Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin des verstorbenen S. die Feststellung eines früheren
Rentenbeginns aufgrund der anerkannten Berufskrankheit (BK) nach Ziffer 4105 der Anlage 1 zur
Berufskrankheitenverordnung beanspruchen kann.
Die Klägerin ist die Ehefrau des am xxxxx 2016 verstorbenen S. (Versicherter). Der am xxxxx 1938 geborene Versicherte war
während seiner Berufstätigkeit (1960 - 1996) als Maschinenschlosser bei den H. AG von 1960 bis 1987 asbestfaserhaltigen Stäuben
ausgesetzt gewesen. Am 17. Mai 2011 stellte der Radiologe Dr. G. nach einer Coputertomographie des Thorax beim Versicherten
eine geringgradige Asbestose mit nur vereinzelten pleuralen Plaques fest, ohne Nachweis einer asbestassoziierten Lungenfibrose,
unauffälligem Bronchialsystem und bei geringen unspezifischen narbigen Veränderungen der Lungenspitze. Am 10. September 2015
wurde der Versicherte in der Lungenpraxis Professor H1 wegen eines echokardiographisch aufgefallenen persistierenden Pleuraerguss
rechts untersucht. Prof. Dr. H1 kam danach zu dem Ergebnis, dass ein rechtsseitiger Pleuraerguss mit geschätzt wenigen 100
ml Flüssigkeit und nur teilweiser Kammerung vorliege. Die Pleurapunktat-Untersuchung zeige ein eindeutiges Exsudat mit gemischtzelliger,
jedoch nicht eitriger Entzündung. Die Ätiologie bleibe unklar, ein malignes Geschehen sei aufgrund der langzeitigen Persistenz
des Ergusses ohne wesentlichen Progress sehr unwahrscheinlich. Während der stationären Behandlung vom 19. - 29. Februar 2016
im A. Krankenhaus H2 wurde bei dem Versicherten ein histologisch gesichertes Pleuramesotheliom links (Mesotheliom A) festgestellt.
Die Beklagte erkannte mit Schreiben vom 21./22. April 2016 an die behandelnden Ärzte des Versicherten das Pleuramesotheliom
als BK nach der Ziffer 4105 der Anlage 1 zur
Berufskrankheitenverordnung ("Durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells, des Bauchfells oder des Pericards") an. Mit Bescheid vom 23. Juni
2016 stellte die Beklagte gegenüber der Klägerin fest, dass der Versicherungsfall am 15. Februar 2016, dem Tag der Behandlungsbedürftigkeit,
eingetreten sei. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage vom 16. Februar bis 27. Mai 2016 100 %. Die Klägerin legte gegen
diesen Bescheid am 26. Juli 2016 Widerspruch ein, da ihrer Ansicht nach die Erkrankung des Versicherten geraume Zeit früher
eingetreten sein müsse. In seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 27. Oktober 2010 führte der Arzt für Innere Medizin,
Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. S1 aus, dass sich der Versicherte erstmals im Februar 2016 mit Belastungsluftnot und thorakalen
Schmerzen im Klinikum H3 vorgestellt habe. Bei der am 22. Februar 2016 durchgeführten Thorakotomie sei das maligne diffuse
Pleuramesotheliom entdeckt worden. Es sei gerechtfertigt, den Tag der Erstvorstellung als Stichtag des Leistungsfalles anzunehmen.
Röntgenbefunde, die eine Vordatierung erlaubten, lägen ebensowenig vor wie Angaben, ob der Versicherte wegen dieser Beschwerden
vorher seinen Hausarzt konsultiert habe. Der Leistungsfall könne deshalb nicht vorverlegt werden. Die Beklagte wies daraufhin
den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 2017 zurück, wobei sie sich auf den Bericht des Beratungsarztes stützte.
Der Widerspruch wurde den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 6. Juni 2017 zugestellt.
Die Klägerin hat am 6. Juli 2017 Klage vor dem Sozialgericht Hamburg erhoben. Das Pleuramesotheliom des Versicherten sei längst
vorhanden gewesen, als es im Krankenhaus diagnostiziert worden sei. Die der Klägerin gewährte Verletztenrente basiere auf
einem Zufallsdatum.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat auf die Stellungnahme ihres Beratungsarztes verwiesen. Es entspreche der
Verwaltungspraxis, in derartigen Fällen den Tag der Erstvorstellung im Krankenhaus als Stichtag des Versicherungsfalles anzusehen.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines internistisch-arbeitsmedizinischen Gutachtens des Arztes für Innere
Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. S2 vom 9. Dezember 2018. Dieser hat ausgeführt, dass sich auf früheren Untersuchungen,
insbesondere den Computertomogramm-(CT-) Aufnahmen 2011 und 2015 keine Veränderungen gefunden hätten, die dem später diagnostizierten
Pleuramesostheliom zugeordnet werden könnten. In dem CT vom 17. Mai 2011 würden wenige plateauartige Pleuraplaques rechts
ventral und links dorsal mit Verkalkungsanteil nachgewiesen, dies sei pathognomisch für eine Asbestverursachung. Pleuraergüsse
bzw. tumorverdächtige Strukturen seien nicht beschrieben. Bei der CT-Untersuchung am 9. September 2015 seien wiederum beidseitige
Pleurakuppenschwielen beschrieben worden, sowie, neu aufgetreten, ein rechtsseitiger Pleuraerguss. Der Erguss sei zweimal
punktiert worden. Tumorzellen seien dabei nicht nachgewiesen worden. Die Ätiologie bleibe unklar. Zusammenfassend bleibe festzuhalten,
dass erstmals im Februar 2016 ein Befund dargestellt worden sei, der histophathologisch dem Pleuramesotheliom habe zugeordnet
werden können.
In seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 27. Juli 2019 hat Dr. S2 erklärt, dass das Pleuramesotheliom eine
sehr lange Latenzzeit habe. Dies bedeute jedoch nicht, dass der Tumor in dieser Zeit langsam immer größer werde. Typisch für
das Pleuramesotheliom sei die plötzlich einsetzende sehr schnelle Zellreproduktionsrate. Eine Kern- bzw. Tumorverdopplungszeit
von 10-20 Tagen sei ausreichend, um aus einem nicht erkennbaren und somit klinisch nicht detektierbaren Tumor ein lebensbedrohliches,
großes Karzinom werden zu lassen.
Mit Urteil vom 16. Juli 2020 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zu Recht habe die Beklagte als Zeitpunkt des Versicherungsfalls
den 15. Februar 2016 angenommen, da zu diesem Zeitpunkt erstmalig bei dem Versicherten eine Pleuramesotheliom im Sinne der
genannten Berufskrankheit medizinisch festgestellt worden sei und damit im Vollbeweis vorgelegen habe. Sowohl der im Verwaltungsverfahren
gehörte Dr. S1 als auch der im gerichtlichen Verfahren beauftragte Sachverständige Dr. S2 hätten einen früheren Zeitpunkt
des Versicherungsfalls nicht feststellen können. Röntgenbefunde, welche eine Vordatierung des Stichtages des Versicherungs-
bzw. Leistungsfalls erlaubten, hätten ebensowenig vorgelegen wie Angaben darüber, dass der Versicherte aufgrund von Beschwerden
einen Arzt konsultiert habe. Überzeugend habe insbesondere auch Dr. S2 in seinem internistisch-arbeitsmedizinischen Gutachten
vom 9. Dezember 2018 ausgeführt, dass sich aus früheren Untersuchungen, insbesondere hinsichtlich der CT-Aufnahmen in den
Jahren zwischen 2011 und 2015 keine entsprechenden Veränderungen gefunden hätten, die einem Pleuramesotheliom hätten zugeordnet
werden können. Der Sachverständige habe eingängig beschrieben, dass das Pleuramesotheliom in einer gewissen Zeit nicht immer
größer werde, sondern dass typisch für die Entstehung des Mesothelioms die plötzlich sehr schnell einsetzende Zellreproduktionsrate
sei und eine Kern- bzw. Tumorverdopplungszeit von 10-20 Tagen ausreichend sein könne, um ein großes Karzinom entstehen zu
lassen, so dass der Versicherungsfall nicht vorverlagert werden könne.
Gegen dieses, ihrem Prozessbevollmächtigten am 22. Juli 2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. August 2020 Berufung
eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. S2 ein Pleuramesotheliom eine
sehr lange Latenzzeit von in der Regel mehr als 30 Jahren habe. Das im Streitfall per Zufallsdatum datierte Pleuramesotheliom
müsse lange vorher vorhanden gewesen sein (Beweis: Sachverständige Rückrechnung durch einen Asbestphysiker).
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Juli 2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Juni 2016 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 29. Mai 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Verletztenrente des verstorbenen S.
zu einem früheren Zeitpunkt als dem 16. Februar 2016 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf die ihrer Ansicht nach zutreffenden Gründe des erstinstanzlichen Urteils. Ein Pleuramesotheliom habe vor
dem 15. Februar 2016 nicht festgestellt werden können.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung über die Berufung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§
153 Abs.
1,
124 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG )). Außer der Gerichtsakte haben die den Versicherten betreffenden Verwaltungsakten vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten ergänzend
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung (§§ 143, 151 SSG) ist nicht begründet. Das Sozialgericht
hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf
Zahlung einer Verletztenrente für den verstorbenen S. zu einem früheren Zeitpunkt als dem 16. Februar 2016. Die Beklagten
ist mit dem angefochtenen Bescheid vom 23. Juni 2016 zu Recht von diesem Datum als Zeitpunkt des Versicherungsfalls ausgegangen.
