Tatbestand
Im Streit ist ein Anspruch auf Vergütung wegen vollstationärer Krankenhausbehandlung.
Die Klägerin betreibt ein nach §
108 des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch (
SGB V) zugelassenes Krankenhaus. In der Zeit vom 26. August 2010 bis 10. Februar 2011 behandelte sie die am … 1983 geborene, bei
der Beklagten gesetzlich krankenversicherte und vor allem an einer Borderline-Störung leidende N.W. (im Folgenden: Versicherte)
in ihrer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, II. Fachabteilung Persönlichkeitsstörungen/Trauma stationär. Die Aufnahme
erfolgte elektiv zu einem zweiten Behandlungsintervall der sog. Beziehungszentrierten Psychodynamischen Psychotherapie (im
Folgenden: BPP). Die Versicherte war im Krankenhaus der Klägerin zuvor bereits vom 23. Januar 2010 bis zum 29. Juni 2010 stationär
behandelt worden (zunächst nach Einlieferung als Notfall nach einem Suizidversuch mittels Tablettenintoxikation auf der Medizinischen
Intensivstation der Klinik für Innere Medizin I, dann Verlegung am 27. Januar 2010 in die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
II. Fachabteilung Persönlichkeitsstörungen/Trauma, wo ein erstes Behandlungsintervall der BPP durchgeführt worden war). Des
Weiteren war vom 10. Juli 2010 bis zum 11. Juli 2010 nach einer Tabletten- und Alkoholintoxikation und Einlieferung als Notfall
eine weitere stationäre Behandlung in einem anderen Krankenhaus der Klägerin (A., I. Med. Abteilung für Innere Medizin) erfolgt,
die jedoch wegen fehlender Behandlungsbereitschaft der Versicherten abgebrochen worden war.
Für die streitgegenständliche stationäre Behandlung rechnete die Klägerin gegenüber der Beklagten einen Gesamtbetrag in Höhe
von 35.088,89 Euro (22 Teilrechnungen zwischen dem 30. September 2010 und dem 22. Februar 2011 mit tagesgleichen Pflegesätzen
<Abteilungspflegesatz Psychiatrie sowie Basispflegesatz> nebst Zuschlägen unter Aussparung von 7 Tagen Abwesenheit) ab. Die
Beklagte zahlte zunächst den vollständigen Rechnungsbetrag. Sie ließ den Behandlungsfall danach aber vom Medizinischen Dienst
der Krankenversicherung (MDK) überprüfen. Dieser kam in seinem Erstgutachten vom 1. April 2012 durch Dr. B. sowie in dem Widerspruchsgutachten
vom 11. Dezember 2014 durch Dr. K. jeweils zu dem Ergebnis, dass eine primäre Fehlbelegung vorgelegen habe. Ein krankenhausbegründender
psychopathologischer Befund habe am 26. August 2010 nicht vorgelegen. Im Rahmen einer kombinierten Persönlichkeitsstörung
habe eine depressive Symptomatik allenfalls mittelgradiger Ausprägung bestanden, die nicht der besonderen Mittel einer vollstationären
Krankenhausbehandlung bedurft hätte, sondern im ambulanten fachärztlich-psychiatrisch-psychotherapeutischen Rahmen, gegebenenfalls
unter Einschaltung komplementärer Hilfssysteme, behandelbar gewesen wäre. Die durchgeführten Behandlungsmethoden mit psychotherapeutischen
Schwerpunkten unter Einbezug der biografischen Anamnese hätten eher rehabilitativ-medizinischen Charakter aufgewiesen. Nach
erfolgloser Rückforderung der gezahlten 35.088,89 Euro verrechnete die Beklagte schließlich am 17. August 2015 den gesamten
Betrag mit anderen unstreitigen Vergütungsansprüchen der Klägerin.
