Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von Kosten der Unterkunft und Heizung in dem Zeitraum vom 1. Oktober 2019 bis
zum 30. September 2020.
Der 31jährige erwerbsfähige Kläger bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Er war bis Juni 2016 als Kfz-Mechatroniker angestellt und lebte zu dieser Zeit mit seiner damaligen Lebensgefährtin in
einer eigenen Wohnung. Der Kläger leidet an einer depressiven Erkrankung. Im Jahr 2017 trennte sich die damalige Lebensgefährtin
von dem Kläger. Der Kläger zog Ende August 2017 aus der gemeinsamen Wohnung aus und zog wieder zu seinen Eltern, die ein Reihenhaus
in H.- A. besitzen. Er bezog dort sein früheres Kinderzimmer. Der Kläger vereinbarte mit seinen Eltern, dass er eine monatliche
Inklusivmiete in Höhe von 250,- Euro an seine Eltern zu entrichten habe. Bis zum Monat Oktober 2018 entrichtete er die vereinbarte
Miete in bar. Diese Aufwendungen konnte er aus Erspartem und Verkäufen eines Autos sowie von Autoteilen bestreiten.
Die Eltern des Klägers erklärten im Rahmen ihrer einkommenssteuerrechtlichen Veranlagung für das Jahr 2018 die aus den Mietzahlungen
des Klägers erhaltenen Einnahmen, die im Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2018 berücksichtigt wurden.
Im Jahr 2019 sind den Eltern des Klägers für Tilgung und Zinsen des für den Erwerb des Reihenhauses eingesetzten Darlehens
monatliche Kosten zwischen 1.093,95 Euro und 1.123,17 Euro entstanden.
Der Kläger beantragte im Oktober 2018 die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes von dem Beklagten,
die der Beklagte bis zum Ende des Monats März bewilligte. Am 8. März 2019 beantragte er die Weiterbewilligung von Leistungen
nach dem SGB II ab April.
Am 5. Februar 2019 und am 5. März 2019 wies der Kläger jeweils 250,- Euro zugunsten des Kontos seiner Eltern an.
Leistungen für den Zeitraum ab April 2019 bewilligte der Beklagte erst, nachdem der Kläger ein Verfahren auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung vor dem Sozialgericht geführt hatte, mit Bescheid vom 15. August 2019. Der Kläger erhielt am 20. August
2019 eine Nachzahlung für die Monate April 2019 bis August 2019 in Höhe von 2.120,- Euro. Am 22. August 2019 wies der Kläger
eine Zahlung in Höhe von 950 Euro mit dem Verwendungszweck „Rueckzahlung Kredite“ und eine weitere Zahlung in Höhe von 1.000
Euro mit dem Verwendungszweck „Mieten 4 Stck.“ zugunsten der Bankverbindung seiner Eltern an.
Am 5. September 2019 beantragte der Kläger die Weiterbewilligung von Leistungen für den Zeitraum ab Oktober 2019. Mit Bescheid
vom 19. September 2019 bewilligte der Beklagte Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum von Oktober 2019 bis September 2020 ohne dabei Kosten der Unterkunft und Heizung anzuerkennen. Den hiergegen
gerichteten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 2020 zurück.
Der Kläger hat am 22. Januar 2020 Klage vor dem Sozialgericht erhoben. Er machte geltend, dass es sich um eine reine Wohngemeinschaft
handele. Er legte im Verfahren eine von ihm stammende eidesstattliche Versicherung und eine eidesstattliche Versicherung seiner
Eltern vor.
Das Sozialgericht hat der Klage mit Gerichtsbescheid vom 13. Mai 2020, der dem Beklagten am 13. Mai 2020 zugestellt wurde,
stattgegeben und nicht an dem Vortrag des Klägers gezweifelt. Der Vortrag sei nachvollziehbar. Die eidesstattlichen Versicherungen
bestätigten den Vortrag des Klägers.
Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 4. Juni 2020 Berufung gegen den Gerichtsbescheid eingelegt. Der Beklagte macht geltend,
dass gemäß § 9 Abs. 5 SGB II davon auszugehen sei, dass die Eltern den Kläger unterstützten. Dies sei nach den Einkommensverhältnissen der Eltern des
Klägers, die mit ihm eine Haushaltsgemeinschaft bildeten, zu vermuten. Die Eltern hätten zudem auch den Wiedereinzug angeboten.
