Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob und von welchem Zeitpunkt an die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin des verstorbenen L.S.
aufgrund der Folgen der anerkannten Berufskrankheit (BK) nach der Ziffer 4103 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung ("Asbeststaublungenerkrankung oder durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura") Anspruch auf Gewährung einer Rente
mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 20 v.H. hat.
Die Klägerin ist die Ehefrau des am 27. Mai 2016 verstorbenen L.S. (Versicherter). Der am xxxxx 1938 geborene Versicherte
war während seiner Berufstätigkeit (1960 - 1996) als Maschinenschlosser bei den H. AG von 1960 bis 1987 asbestfaserhaltigen
Stäuben ausgesetzt gewesen. Am 17. Mai 2011 stellte der Radiologe Dr. G. nach einer Computertomographie des Thorax beim Versicherten
eine geringgradige Asbestose mit nur vereinzelten pleuralen Plaques fest, ohne Nachweis einer asbestassoziierten Lungenfibrose,
unauffälligem Bronchialsystem und bei geringen unspezifischen narbigen Veränderungen der Lungenspitze. Am 10. September 2015
wurde der Versicherte in der Lungenpraxis Professor H1 wegen eines echokardiographisch aufgefallenen persistierenden Pleuraergusses
rechts untersucht. Prof. Dr. H1 kam danach zu dem Ergebnis, dass ein rechtsseitiger Pleuraerguss mit geschätzt wenigen 100
ml Flüssigkeit und nur teilweiser Kammerung vorliege. Die Pleurapunktat-Untersuchung zeige ein eindeutiges Exsudat mit gemischtzelliger,
jedoch nicht eitriger Entzündung. Die Ätiologie bleibe unklar, ein malignes Geschehen sei aufgrund der langzeitigen Persistenz
des Ergusses ohne wesentlichen Progress sehr unwahrscheinlich.
Während der stationären Behandlung vom 19. - 29. Februar 2016 im A. Krankenhaus H2 wurde bei dem Versicherten ein histologisch
gesichertes Pleuramesotheliom links (Mesotheliom A), ein unklarer Vorhalt dorsal der Milz sowie ein chronischer Pleuraerguss
rechts festgestellt. Die Beklagte erkannte mit Schreiben vom 21./22. April 2016 an die behandelnden Ärzte des Versicherten
das Pleuramesotheliom als BK nach der Ziffer 4105 der Anlage 1 zur
Berufskrankheitenverordnung ("Durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells, des Bauchfells oder des Pericards") an.
In seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 27. Oktober 2016 führte der Arzt für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde
Dr. S1 aus, dass sich Asbeststaubinhalationsfolgen zum ersten Mal im Rahmen der CT-Untersuchung am 17. Mai 2011 dokumentieren
ließen. Unter Berücksichtigung des Ausmaßes der pleuralen Veränderungen sei davon auszugehen, dass diese nur computertomgraphisch
sichtbar gewesen seien. Im dem G 1.2 Bogen aus dem Jahre 2011 seien keine Ergebnisse von Lungenfunktionsuntersuchungen festgehalten.
Erst in dem G 1.2 Bogen vom 14. November 2014 werde von restriktiven Ventilationsstörung ausgegangen. Unter Berücksichtigung
der Sollwerte nach EGKS (Referenzwerte der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl) und der Sollwerte nach der "Global
Lung Function Initiative 2012" sei nicht von einer Einschränkung auszugehen gewesen. Somit sei das Vorliegen einer restriktiven
bzw. obstruktiven Ventilationsstörung nicht festzustellen gewesen.
Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 10. November 2016 bei dem Versicherten eine BK nach der Ziffer 4103 der Anlage 1 zur
Berufskrankheitenverordnung an und datierte den Tag des Versicherungsfalles auf den 17. Mai 2011. Im Rahmen der durchgeführten Lungenfunktionsprüfungen
in den Jahren 2011 bis 2014 habe sich eine restriktive bzw. obstruktive Ventilationsstörung noch nicht feststellen lassen,
so dass ein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund der Asbestose nicht bestanden habe.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, woraufhin die Beklagte eine fachärztliche Stellungnahme des Pneumologen Dr.