Die Klägerin hat am 10. Dezember 2015 Klage beim Sozialgericht (SG) Hamburg erhoben und die Auffassung vertreten, dass die stationäre Behandlung der Versicherten über den gesamten Behandlungszeitraum
medizinisch indiziert gewesen sei. Die Versicherte habe unter einer schweren Borderline-Persönlichkeitsstörung mit zahlreichen
Komorbiditäten gelitten. Das komplexe Beschwerdebild sei mit einem hohen Leidensdruck einhergegangen, weswegen die Versicherte
etwa anderthalb Monate vor Wiederaufnahme auch einen Suizidversuch unternommen gehabt habe. Im Verlauf der komplexen und intensiven
psychotherapeutischen Bearbeitung sei es – in einer für schwer persönlichkeitsgestörte und psychotraumatisierte Patienten
durchaus typischen und zu erwartenden Weise – zu einer vorübergehenden psychischen Verschlechterung, unter anderem in Form
von „überflutenden“ negativen Affekten und dissoziativen Zuständen gekommen. Dies habe die haltgebende, strukturierende und
affektspiegelnde Behandlung im vollstationären multiprofessionellen Setting dringend notwendig gemacht, um schwere, z.B. suizidale,
Krisen auffangen zu können. Auch habe der Versicherten ein „gestärktes“ Hervorgehen aus dieser erneuten Verschlechterung mit
besserer Integration der Ich-Struktur, des Affekterlebens, der Affektsteuerung sowie der traumatischen Ereignisse ermöglicht
werden können. Die vorliegende depressive Symptomatik habe dabei nicht zentral im Behandlungsfocus gestanden, und entgegen
der Auffassung des MDK seien die Behandlungsmethoden auch weit über eine Reha-Maßnahme hinausgegangen. Die Tagesexpositionsversuche
seien im Rahmen des beziehungszentrierten Ansatzes wichtig gewesen, um das Beziehungssystem zu beruhigen und der Versicherten
Gelegenheit zu geben, funktionale Verhaltensweisen einzuüben. Aufgrund des Alkoholabusus der Versicherten hätte im Übrigen
bei einer teilstationären Behandlung die Gefahr bestanden, dass diese sich hätte schädigen können, wenn sie über Nacht woanders
gewesen wäre, dass es zu einer Enthemmung der selbstschädigenden Muster hätte kommen können.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
L., die unter dem 19. Dezember 2016 zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Versicherte bei Aufnahme am 26. August 2010 unter
einer schweren und komplexen seelischen Störung in Gestalt einer kombinierten Persönlichkeitsstörung in Form einer Borderline-Persönlichkeitsstörung,
dependenten (abhängigen) Persönlichkeitsstörung, selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung, paranoiden Persönlichkeitsstörung
und depressiv-negativistischen und zwanghaften Persönlichkeitsstörung sowie einer dissoziativen Störung gelitten habe. Daneben
hätten eine Schlafstörung und ein sekundärer Alkoholmissbrauch bestanden. Die Versicherte sei sowohl durch eine mögliche psychotische
Dekompensation als auch durch das Risiko der Suizidalität gefährdet gewesen. Auch habe die Versicherte während des stationären
Aufenthalts erstmalig den sexuellen Missbrauch, der über mehrere Jahre hinweg in der frühesten Kindheit erfolgte, offenbart.
In der Zusammenschau dieser Risiken auf dem Boden der dargelegten Kombination der Persönlichkeitsstörungen sei eine eindeutige
Indikation für die Einleitung einer sog. Intervall-Behandlung folgerichtig. Die Versicherte habe auch ausweislich der umfangreichen
Verlaufsdokumentation zu keinem früheren Zeitpunkt ohne Gefahr der Verschlechterung entlassen werden können. Tagesbeurlaubungen
(d.h. Tagesexpositionsversuche) seien im Rahmen der Zielsetzung der Intervallbehandlung notwendig und entsprechend gängige
Praxis bei der Behandlung so schwer beeinträchtigter Patienten. Diese ermöglichten den Patienten zum einen Erholung vom therapeutischen
Ansatz, zum anderen die Erprobung des Erlernten im eigenen sozialen Kontext. Die erfolgte Behandlung der komplexen Persönlichkeitsstörung
und des sekundären Alkoholmissbrauchs habe den notwendigen und üblichen Standards, unter denen eine solche Behandlung durchzuführen
sei, entsprochen. Aufgrund des akuten seelischen Zustandsbildes mit den deutlichen Risikofaktoren hätte die Behandlung nicht
im ambulanten oder teilstationären Rahmen erfolgen können. Da in Anbetracht des Alters und der spezifischen Vorgeschichte
der Versicherten nicht von einer inzwischen chronifizierten Störung auszugehen sei, sei die Einleitung einer rehabilitativen
Maßnahme auch nicht notwendig gewesen, da die Akutbehandlung im Vordergrund gestanden habe.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 21. Juni 2017 hat die gerichtliche Sachverständige bekräftigt, dass die Versicherte
zum Zeitpunkt der stationären Behandlung bzw. vor der stationären Aufnahme am 26. August 2010 mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit für eine ambulante psychotherapeutische Behandlung nicht stabil genug gewesen sei. Auch seien Tagesbeurlaubungen
bei der vorliegenden Form der Therapie freizügig einzusetzen. Tagesbeurlaubungen gehörten zum therapeutischen Prozess, um
die zur Kontrolle ihrer Ängste benötigte Distanzierung zu ermöglichen und gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, Erfahrungen
in der „Echt-Welt“ zu überprüfen.
