomatischer Prägung. Auch dieser Beschreibung des Dr. K lässt sich eine ausgeprägtere depressive, hypochondrische,
asthenische oder phobische Störung nicht entnehmen.
Geht man zugunsten der Klägerin vom Vorliegen einer schweren Störung aus, lägen im Übrigen maximal mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten
vor, so dass nach Nr. 3.7 der versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von 50 maximal wäre. Vorliegend geht der Beklagte
davon aus, dass eine schwere Störung vorliegt, die mit mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten einhergeht. Streitig ist „nur
noch“, ob diese mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen einen
GdB von 50 bis 70 bedingen können, mit einem GdB von 50 zu bewerten sind.
Zur Auslegung der Begriffe „leichte“, „mittelgradige“ und „schwere“ soziale Anpassungsschwierigkeiten können die vom Ärztlichen
Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales am Beispiel des „schizophrenen Residualzustandes“ entwickelten
Abgrenzungskriterien herangezogen werden (vgl. Urteil des Senats vom 23. September 2015 - L 11 SB 35/13 – juris; unter Bezugnahme auf die Beschlüsse des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19. März 1998 und vom 8./9. November
2000). Danach werden
- leichte soziale Anpassungsschwierigkeiten angenommen, wenn z.B. Berufstätigkeit trotz Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch ohne wesentliche Beeinträchtigung möglich ist (wesentliche Beeinträchtigung nur in besonderen
Berufen, z. B. Lehrer, Manager) und keine wesentliche Beeinträchtigung der familiären Situation oder bei Freundschaften, d.
h. keine krankheitsbedingten wesentlichen Eheprobleme bestehen,
- mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten angenommen bei einer in den meisten Berufen sich auswirkenden psychischen
Veränderung, die zwar eine weitere Tätigkeit grundsätzlich noch erlaubt, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingt,
die auch eine berufliche Gefährdung einschließt; als weiteres Kriterium werden erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust
und affektive Nivellierung genannt, aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der z. B. eine
vorher intakte Ehe stark gefährden könnte,
- schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten angenommen, wenn die weitere berufliche Tätigkeit sehr stark gefährdet oder ausgeschlossen
ist; als weiteres Kriterium werden schwerwiegende Probleme in der Familie oder im Freundes- oder Bekanntenkreis bis zur Trennung
von der Familie, vom Partner oder Bekanntenkreis benannt.
Zwar bezieht die Klägerin eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, diese lässt sich jedoch insbesondere nach dem Gutachten der
Frau Dr. Kü nicht ausschließlich mit psychischen Problemen begründen. Denn wie bereits oben dargelegt, lassen sowohl die von
Dr. Kü als auch die von Dr. Kü erhobenen Befunde nicht erkennen, dass eine Tätigkeit auf dem gesamten Arbeitsmarkt nicht möglich
sein sollte. Eine so schwerwiegende psychische Erkrankung, die eine weitere berufliche Tätigkeit sehr stark gefährdet oder
ausschließt, liegt nach alledem nicht vor, auch wenn die beruflichen Möglichkeiten der Klägerin aufgrund der psychischen Erkrankungen
sicherlich eingeschränkt sind. Als weiteres Kriterium für mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten werden erhebliche
familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung genannt, aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer
Rückzug in einem Umfang, der z. B. eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte. In Bezug auf dieses Kriterium lässt sich
dem Gutachten des Dr. K entnehmen, dass bei der Klägerin weiterhin eine Kontinuität der privaten Lebensgestaltung zu sehen
ist. Sie lebt allein in einer eigenen Wohnung, schildert jedoch anlässlich der dortigen Untersuchung ausreichend soziale Kontakte.
Damit liegt bei der Klägerin maximal eine schwere Störung mit mittelgradigen Anpassungsstörungen vor. Die Erkrankung ist damit
insgesamt noch nicht so schwerwiegend, dass ein Einzel-GdB von mehr als 50 gerechtfertigt wäre. Nach alledem ist dem Sachverständigen
Dipl.-Psych. B zuzustimmen, dass vorliegend zwar mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten vorliegen, diese aber - noch
- im unteren Bereich anzusiedeln und damit mit einem GdB von 50 maximal bewertet sind.