Berufskrankheiten sind gem. §
7 Abs.
1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) Versicherungsfälle. Das gilt auch für den Fall, dass - wie hier - der Versicherte verstorben ist; denn sein Tod ist eine
Folge des Versicherungsfalles (vgl. Bereiter-Hahn/Mertens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand: März 2017, §
7 SGB VII, Rn. 5). Der Eintritt des Versicherungsfalls setzt voraus, dass, neben den zusätzlichen Merkmalen aus dem einschlägigen Berufskrankheitentatbestand,
der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Krankheit (= Erstschaden) vorliegt (haftungsbegründender
Ursachenzusammenhang), vgl. §
9 Abs.
1 S.1.
SGB VII. Soweit in dem anzuwenden Berufskrankheitentatbestand ein bestimmtes Krankheitsbild genannt ist, setzt der Eintritt des Versicherungsfalles
mindestens voraus, dass der individuelle Gesundheitsschaden dem dort beschriebenen Krankheitsbild entspricht (vgl. Brandenburg
in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGB VII, 2. Aufl., §
9 SGB VII, Stand: 12/2017, Rn. 81).
Dieser Zustand war im Streitfall mit der notwendigen Sicherheit erst im Februar 2016 gegeben. Der Sachverständige Dr. S2 hat
in seinem überzeugenden Gutachten vom 9. Dezember 2018 dargelegt, dass ein früherer Zeitpunkt der Diagnose eines Pleuramesothelioms
als Februar 2016 nicht zu belegen sei. Er hat dies insbesondere damit begründet, dass selbst die kurze Zeit vorher (September
2015) durchgeführte technisch gleiche CT-Untersuchung keine Veränderungen gezeigt habe, die dem Pleuramesotheliom zugeordnet
werden könnten. Es handele sich um einen äußerst aggressiven, schnell wachsenden Tumor. Der Sachverständige ist auch auf das
Ergebnis der CT- Untersuchung vom 17. Mai 2011 des Kernspinzentrums H2-Süd eingegangen. Dem in den Verwaltungsakten enthaltenen
Emailverkehr der Familie des Versicherten mit der Beklagten ist zu entnehmen, dass insbesondere dessen Bericht die Klägerin
hat zweifeln lassen, ob bei dem Versicherten die Krankheit nicht doch bereits früher aufgetreten sein müsste. Es seien dort
aber gerade keine Pleuraergüsse oder tumorverdächtigen Strukturen nachgewiesen worden. Selbst bei der im September 2015 durchgeführten
CT-Untersuchung sei zwar rechts ein neu aufgetretener Pleuraerguss festgestellt worden. Bei der zweimaligen Punktion hätten
sich aber keine Tumorzellen nachweisen lassen.
Der Sachverständige hat dies in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27. Juli 2019 noch einmal bekräftigt. Erstmals bei der
CT- Untersuchung am 17. Februar 2016 habe ein linksseitiger, transdiaphragmaler Senkungsabszess nachgewiesen werden können,
der durch ein Pleuramesotheliom verursacht worden sei. Das Pleuramesotheliom habe eine sehr lange Latenzzeit von bis zu 50
Jahren. In dieser Zeit werde der Tumor nicht etwa langsam immer größer, typisch für ihn sei vielmehr eine plötzlich einsetzende
sehr schnelle Zellreproduktionsrate. Eine Kern- bzw. Tumorverdoppelungszeit von 10 bis 20 Tagen sei ausreichend, um aus einem
nicht erkennbaren und somit klinisch nicht detektierbaren Tumor ein lebensbedrohliches, großes Karzinom werden zu lassen.
Zusammenfassend lasse sich ein früherer Nachweis des Pleuramesothelioms als Februar 2016 nicht verifizieren. Der Senat schließt
sich dieser schlüssigen und gut nachvollziehbaren Bewertung des Sachverständigen an. Da der Zeitpunkt des individuellen Gesundheitsschadens
mit dem in der BK beschriebenen Krankheitsbild festgestellt werden muss, führt auch eine von der Klägerin angeregte Rückrechnung
durch einen Asbestphysiker nicht weiter, da eine derartige Berechnung den Zeitpunkt der tatsächlich aufgetretenen Krankheitsanzeichen
nicht bestimmen könnte. Derartige Rückrechnungen dienen der Feststellung der aufgenommenen Asbestfaserdosis (Dosis in "Faserjahren"
= Faserkonzentration x Einwirkungsdauer) zur Bestimmung des Risikos einer Lungenkrebserkrankung. Die Faserjahrberechnung ist
allerdings nur für die Anerkennung eines Lungentumors nach BK 4104 von Bedeutung, da der Nachweis einer kumulativen Asbestfaserstaubdosis
am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren (25 × 106 [Fasern/m3) × Jahre] seit 1992 als ein Beweis für den Ursachenzusammenhang
angesehen wird (vgl. Püschel, Berufserkrankungen im Zusammenhang mit Asbest — Entwicklungen aus H2 und Umgebung, ASU 2016,
Heft 9). Da ein früherer Zeitpunkt des bei der BK 4105 erforderlichen Krankheitsbildes vor dem 15. Februar 2016 nicht mit
der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden kann, kann die Berufung keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt aus dem Unterliegen der Klägerin.
Gründe, die Berufung nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 oder 2
SGG zuzulassen, liegen nicht vor.