Die Beklagte ist nach Einholung zweier weiterer Stellungnahme des MDK vom 1. Februar und 29. September 2017 (jeweils Dr. K.)
bei der Auffassung geblieben, dass von einer primären Fehlbelegung auszugehen sei. Die Sachverständige gehe in ihrem Gutachten
nicht auf den Umstand ein, dass eine ambulante fachspezifische Behandlung fortlaufend und im Vorfeld vor Aufnahme der Intervallbehandlung
nicht stattgefunden habe. Aus Sicht des MDK-Gutachters spreche die „exorbitante“ Anzahl der Tagesexpositionsversuche (derer
100 an 169 Behandlungstagen) gegen die Notwendigkeit einer vollstationären Krankenhausbehandlung.
Das SG hat über die Klage am 13. Juli 2020 mündlich verhandelt, ihr mit Urteil vom selben Tag stattgegeben und die Beklagte verurteilt,
an die Klägerin 35.088,89 Euro nebst 5% Zinsen seit dem 17. August 2015 zu zahlen.
Die als Leistungsklage nach §
54 Abs.
5 SGG zulässige Klage habe in der Sache Erfolg. Die Klägerin habe gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung der eingeklagten
Vergütung. Der Beklagten habe kein Erstattungsanspruch zugestanden, mit dem sie die bereits gezahlte Vergütung für den streitigen
Behandlungsfall habe verrechnen dürfen.
Rechtsgrundlage des geltend gemachten Vergütungsanspruchs seien §
109 Abs.
4 S. 3
SGB V, §§ 16, 17 Abs. 2 und 18 Abs. 2 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG), §§
7,
9 der
Bundespflegesatzverordnung (
BPflV) in Verbindung mit der zwischen den Beteiligten einschlägigen Pflegesatzvereinbarung für das Jahr 2010 sowie dem am 1. Januar
2003 in Kraft getretenen Vertrag nach §
112 Abs.
2 Nr.
1 SGB V Allgemeine Bedingungen der Krankenhausbehandlung vom 19. Dezember 2002 zwischen der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft
e.V. und unter anderem der Beklagten (im Folgenden: Hamburger Vertrag nach §
112 SGB V). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entstehe die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit der Inanspruchnahme
einer Leistung durch den Versicherten, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt werde und im Sinne
des §
39 Abs.
1 S. 2
SGB V erforderlich sei (Hinweis auf BSG, Urteil vom 16. Mai 2012 – B 3 KR 14/11 R –, juris). Das Regelungssystem des
SGB V begründe Ansprüche auf eine erforderliche Krankenhausbehandlung (§
27 Abs.
1, §
39 Abs.
1 S. 2
SGB V) unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots nach objektiven Kriterien (Hinweis auf BSG Großer Senat, Beschluss vom 25. September 2007 – GS 1/06 –, BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr. 10, Rn. 30 f.; BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008 – B 1 KR 2/08 R –, SozR 4-2500 § 13 Nr. 20 Rn. 19 ff. m.w.N.). Dies bedeute, dass die Krankenhausbehandlung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich
sein müsse und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfe. Nur unter diesen Voraussetzungen schulde die Krankenkasse
dem Versicherten eine Krankenhausbehandlung und dem Leistungserbringer korrespondierend die vereinbarte Vergütung (§ 2 Abs.
1 S. 1, §
12 Abs.
1 S 1, §
70 Abs.
1 SGB V). Ein Anspruch auf Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung setze dementsprechend u.a. voraus, dass die Behandlung unter
Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebots erforderlich gewesen sei und die Voraussetzungen der gesetzlichen und vertraglich
vorgesehenen Vergütungsregelungen erfüllt seien (Hinweis auf BSG, Urteil vom 13. November 2012 – B 1 KR 27/11 R –, BSGE 112, 156-170 = SozR 4-2500 § 114 Nr. 1, Rn. 33).
