Voraussetzungen der zulässigen Annahme einer fiktiven Klagerücknahme
Tatbestand
Streitig ist die Beendigung des Verfahrens durch eine Klagerücknahmefiktion.
Am 3. September 2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten Arbeitslosengeld.
Mit Bescheid vom 26. September 2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Der Kläger sei in den letzten zwei Jahren vor dem 3.
September 2019 weniger als zwölf Monate versicherungspflichtig gewesen und habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt.
Mit seinem am 2. Oktober 2019 eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, es liege Nahtlosigkeit vor. In den Jahren
2017 und 2018 habe er eine berufliche und medizinische Reha durchgeführt.
Die Beklagte teilte dem Kläger mit, es seien dort folgende Zeiten des Übergangsgeldbezugs dokumentiert: 1. Januar 2018 bis
18. Februar 2018, 24. Februar 2018 bis 25. Februar 2018, 27. Februar 2018 bis 5. März 2018 sowie 27. September 2018 bis 25.
Oktober 2018. Nach Auskunft der Deutschen Rentenversicherung gehörten die Übergangsgeldzeiten im Februar und März 2018 nicht
zu einer medizinischen Reha.
Der Kläger wandte sich telefonisch an die Beklagte und bat um Rückruf für ein persönliches Gespräch.
Mit Schreiben vom 18. November 2019 teilte die Beklagte mit, es seien noch Feststellungen zur Sach- und Rechtslage zu treffen.
Der Kläger möge darstellen, welche Entgelte bzw. Entgeltersatzleistungen er im Jahr 2016 nach dem Ende des Bezugs von Arbeitslosengeld
am 21. April 2016 erhalten habe.
Der Kläger bat erneut um eine telefonische Gesprächsmöglichkeit. Die Beklagte nahm daraufhin einen Rückruf vor und erklärte
dem Kläger, welche Unterlagen für die weitere Prüfung des Widerspruchs benötigt würden.
Der Kläger übersandte daraufhin Unterlagen der Krankenkasse über den Bezug von Krankengeld am 24. April 2016 sowie Verletztengeld
in der Zeit vom 25. April 2016 bis 17. August 2016 und Übergangsgeld vom 8. August 2016 bis 31. Dezember 2016.
Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2019 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Kläger habe keinen
Anspruch auf Arbeitslosengeld. Er habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt.
Am 11. Dezember 2019 meldete sich der Kläger telefonisch bei der Beklagten. Er bat dringend um einen Rückruf bezüglich der
Entscheidung mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2019.
Am 9. Januar 2020 hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht Hamburg erhoben. Nach telefonischer Auskunft der Beklagten sei
sein Widerspruch abgewiesen worden. Den Widerspruchsbescheid habe er bis heute nicht per Post erhalten. Er bitte um Mitteilung,
ab welchem Tag die Frist für die Geltendmachung weiterer rechtlicher Schritte laufe. Fristwahrend erhebe er vorsorglich Klage.
Nach Einsicht der fehlenden Dokumente und Unterlagen werde er seine Begründung nachreichen. Wegen gesundheitlicher Behandlungen
sei er bis Ende Februar 2020 nicht zu Hause.
Das Sozialgericht hat den Kläger darauf hingewiesen, dass eine Klage erst nach Erlass des Widerspruchsbescheides zulässig
sei. Eine Untätigkeitsklage sei drei Monate nach Erhebung des Widerspruches zulässig.
Die Beklagte hat dem Kläger am 29. Januar 2020 eine Zweitschrift des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2019 zugeschickt.
Sie hat vorgetragen, dass die Klage unzulässig sei, da der Kläger angegeben habe, den Widerspruchsbescheid noch nicht erhalten
zu haben. Eine Klage sei nur zulässig, wenn sie binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides erhoben werde.
Das Sozialgericht hat den Kläger mit Schreiben vom 11. Februar 2020 zur Stellungnahme hierzu aufgefordert und daran mit gerichtlichen
Schreiben vom 11. März 2020 und 20. Mai 2020 erinnert.
Mit Schreiben vom 23. Juni 2020 hat das Sozialgericht sodann eine Betreibensaufforderung gemäß §
102 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) gegenüber dem Kläger erlassen, die diesem am 25. Juni 2020 zugestellt worden ist. Der Kläger habe die Schreiben des Gerichts
vom 11. Februar 2020, 11. März 2020 und 20. Mai 2020 nicht fristgemäß beantwortet. Angesichts dessen habe das Gericht erhebliche
Zweifel daran, ob dem Kläger noch an einer Entscheidung in der Sache gelegen sei.