Auch angesichts der Erkrankung des Klägers sei nicht wahrscheinlich, dass die Eltern ihn mit einer Zahlungspflicht belasten
wollten.
Der Beklagte und Berufungskläger beantragt,
den Gerichtsbescheid vom 13. Mai 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie zu entscheiden, dass außergerichtliche Kosten
nicht zu erstatten sind.
Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
In der mündlichen Verhandlung vom 10. September 2021 hat das Gericht den Kläger angehört und den Vater des Klägers sowie die
Mutter des Klägers als Zeugen vernommen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift
verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstanden insbesondere der vom Kläger vorgelegten eidesstattlichen
Versicherungen, wird auf die Prozessakte des Gerichts und die beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige, insbesondere statthafte sowie frist- und formgerecht erhobene Berufung des Beklagten ist nicht begründet. Zu
Recht hat das Sozialgericht entschieden, dass die von dem Kläger vor dem Sozialgericht angegriffene Bewilligungsentscheidung
rechtswidrig war und den Kläger in seinen Rechten verletzt hat, weil der Beklagte im Rahmen der Bewilligungsentscheidung keine
Kosten der Unterkunft und Heizung anerkannt hat, obwohl dem Kläger Kosten der Unterkunft und Heizung entstanden sind.
1.
Der Senat sieht es als erwiesen an, dass der Kläger seinen Eltern in dem Zeitraum von Oktober 2019 bis Oktober 2020 eine Inklusivmiete
von 250,- Euro im Monat zu zahlen hatte.
a.
Auch Mietverhältnisse unter Verwandten oder Angehörigen können im Rahmen von § 22 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigenden Kosten der Unterkunft und Heizung führen. Entscheidend ist, ob ein rechtlicher Bindungswille der Vertragsparteien
im Rahmen eines Mietverhältnisses besteht. Bei der vorgegebenen vertraglichen Verpflichtung darf es sich nicht um ein sogenanntes
Scheingeschäft im Sinne von §
117 Abs.
1 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) handeln. Ein solches Scheingeschäft liegt vor, wenn die vermeintlichen Parteien eines Schuldverhältnisses in gegenseitigem
Einverständnis lediglich den äußeren Schein eines Rechtsgeschäftes hervorrufen, ohne die mit dem angeblichen Geschäft verbundenen
Rechtsfolgen eintreten lassen zu wollen. Im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Umstände ist die tatsächliche Durchführung des
vorgetragenen Mietverhältnisses zu berücksichtigen. Die Bewertung der Ernsthaftigkeit der Mietzahlungsforderung ist davon
zu trennen, ob und in wieweit Verwandte oder Angehörige die Vollstreckung, Kündigung oder gar Räumung betreiben (zu allem
ausführlich: Senatsurteil vom 6.8.2020 – L 4 AS 51/19 mit weiteren Nachweisen).
b.
Leben Hilfebedürftige in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten, so wird nach § 9 Abs. 5 SGB II vermutet, dass sie von den Verwandten oder Verschwägerten Leistungen erhalten, soweit dies nach dem Einkommen und Vermögen
der Verwandten oder Verschwägerten erwartet werden kann.
Diese Vermutung lässt sich widerlegen. Sie ist dann widerlegt, wenn festgestellt werden kann, dass trotz entsprechender Leistungsfähigkeit
keine Unterstützungsleistungen erbracht werden (vgl. Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 9 Rn. 104). Bezogen auf die in diesem Verfahren zwischen den Parteien streitige Frage, ob die Eltern des Klägers ihm die Unterkunft
nicht als Unterstützungsleistung im Sinne von § 9 Abs. 5 SGB II gewähren, ist die Vermutung dann widerlegt, wenn eine ernsthafte Verpflichtung zur Zahlung von Miete festgestellt werden
kann. Denn dann wird die Unterkunft gerade nicht als Unterstützungsleistung, sondern im Rahmen eines Austauschvertrages gewährt.
c.
Dass eine ernstliche Verpflichtung zur Mietzinszahlung besteht, liegt schon nach den eidesstattlichen Versicherungen nahe.
Auch die tatsächliche Durchführung des Mietverhältnisses spricht nach Auffassung des Senats für die Vereinbarung einer ernstlichen
Verpflichtung zur Zahlung von Miete erwiesen. Zur Überzeugung des Senats hat der Kläger vor dem Leistungsbezug bei dem Beklagten
Zahlungen an seine Eltern geleistet und auch – nach Beginn des Leistungsbezuges – jedenfalls in den Monaten Februar und März
2019. Die Mieten für die Monate April 2019 bis Juli 2019 hat der Kläger im Nachhinein geleistet. Wenn tatsächlich Miete gezahlt
wird, liegt nahe, dass eine Verpflichtung zur Mietzahlung besteht.