Diese Voraussetzungen lägen vor. Entgegen der Auffassung der Beklagten gehe die Kammer davon aus, dass die Versicherte für
den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum einer stationären Behandlung bedurft habe und eine solche bis zur Entlassung
der Versicherten am 10. Februar 2011 erforderlich gewesen sei.
Die Kammer stütze sich dabei auf die Ausführungen der Sachverständigen, wonach die Versicherte zum Zeitpunkt der Aufnahme
am 26. August 2010 unter einer schweren und komplexen seelischen Störung gelitten habe. Dass es sich vorliegend um eine komplexe
Erkrankung gehandelt habe, habe der MDK in der mündlichen Verhandlung eingeräumt. Die Sachverständige stelle fest, dass zum
Zeitpunkt der Aufnahme der Versicherten ein Kontrollverlust der anflutenden Gefühle mit Überflutung von Traurigkeit und erhebliche
Belastungen im Hinblick auf die partnerschaftlichen Beziehungen bestanden hätten. Die Sachverständige führe in ihrem Gutachten
aus, dass die Indikation für eine stationäre Intervallbehandlung bei mehrfach traumatisierten Patienten mit komplexer Persönlichkeitsstörung
dann gegeben sei, wenn im ambulanten Setting ein Auseinanderbrechen der fraktionierten Ich-Struktur drohe. Dies sei insbesondere
bei dissoziativen Störungen, welche laut der Sachverständigen in einem hohen Prozentsatz als Folge von schwerwiegenden und
sich über einen längeren Zeitraum hinziehenden Traumatisierungen entstünden, gegeben. Dissoziative Zustände hätten bei der
Versicherten vorgelegen und seien in der Krankenakte dokumentiert. Auch seien bei der Versicherten bereits in jüngster Kindheit
traumatisierende Ereignisse erfolgt. So sei aus der Krankenakte ersichtlich, dass die Versicherte ab einem Alter von ca. 3
bis 4 Jahren von dem jeweiligen Partner ihrer Mutter sexuell missbraucht worden sei. Die Tatsache, dass die Versicherte den
Missbrauch erst im Verlauf der Behandlung offenbart habe, stehe nach Auffassung der Kammer der Indikation der stationären
Behandlung ab dem 26. August 2010 nicht entgegen. Die Traumatisierung habe zu diesem Zeitpunkt bereits bestanden. Die Sachverständige
führe weiter aus, dass die Versicherte auch durch das Risiko der Suizidalitätgefährdet gewesen sei. Die Versicherte habe in
den letzten sieben Monaten vor der streitgegenständlichen Behandlung zwei Suizidversuche begangen gehabt, wie ebenfalls aus
der Krankenakte ersichtlich sei. Die Sachverständige erläutere dazu, dass Menschen mit kombinierten Persönlichkeitsstörungen
ein zehnmal höheres Suizidrisiko hätten, was zusätzlich die Intensität der Behandlung rechtfertige.
Entgegen den Ausführungen des MDK spreche auch nicht gegen die stationäre Behandlungsbedürftigkeit, dass die Versicherte während
ihres Aufenthalts keiner nächtlichen Interventionen bedurft habe. Allein die Tatsache, dass sich die bestehenden Risiken nicht
realisiert hätten, spreche nicht gegen die Notwendigkeit einer stationären Behandlung.
Soweit der MDK ausführe, dass vor der hier streitgegenständlichen stationären Behandlung keine ambulante fachspezifische Behandlung
der Versicherten stattgefunden habe, sei die Kammer der Auffassung, dass zumindest im Zeitpunkt der Aufnahme der Versicherten
am 26. August 2010 (und bis zum Ende des streitgegenständlichen Aufenthalts) eine Behandlung im ambulanten oder teilstationären
Rahmen aufgrund der Risikofaktoren nicht hätte erfolgen können. Die Kammer schließe sich der Auffassung der Sachverständigen
an, wonach die Versicherte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für eine ambulante psychotherapeutische Behandlung
nicht stabil genug gewesen sei.