Mit Schreiben vom 7. Oktober 2020 hat das Sozialgericht den Beteiligten mitgeteilt, dass die Klage als zurückgenommen gelte.
Der Kläger hat mit Schreiben vom 15. Oktober 2020 erklärt, dass er seine Klage nicht zurückgenommen habe. Das Verfahren sei
für ihn nicht beendet. Er habe sehr wohl reagiert, zuletzt telefonisch um einen weiteren Aufschub gebeten, da er aus gesundheitlichen
Gründen und wegen Corona nicht in der Lage gewesen sei, und er habe auch um Akteneinsicht gebeten. Er bitte um Weiterführung
des nicht beendeten Verfahrens und um Akteneinsicht sowie weitere angemessene Fristverlängerung. Wenn er wieder in der Lage
sei und Akteneinsicht gehabt habe, werde er seine bis dahin fehlende Klagebegründung nachreichen.
Mit Schreiben vom 11. November 2020 hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass die Klage als zurückgenommen gelte, weil
der Kläger der Aufforderung des Gerichts vom 23. Juni 2020, das Verfahren zu betreiben, nicht innerhalb von drei Monaten nachgekommen
sei. Weder der behauptete Fristverlängerungsantrag noch das Akteneinsichtsgesuch seien zur Prozessakte gelangt. Sollte der
Kläger auf einer Fortsetzung des Verfahrens bestehen, sei beabsichtigt, die Wirksamkeit der Klagerücknahme durch Gerichtsbescheid
festzustellen.
Hierauf hat der Kläger erklärt, er habe seine Klage nicht zurückgenommen. Er sei erkrankt, und wegen Corona sei es ihm nicht
möglich gewesen, in dieser Angelegenheit weiter tätig zu sein.
Mit Gerichtsbescheid vom 23. Dezember 2020 hat das Sozialgericht festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gelte. Der
Kläger habe auf die Betreibensaufforderung nicht innerhalb von drei Monaten reagiert. Weder der behauptete Fristverlängerungsantrag
noch das Akteneinsichtsgesuch seien zur Prozessakte gelangt.
Der Kläger hat gegen den ihm am 29. Dezember 2020 zugestellten Gerichtsbescheid am 29. Januar 2021 Berufung eingelegt. Er
sei bis heute nicht angehört worden. Er habe aus dringenden Gründen seine Klage nicht begründen bzw. weiterverfolgen können.
Die Klage habe er nicht zurückgenommen. Er habe zuletzt telefonisch um weiteren Aufschub gebeten, da er aus gesundheitlichen
Gründen und wegen Corona nicht in der Lage gewesen sei und auch weiterhin nicht sei. Akteneinsicht habe er noch nicht bekommen.
Er habe wiederholt telefonisch versucht, in der Sache etwas zu klären, habe versucht, mit dem Vorsitzenden zu sprechen, leider
sei ihm das verweigert worden. Er bitte um Weiterführung des nicht von ihm beendeten Verfahrens. Sobald er wieder in der Lage
sei und Akteneinsicht gehabt habe, werde er seine fehlende Klagebegründung nachreichen.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 23. Dezember 2020 aufzuheben und festzustellen, dass der Rechtsstreit
nicht durch Klagerücknahme erledigt ist.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge
(e-Akte) der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte (§§
143,
144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§
151 SGG) Berufung ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gelte. Die Voraussetzungen
einer Klagerücknahmefiktion gemäß §
102 Abs.
2 SGG lagen nicht vor.
Gemäß §
102 Abs.
2 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht
betreibt. §
102 Abs.
1 SGG gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit §
155 Abs.
2 der
Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Nach §
102 Abs.
1 S. 2
SGG erledigt die Klagerücknahme den Rechtsstreit in der Hauptsache.
Die Vorschrift des §
102 Abs.
2 SGG ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R, juris; Urteil vom 4. April 2017 – B 4 AS 2/16 R, juris). Bei der fiktiven Klagerücknahme handelt es sich um eine gesetzliche Regelung für Fälle, in denen das Rechtsschutzinteresse
an einem Verfahren entfallen ist. Sie wurde für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer
Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend
substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die prozessrechtlich verankerte Klagerücknahmefiktion
steht mit Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz (
GG) in Einklang. Jede Anwendung der Klagerücknahmefiktion setzt jedoch voraus, dass konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den
sicheren Schluss zulassen, dass einem Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (BSG, Urteil vom 4. April 2017, a.a.O.). Bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, müssen
„sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses" vorliegen (Bundesverfassungsgericht (BVerfG),
Beschluss vom 19. Mai 1993 – 2 BvR 1972/92, NVwZ 1994, 62; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vom 5. Juli 2000 – 8 B 119/00, NVwZ 2000, 1297; vgl. auch BT-Drucks 16/7716, S 19).