Neuere Befunde und Einschätzungen konnte der Senat nicht erlangen, da die Klägerin nicht in neurologisch-psychiatrischer Behandlung
ist, so dass Befunde eines behandelnden Neurologen/Psychiaters nicht beigezogen werden konnten. Eine psychiatrische Begutachtung
hat die Klägerin im Berufungsverfahren abgelehnt.
Soweit der Sachverständige Dipl.-Psych. B bei der Klägerin einen weiteren Einzel-GdB von 20 für eine Aufhebung der sexuellen
Erlebnisfähigkeit noch Geschlechtsumwandlungsoperation in Anlehnung an eine Impotentia coeundi nach Nr. 13.2 der Anlage zu
§ 2 VersMedV vorschlägt, kann der Senat dem nicht folgen. Die Impotentia coeundi wird im Kommentar zur VersMedV als Unvermögen, den Beischlaf überhaupt oder in physiologischer Weise auszuführen, beschrieben und ist mit der Orgasmusunfähigkeit
der Klägerin nicht zu vergleichen. Diese kann den Beischlaf durchaus noch ausführen, leidet jedoch unter einer fehlenden Libido
und einer Orgasmusunfähigkeit. Eine der Impotentia coeundi vergleichbare Regelung lässt sich in Teil B Nr. 14 der Anlage zu
§ 2 VersMedV (weibliche Geschlechtsorgane) nicht finden. Für eine analoge Anwendung sieht der Senat keinen Raum.
Des Weiteren leidet die Klägerin unter einem Bluthochdruck den der Beklagte zutreffend mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet
hat. Zwar leidet die Klägerin unter einem Blutdruck, der in der 24-Stunden-Messung durchschnittlich ca. 150/90 mmHg betragen
hat, nachvollziehbar hat der Sachverständige Dipl.-Psych. B jedoch ausgeführt, dass dieser befriedigend einzustellen wäre,
wenn die Klägerin die ihr verordneten Medikamente zur Blutdrucksenkung einnehmen würde. Organbeteiligungen lassen sich bei
der Klägerin nicht feststellen es liegt damit eine leichte Form des Bluthochdrucks vor, die nach Teil B Nr. 9.3 der Anlage
zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB 0 bis 10 zu bewerten ist.
Soweit die Klägerin die Feststellung eines Einzel-GdB wegen eines Verlustes des Penis mit vollständiger Entfernung der Corpora
cavernosa von 80 sowie eines Einzel-GdB von 25 bis 30 wegen eines Verlustes beider Hoden begehrt, ist ein solcher GdB nicht
festzustellen. Zwar beträgt nach Teil B Nr. 13.1 der Anlage zu § 2 VersMedV (VersMedV) der Einzel-GdB bei Verlust des Penis mit vollständiger Entfernung der Corpora cavernosa 80. Ebenfalls nach Teil B Nr. 13.2
der Anlage zu § 2 VersMedV bedingt der Verlust beider Hoden - je nach Ausgleichbarkeit des Hormonhaushalts durch Substitution - einen Einzel-GdB von
20 bis 30.
Zu beachten ist jedoch §
2 Abs.
1 Satz 1 und
2 SGB IX. Danach sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben,
die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft
mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der
Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Bei der Klägerin handelt es sich um eine 61 Jahre alte Frau. Der Verlust des Penis mit vollständiger Entfernung der Corpora
cavernosa bzw. der Verlust beider Hoden bzw. das Nichtvorhandensein dieser ist für eine Frau jedoch kein Körper- und Gesundheitszustand,
der von dem für das Lebensalter typischen Zustand - einer durchschnittlichen Frau - abweicht. Im Übrigen ist den ausführlichen
Urteilen des Landgerichts Leipzig (Az. 6 O 3133/02) und des Oberlandesgerichts Dresden (Az. 4 U 87/07) zu entnehmen, dass die Operationen, denen sich die Klägerin unterzogen hat, komplikationslos verlaufen sind und de lege
artis durchgeführt wurden. Ein vom für das Lebensalter typischen Körper- und Gesundheitszustand abweichender Zustand lässt
sich bei der Klägerin im Bereich „männliche Geschlechtsorgane“ nach alledem nicht feststellen.