Entgegen der Auffassung des MDK sei trotz der hohen Anzahl von Tagesexpositionsversuchen von einer stationären Behandlung
auszugehen. Nach der Auffassung des MDK sei bei Abwesenheit der Versicherten über weite zeitliche Strecken aus den vollstationären
Behandlungsbezügen das Erfordernis der besonderen Mittel einer Krankenhausbehandlung nicht mehr anzunehmen. Dieser Schlussfolgerung
schließe sich die Kammer jedoch nicht an, da die Versicherte grundsätzlich werktags im Tagesverlauf eine therapeutische Behandlung
erhalten habe, zusätzlich in der klägerischen Klinik übernachtet habe und auch in den Morgenstunden bis zum Beginn der Therapien
bzw. bis zur Gewährung von Tagesexpositionsversuchen in der Klinik ärztlich und pflegerisch betreut worden sei. Damit habe
die Versicherte deutlich mehr an therapeutischer Betreuung und Behandlung erhalten als im Rahmen einer tagesklinischen Behandlung,
die im Allgemeinen werktags zwischen 9.00 und 17.00 stattfinde und samstags, sonn- und feiertags keine Leistungen zur Verfügung
stelle. Eine Durchsicht des Verlaufsberichts des Behandlungsteams habe auch ergeben, dass die Versicherte grundsätzlich werktags
erst nachmittags und damit nach Abschluss der angebotenen Therapien die Klinik verlassen habe und der Versicherten nur am
Wochenende bereits vormittags entsprechende Tagesexpositionsversuche gewährt worden seien. Dem Verlaufsbericht sei des Weiteren
zu entnehmen, dass die Versicherte über den gesamten Zeitraum fünf Übernachtungsexpositionsversuche für jeweils eine Nacht
unternommen habe. Damit sei die Versicherte jeden Tag unter medizinischer Beobachtung und Betreuung gewesen, sodass sich das
Betreuungsteam jeweils auch sofort nach Rückkehr der Versicherten in die Klinik vom gesundheitlichen Zustand der Versicherten
ein Bild machen und notwendige Behandlungs- oder Betreuungsschritte habe einleiten können. Dem Verlaufsbericht seien auch
entsprechende Eintragungen (spät) abends und morgens zu entnehmen. Sofern die Versicherte nur eine tagesklinische Behandlung
erfahren hätte, wäre sie grundsätzlich in den Abend-, Nacht- und Morgenstunden sowie samstags, sonn- und feiertags ohne ärztliche
und pflegerische Betreuung allein in ihrem häuslichen Umfeld gewesen.
Des Weiteren sei zu berücksichtigen, dass die Versicherte bis auf die fünf Übernachtungsexpositionsversuche die Nächte jeweils
auf der Station verbracht habe. Gerade dies sei für einen stationären Aufenthalt charakteristisch und führe mit den tagsüber
erfolgenden therapeutischen Maßnahmen dazu, dass der Patient seinen Lebensmittelpunkt in die Klinik verlagere. So werde insgesamt
ein Behandlungssetting erreicht, welches sich deutlich von dem einer teilstationären Behandlung unterscheide (Hinweis auf
Urteil des erkennenden Senats vom 17. Mai 2017 – L 1 KR 78/16 –, juris).
Für die Kammer sei es auch nachvollziehbar, dass es therapeutisch sinnvoll sei, die Versicherte regelmäßig mit der sozialen
Außenwelt zu konfrontieren, um die Behandlung an die jeweils auftretenden Probleme anzupassen. Die Vertreterin der Klägerin
habe in der mündlichen Verhandlung in Ergänzung zu dem schriftlichen Vortrag für die Kammer gut nachvollziehbar erläutern
können, dass die Tagesexpositionsversuche wichtig gewesen seien, um das Beziehungssystem der Versicherten zu beruhigen und
der Versicherten das Einüben von funktionalen Verhaltensweisen zu ermöglichen. Die Kammer sei insoweit zu der Auffassung gelangt,
dass hier trotz der regelmäßigen stundenweisen Tagesexpositionsversuche der Versicherten aus der unmittelbaren stationären
Betreuung insgesamt gesehen trotzdem mit den Mitteln der stationären Therapie gearbeitet worden sei, da deutlich mehr als
tagesklinische Leistungen erbracht worden seien.
Die Richtigkeit der von der Klägerin gestellten Rechnung für den stationären Aufenthalt sei zwischen den Beteiligten im Übrigen
unstreitig.
Der Zinsanspruch der Klägerin ergebe sich aus §
14 des Hamburger Vertrags nach §
112 SGB V.
Gegen dieses ihr am 22. Juli 2020 zugestellte Urteil richtet sich die am 19. August 2020 eingelegte Berufung der Beklagten.