Der Senat geht hinsichtlich der an die „sachlichen Anhaltspunkte" für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses zu stellenden
Anforderungen davon aus, dass ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses erst nach einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls
angenommen werden darf. Bei der Gesamtwürdigung sind sowohl die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung als
auch das Verhalten des Klägers zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 4. April 2017, a.a.O.).
Aufgrund der Gesamtumstände war es hier nicht berechtigt anzunehmen, dass der Kläger das Interesse an dem Rechtsstreit verloren
hat. Die Mitwirkungsobliegenheit, der der Kläger nicht nachgekommen ist, genügt für eine Betreibensaufforderung nicht.
Eine Aufforderung des Sozialgerichts an einen Beteiligten, Mitwirkungshandlungen im sozialgerichtlichen Verfahren vorzunehmen,
ist rechtlich möglich und zulässig. Es gehört zu den Aufgaben des Gerichts, den Rechtsstreit bis zur Entscheidungsreife zu
fördern, dabei unklare Anträge auszuräumen, auf die Stellung sachlicher Anträge hinzuwirken und die wesentlichen Einwendungen
des Klägers zu klären. Bei der Klärung des Gegenstands der Klage und der wesentlichen Einwendungen ist der Kläger nicht von
Mitwirkungsobliegenheiten freigestellt. Prozessuale Mitwirkungsobliegenheiten können auch erst durch eine gerichtliche Anfrage
entstehen.
Allerdings genügt für eine Betreibensaufforderung nicht jegliche Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit. Vielmehr ist nur
das Unterlassen solcher prozessualer Handlungen oder Äußerungen beachtlich, die z.B. für die Feststellung von Tatsachen bedeutsam
sind, die das Gericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung es für notwendig hält (BSG, Urteil vom 4. April 2017, a.a.O., sowie Urteil vom 1. Juli 2010. a.a.O.).
Diesen Grundsätzen entspricht die Aufforderung des Sozialgerichts nicht.
Nachdem die Beklagte dem Kläger am 29. Januar 2020 eine Zweitschrift des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2019 zugeschickt
und vorgetragen hatte, dass die Klage unzulässig sei, da der Kläger angegeben habe, den Widerspruchsbescheid noch nicht erhalten
zu haben, hat das Sozialgericht den Kläger mit Schreiben vom 11. Februar 2020 zur Stellungnahme hierzu aufgefordert. Da sich
der Kläger nicht schriftlich geäußert hat, hat das Sozialgericht an die erbetene Stellungnahme mit gerichtlichen Schreiben
vom 11. März 2020 und 20. Mai 2020 erinnert. Im Anschluss daran hat das Sozialgericht mit Schreiben vom 23. Juni 2020 eine
Betreibensaufforderung erlassen.
Das bloße Abfordern einer Stellungnahme zum Schriftsatz der Beklagten und das Nichtäußern des Klägers hierauf genügen nicht,
um berechtigt anzunehmen, dass der Kläger das Interesse an dem Rechtsstreit verloren habe. Die Aufforderung des Sozialgerichts
war nicht auf konkrete Äußerungen oder Angaben zu entscheidungserheblichen Tatsachen gerichtet, es wurden keine Fragen gestellt,
die es zu beantworten galt, es wurden keine Unterlagen erbeten oder vergleichbare Mitwirkungshandlungen vom Kläger gefordert.
Bei dieser Sachlage haben keine sachlich begründeten Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestanden.
Das Sozialgericht hat sonach zu Unrecht angenommen, dass die Fiktion der Klagerücknahme eingetreten sei. Mangels Erfüllung
der Voraussetzungen einer fiktiven Klagerücknahme ist der Rechtsstreit in erster Instanz damit nicht gemäß §
102 Abs.
2 SGG beendet worden und vor dem Sozialgericht fortzusetzen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts im Ausgangsverfahren vorbehalten, weil der Fortsetzungsstreit
ein Zwischenstreit ist (vgl. Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20. November 2020 – L
21 R 322/20, juris, m.w.N.).
Gründe für eine Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 SGG sind nicht gegeben.