Die Eltern des Klägers haben zudem im Rahmen ihrer Veranlagung zur Einkommenssteuer die Einnahmen aus dem Mietverhältnis mit
dem Kläger erklärt. Der Senat sieht die ordnungsgemäße steuerliche Abwicklung des Mietverhältnisses als gewichtiges Indiz
für die Ernsthaftigkeit der Abrede an, sowie dafür, dass vor Leistungsbezug schon Mietzahlungen erfolgten. Hätte lediglich
ein Scheingeschäft vorgelegen, wären die Einnahmen nicht als Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung zu erklären gewesen,
sondern vor dem Hintergrund der nach § 16Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz vorgesehenen Freibeträge einer Besteuerung
wohl nicht unterzogen worden. Der Senat hält es für sehr unwahrscheinlich, dass die Eltern des Klägers tatsächlich nicht erfolgte
Zahlungen an sie im Rahmen der steuerlichen Veranlagung angeben.
Zudem konnte der Kläger durch die Vorlage von Kontoauszügen nachweisen, dass er einen erheblichen Teil der am 20. August 2019
erhaltenen Nachzahlung des Beklagten für die Begleichung von Mietrückständen eingesetzt hat, obwohl der Beklagte keine Kosten
der Unterkunft und Heizung anerkannt hatte, sondern dem Kläger nur den Regelbedarf gewährt hatte. Dass der Kläger einen nicht
unerheblichen des Regelbedarfs für die Tilgung seiner Mietschulden aufgewendet hat, spricht für die ernsthafte Vereinbarung
einer Verpflichtung zur Zahlung von Miete.
Dieses Bild wird durch die Anhörung des Klägers und die Vernehmungen der Zeugen bestätigt. Nach der Durchführung der Beweisaufnahme
ist sich der Senat gewiss, dass eine ernstliche Verpflichtung zur Zahlung von Miete besteht. Sowohl der Kläger wie auch die
Zeugen haben bei dem Senat einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen, ohne dass das eigene Interesse der Zeugen an dem Ausgang
des Rechtsstreits von dem Senat außer Acht gelassen wurde. Der Senat hält auch die Angaben des Klägers und der Zeugen für
glaubhaft. Sie haben im Wesentlichen kohärent mit den übrigen Feststellungen berichtet. Geringfügige Unstimmigkeiten hält
der Senat für ein Indiz, dass die Aussagen des Klägers und des Zeugen, die sicher über das Verfahren gesprochen haben mögen,
nicht im Einzelnen abgestimmt waren. Die Zeugen haben im Wesentlichen logisch konsistent, also widerspruchsfrei, sowie offen
berichtet. Auch soweit sich aus der Vernehmung eine Aussagestruktur ablesen lässt, bekräftigt diese die Glaubhaftigkeit der
Angaben. So hat vor allem die Mutter des Klägers zu Geschehnissen, die ihr im Termin immer noch sichtlich nahegingen, nämlich
zu ihrer Sorge um den Kläger in Zeiträumen, in denen sich die Symptomatik der Erkrankung des Klägers als stark und akut darstellte,
ähnlich strukturiert berichtet, wie zu im Verfahren streitigen oder lediglich nebensächlichen in der Vernehmung angesprochenen
Themen. Erinnerungslücken haben die Zeugen offengelegt. Die Zeugen haben nachvollziehbar ihre jeweils persönliche Motivation,
Ängste und Befürchtungen geschildert.
Nach den Zeugenvernehmungen steht für den Senat darüber hinaus fest, dass keine dauerhafte Stundung des Mietzinses vorlag
(vgl. BSG, Urteil vom 7.5.2009 – B 14 AS 31/07 R), sondern die Eltern des Klägers ihm als Folge der Nichtberücksichtigung der Kosten der Unterkunft durch den Beklagten
„unfreiwillig“ einen Zahlungsaufschub gewährt haben (vgl. Senatsurteil vom 6.8.2020 – L 4 AS 51/19 ). Die Zeugen wussten auch, dass der Kläger die Gewährung von Leistungen für die Kosten der Unterkunft im Widerspruchsverfahren
und vor dem Sozialgericht verfolgt.
2.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.
3.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 nicht vorliegen.