Sie geht unter Bezugnahme auf ein weiteres, von ihr eingeholtes MDK-Gutachten vom 9. November 2020 (Gutachterin Reisig, die
sich auch in der mündlichen Verhandlung vor dem SG für die Beklagte geäußert hat) weiter von einer primären Fehlbelegung aus und rügt, dass die vom SG gehörte Sachverständige mit ihren sehr allgemein gehaltenen Ausführungen insbesondere nicht ausreichend darauf eingegangen
sei, warum eine teilstationäre Behandlung nicht ausgereicht hätte. Allein der Umstand, dass die Versicherte sich an 123 von
169 Behandlungstagen in Belastungserprobungen unterschiedlichen zeitlichen Umfangs befunden habe, zeige, dass diese trotz
der komplexen psychischen Erkrankung ausreichend wege- und absprachefähig gewesen sei. Es sei während des gesamten zweiten
Behandlungsintervalls nicht zum Auftreten suizidaler Krisen oder selbstverletzenden Verhaltens gekommen. Auch seien keine
nächtlichen Kriseninterventionen dokumentiert. Die Sachverständige begründe die Notwendigkeit der von ihr bestätigten vollstationären
Krankenhausbehandlung mit Symptomen wie Dissoziationen und Pseudohalluzinationen, die zum Aufnahmezeitpunkt nicht vorgelegen
hätten, sondern erst nach mehreren Wochen im Verlauf der therapeutischen Arbeit aufgetreten seien. Die bei der Aufnahme dokumentierte
Symptomatik habe kein Ausmaß erreicht, dass nur mit den Mitteln einer vollstationären psychiatrischen Krankenhausbehandlung
zu behandeln gewesen wäre. Das Vorhandensein chronischer Suizidgedanken sei ein Symptom der Borderline-Störung und stehe bei
vorhandener Absprachefähigkeit und Distanzierung von akuter Suizidalität, wie sie hier gegeben gewesen sei, einer teilstationären
Behandlung nicht entgegen. Zudem habe bei der überwiegend bei ihrem Freund lebenden Versicherten aus Sicht des Krankenhauses
der Klägerin von Beginn an eine ausreichende Stabilität bestanden, um bereits 2 Tage nach der Aufnahme mit mehrstündigen Tagesexpositionsversuchen
zu beginnen.
Schließlich verweist die Klägerin auf ein Urteil des erkennenden Senats vom 26. August 2020 – – (juris), dem ein vergleichbarer
Sachverhalt zugrunde gelegen habe und in dem sowohl die Notwendigkeit vollstationärer Behandlung als auch ein Anspruch auf
Vergütung als teilstationäre Behandlung unter dem Gesichtspunkt eines sogenannten fiktiven wirtschaftlichen Alternativverhaltens
verneint worden seien.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 13. Juli 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat ihre Klage auf gerichtlichen Hinweis teilweise hinsichtlich des ihr vom SG zugesprochenen Zinsanspruchs für den 17. August 2015 als Tag der Verrechnung zurückgenommen und beantragt im Übrigen schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung des SG für überzeugend. Die Beklagte beziehe sich letztlich in ihrer Argumentation ausschließlich auf die Stellungnahme des MDK.
Die darin aufgeführten Argumente seien sämtlich in der mündlichen Verhandlung vor dem SG bereits vorgetragen und bewertet worden. Letztlich setze der MDK lediglich seine Einschätzung an die Stelle der Bewertung
durch die neutrale, vom Gericht beauftragte Sachverständige. Ein wesentliches Argument sei – wie häufig in vergleichbaren
Fällen – die Anzahl der Tagesexpositionen. Insoweit habe das SG aber vollkommen zurecht bereits festgestellt, dass diese in aller Regel erst nach Abschluss des täglichen Therapieprogramms
erfolgt seien und die Versicherte sich anschließend über Nacht in der Klinik befunden habe. Ebenso habe das SG zu Recht darauf verwiesen, dass sich der Dokumentation auch entnehmen lasse, dass die Erfahrungen aus den Tagesexpositionen
im unmittelbaren Anschluss daran thematisiert worden seien.
Der Senat hat weiter Beweis erhoben durch Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der vom SG gehörten Sachverständigen L., die unter dem 19. März 2021 an ihrer Einschätzung festgehalten hat.