Soweit die Klägerin die Feststellung eines Einzel-GdB von 20 bis 30 wegen einer einfachen Gesichtsentstellung beantragt, ist
dem nicht zu folgen. Zwar ist nach Teil B Nr. 2.1 der Anlage zu § 2 VersMedV eine einfache Gesichtsentstellung, wenn sie nur wenig störend ist mit einem Einzel-GdB von 10 und sonst mit einem Einzel-GdB
von 20 bis 30 zu bewerten. Eine hochgradige Entstellung des Gesichts ist mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten. Hochgradig
ist eine Entstellung des Gesichts bzw. es liegt eine abstoßend wirkende Gesichtsentstellung vor, wenn die Entstellung bei
Menschen, die nur selten Umgang mit behinderten Menschen haben, üblicherweise Missempfindungen wie Erschrecken oder Abscheu
oder eine anhaltende Abneigung gegenüber dem behinderten Menschen auszulösen vermag (BSG, Urteil vom 29. November 1973, 10 RV 541/72, zitiert nach juris). Im vom BSG entschiedenen Fall hatte der Kläger beide Augen verloren und sah sich nicht in der Lage, längerfristig seine Kunstaugen zu
tragen, auch eine getönte Brille, die die leeren Augenhöhlen verdecken würde, sei ihm nicht zumutbar.
Bei der Frage einer einfachen Gesichtsentstellung, die nicht nur wenig störend ist, handelt es sich ebenso wie bei einer hochgradigen
Entstellung des Gesichts um unbestimmte Rechtsbegriffe. Die Schwierigkeit bei der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe wird
vorliegend dadurch erhöht, dass auch noch die Bereiche des Gefühlsmäßigen betroffen werden. Bei ihnen sind allgemein gültige
Maßstäbe nur schwer zu finden. Dazu hat das BSG in dem oben zitierten Urteil unter anderem ausgeführt, es seien die Empfindungen der Allgemeinheit, und insbesondere von
normalempfindenden und -reagierenden außenstehenden Dritten zu berücksichtigen. Diese Abgrenzung des maßgebenden Personenkreises
ist sachgerecht und geeignet, den unbestimmten Rechtsbegriff auszufüllen. Als „abstoßend“ hat das BSG das Auslösen von Missempfindungen wie Abscheu, Ekel, Erschrecken oder anhaltende Abneigung angesehen. Dies entspricht dem
Sinngehalt, welcher mit dem Wort verbunden ist. Diese Missempfindungen löst der Anblick der Klägerin keineswegs aus. Der Senat
hat sich bei dieser Einschätzung nicht nur auf die ärztlichen Gutachten gestützt, sondern auch auf seine Einnahme des Augenscheins
in der mündlichen Verhandlung.
Vorliegend macht die Klägerin geltend, dass ihr Gesicht entstellt sei, werde dadurch bewiesen, dass sie infolge dieser Einstellung
einer Tätlichkeit ausgesetzt gewesen sei, die zu einer Nasenbeinfraktur geführt habe. Sie werde aufgrund ihres Äußeren als
Mann wahrgenommen. Gerade ihr Äußeres habe zu der Tätlichkeit und der Nasenbeinfraktur als Folge geführt. Diese sei auch nach
dem
Opferentschädigungsgesetz mit Bescheid vom 13. November 1998 anerkannt worden. Den entsprechenden Bescheid hat die Klägerin beigefügt. Aus diesem ergibt
sich, dass sie im Juli 1997 eine Nasenbeinfraktur ohne Dislokation erlitten hat sowie eine Prellung des linken Jochbeins.
Aus dieser Nasenbeinfraktur ohne Dislokation ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts keine Gesichtsentstellung, denn diese
heilt folgenlos aus.
Soweit die Klägerin eine Gesichtsentstellung daraus ableiten will, dass ihre Gesichtszüge zu männlich seien, stellt dies keine
Entstellung dar. Nach den Ausführungen des BSG und aus einem Vergleich mit den ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 30 bewerteten Narben am Schädel mit erheblichem Verlust
von Knochenmasse nach Warzenfortsatzaufmeißelung ergibt sich für den Senat eindeutig, dass für eine einfache Gesichtsentstellung,
die nicht nur wenig störend ist, nicht jede körperliche Abnormität genügt. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche
Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten
lässt, dass Betroffene ständig viele Blicke auf sich ziehen, zum Objekt besonderer Beachtung anderer werden und sich deshalb
aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen drohen, so dass deren Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
gefährdet ist (BSG, Urteil vom 08. März 2016, B 1 KR 35/15 R, zitiert nach juris).
Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein:
Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden
sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi „im Vorbeigehen“ bemerkbar macht und
regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass
die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung
korrigieren müssen. Die Rechtsprechung hat als Beispiele für eine Entstellung z. B. eine Wangenatrophie oder Narben im Lippenbereich
angenommen oder erörtert. Unter Narben oder anderen Auffälligkeiten im Gesicht leidet die Klägerin nicht, wie der Senat anlässlich
der Inaugenscheinnahme in der mündlichen Verhandlung feststellen konnte. Eine Gesichtsentstellung lässt sich nach alledem
nicht feststellen.
Soweit die Klägerin die Feststellung eines Einzel-GdB von 20 wegen einer Lockerung des Kniebandapparates begehrt, kann der
Senat dem nicht folgen. Insbesondere dem Befundbericht des die Klägerin behandelnden Hausarztes Dr. W lässt sich eine solche
Diagnose nicht entnehmen. Einen behandelnden Orthopäden oder Chirurgen hat die Klägerin im Berufungsverfahren nicht benannt.
Aus dem im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Befundbericht des Facharztes für Chirurgie Dr. M ergaben sich lediglich
vorübergehende Gesundheitsstörungen infolge eines Verkehrsunfalles. Eine Bandlockerung des Kniebandapparates oder anderer
Beschwerden des Knies werden nicht genannt.
Gleiches gilt für die von der Klägerin geltend gemachte Refluxkrankheit der Speiseröhre sowie die chronischen Darmstörungen,
die keiner der behandelnden Ärzte der Klägerin genannt hat.
Dr. W hat die Diagnose einer arteriellen Hypertonie, eines Transsexualismus, eines Vitamin-D-Mangels sowie einer Extrasystolie
gestellt. Eine Refluxkrankheit bzw. chronische Darmstörungen hat er nicht genannt. Diese ließen sich auch nicht durch eine
Begutachtung der Klägerin nachweisen, denn diese hat sie abgelehnt.
Die bestehenden Ekzeme bedingen keinen Einzel-GdB. Der die Klägerin behandelnde Hautarzt Sch hat in seinem Befundbericht ein
atopisches Ekzem der Hände und Beine diagnostiziert. Nach Teil B Nr. 17.1 der Anlage zu § 2 VersMedV ist ein atopisches Ekzem mit geringer, auf die Prädilektionsstellen begrenzter Ausdehnung bis zu zweimal im Jahr für wenige
Wochen auftretend mit einem Einzel-GdB von 0-10 und erst bei länger dauerndem Bestehen mit einem Einzel-GdB von 20-30 zu bewerten.
Der Dermatologe Sch hat mitgeteilt, die Klägerin sei bei ihm einmal im Jahr Behandlung. Es handele sich um ein moderates atopisches
Ekzem, das mit kortisonhaltigen Cremes und Salben behandelt werde. Dass das atopische Ekzem bei der Klägerin wenigstens zweimal
im Jahr auftritt, lässt sich dem Befundbericht nicht entnehmen. Der Hautausschlag ist offensichtlich gut behandelbar, denn
eine jährliche Vorstellung beim Hautarzt ist ausreichend. Ein GdB von wenigstens 10 lässt sich nach alledem nicht feststellen.
Aus dem höchsten Einzel-GdB von 50 für die psychische Erkrankung sowie dem weiteren Einzel-GdB von 10 für den Bluthochdruck
ist ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden. Zutreffend sind sowohl der Beklagte als auch der Sachverständige Dipl.-Psych. B davon
ausgegangen, dass die weitere Behinderung der Klägerin, die „lediglich“ mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten ist, den höchsten
Einzel-GdB für die psychische Erkrankung nicht erhöht.
Nach alledem ist der Berufung zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und trägt dem Ausgang des Verfahrens Rechnung. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 und
2 SGG nicht vorliegt.