Der relativ zeitnahe Aufnahmezeitpunkt zur zweiten Intervallbehandlung gehe damit einher, dass im Rahmen der 6-monatigen stationären
Erstbehandlung schwere strukturelle Defizite der Versicherten erkennbar gewesen seien und noch keine ausreichende Stabilität
für die Einleitung einer ambulanten psychotherapeutischen Behandlung vorhanden gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt habe die Versicherte
noch keine Handlungsstrategien im Hinblick auf wahrnehmbare Defizite entwickeln können, da eine Restrukturierung der psychischen
Kompetenzen noch nicht begonnen habe bzw. erst am Anfang gestanden habe. Die Schilderung der Symptomatik der Versicherten
zum Aufnahmezeitpunkt entspreche einem, wenn auch für die Versicherte belastenden, gewünschten Entwicklungszustand, dass nämlich
das Abwehrverhalten nicht mehr funktioniere und die Versicherte unter dem Schutz der Behandlung einen Zugang zu der für sie
belastenden Emotionalität finde. Somit komme hier ein typischer Entwicklungsprozess in Anbetracht der Schwere der seelischen
Störung zur Darstellung. Hieraus ergebe sich eindeutig, dass die Mittel einer Krankenhausbehandlung im vollstationären Setting
notwendig gewesen seien, da dieser Zustand weder im Rahmen einer tagesklinischen Behandlung noch im Rahmen einer ambulanten
psychotherapeutischen Behandlung angemessen beeinflussbar gewesen wäre.
Die Häufigkeit der Tagesbeurlaubungen spreche nicht gegen eine akute Behandlungsnotwendigkeit im stationären Rahmen. Etwa
ein Drittel habe zur Erledigung wichtiger Termine zur Sicherung der nachstationären Betreuung gedient (Treffen mit der P.-Betreuerin,
Wohnungsbesichtigungstermine, Vorstellung beim Jobcenter). Anders als bei Patienten mit Drogenkonsum oder schwerwiegenden
selbstverletzenden Verhaltensweisen könne die Möglichkeit einer „Therapie an der langen Leine“ bei Patienten mit hochgradigen
Bindungsängsten vor dem Hintergrund einer beziehungstraumatischen frühen Bindungserfahrung erfolgversprechender sein, da dieses
Vorgehen die massiven Ängste der Patienten mindere und ihnen eine allmähliche Annäherung an den therapeutischen Prozess ermögliche.
Das Ziel sei darin zu sehen, den Patienten bei einem derartigen Vorgehen im Rahmen der stationären Behandlung das Gefühl der
jederzeit erreichbaren Sicherheit zu vermitteln. So habe die schwere seelische Störung der Versicherten dahingehend beeinflusst
werden können, den in Gang gekommenen Heilungsprozess und die notwendige Nachreifung der Persönlichkeitsstruktur einzuleiten
und zu begleiten. Jede weniger intensive Behandlungsmaßnahme wäre aus der Ex-ante-Sicht der Behandelnden mit einem wesentlich
höheren Risiko belegt gewesen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den weiteren Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten
und der von der Klägerin vorgelegten Krankenunterlagen Bezug genommen.
Das im Wesentlichen nur wiederholende Vorbringen der Beklagten im Berufungsverfahren gibt keinen Anlass zu einer abweichenden
rechtlichen Bewertung. Das SG hat sich in seiner angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage des von ihm eingeholten schlüssigen und überzeugenden Sachverständigengutachtens
mit dem Vorbringen der Beklagten und des MDK bereits erschöpfend auseinandergesetzt. Die vom erkennenden Senat mit einer ergänzenden
Stellungnahme beauftragte Sachverständige L. bestätigt ihre bereits erstinstanzlich gemachten Ausführungen. Die Beklagte sieht
sich zu Unrecht durch das Urteil des erkennenden Senats vom 26. August 2020 – – in ihrer Auffassung bestätigt. Der dortige
Sachverhalt ist schon deshalb mit dem vorliegenden nicht vergleichbar, weil die dort behandelte Versicherte nicht an einer
Borderline-Störung litt, die aber unter Einbeziehung der Komorbiditäten der wesentliche Grund für die vorliegende vollstationäre
BPP war, die einem besonderen, jedoch durch und durch schlüssigen Ansatz folgt, wie der erkennende Senat bereits mehrfach
entschieden hat (s. nur Urteile vom 22. Mai 2014 – L 1 KR 15/13 –, juris, vom 17. Mai 2017 – L1 KR 78/16 –, KHE 2017/45, sowie vom 28. Mai 2020 – –, juris).