D. einholte. In seiner fachärztlichen Stellungnahme vom 25. April 2017 führte Dr. D. aus, dass 2011 offensichtlich keine suffiziente
Lungenfunktionsprüfung habe durchgeführt werden können. 2014 habe die Vitalkapazität bei einem Bestwert von 3,29 l (84,5%)
betragen. Zu diesem Zeitpunkt sei eine signifikante Restriktion nicht feststellbar. Im September 2015 habe die Vitalkapazität
bei dem Versicherten eine leicht abfallende Tendenz gezeigt (Vitalkapazität bei 77%). Im Februar 2016 sei das Pleuramesotheliom
festgestellt worden, das die entsprechenden Funktionsstörungen verursacht habe. Am 12. April 2016 habe eine ausgeprägte Restriktion
mit einem Vitalkapazitätswert von 2,18 l (= 56%) bestanden. Bis zur Feststellung des Pleuramesothelioms am 15. Februar 2016
habe auch keine Stütz-MdE bestanden, erst danach sei eine solche Stütz-MdE anzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt habe jedoch bereits
eine Gesamt-MdE von 100% bestanden. Die Beklagte erließ am 29. Mai 2017 den Widerspruchsbescheid und führte aus, dass zum
Zeitpunkt der CT-Untersuchung am 17. Mai 2011 eine Einschränkung der Lungenfunktion in Form einer Einengung der Dehnungsfähigkeit
der Lunge (Restriktion) nicht vorgelegen habe. Eine MdE in rentenberechtigendem Grade könne deshalb nicht festgestellt werden.
Die Klägerin hat am 6. Juli 2017 Klage erhoben und vorgetragen, dass mit Vorlage der CT-Untersuchung vom 15. Mai 2011 spätestens
zu diesem Zeitpunkt eine rentenberechtigende MdE vorgelegen habe. Im Computertomogramm seien Pleuraverdickungen mit streifiger
Zeichnungsvermehrung der angrenzenden Lunge im Bereich der Lungenspitzen festgestellt worden. Beweisend dafür sei auch, dass
bei dem Versicherten eine schwere Luftnot bestanden habe, die sich auch durch den Einsatz eines Herzschrittmachers nicht habe
bessern lassen.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat insbesondere auf die Feststellungen von Dr. D. verwiesen, der keine Einschränkung
der Lungenfunktion bei den Lungenfunktionsuntersuchungen habe feststellen können.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines internistisch-arbeitsmedizinischen Gutachtens des Arztes für Innere
Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. S. vom 9. Dezember 2018. Dieser hat ausgeführt, dass sich bei dem Versicherten
sowohl in einem Röntgenbild aus dem Jahre 2008, als auch im CT 2011 klassische asbestassoziierte Pleuraveränderungen gefunden
hätten, aber kein Nachweis einer Lungenfibrose. Dies sei auch durch die Obduktion bestätigt. Während die Lungenfibrose mit
einer funktionell eingeschränkten Atembreite einhergehe, wirkten sich die asbestassoziierten kleinen Pleuraveränderungen kaum
auf die Lungenfunktion aus. Im Falle des Versicherten hätten die Pleuraplaques aufgrund der geringen Ausdehnung keine negative
funktionelle Wirkung auf die Lungenfunktion gehabt.
Mit Urteil vom 16. Juli 2020 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Bei dem verstorbenen Versicherten sei am 17. Mai
2011 durch eine entsprechende Computertomographie eine geringgradig ausgeprägte Asbestose festgestellt worden, welche die
Erwerbsfähigkeit nicht in rentenberechtigender MdE, d.h. um wenigstens 20 v.H. gemindert habe. Zu Recht hätten sowohl der
im Verwaltungsverfahren angehörte Gutachter Dr. S1 als auch der im Gerichtsverfahren bestellte Sachverständige Dr. S. ausgeführt,
dass aufgrund der Ergebnisse der Lungenfunktionsprüfungen seit 2011 bis zum 16. Februar 2016 keine Einschränkung der Lungenfunktion
im Rahmen einer restriktiven oder obstruktiven Ventilationsstörung vorgelegen habe und auch eine die Lungenkapazität einschränkende
Lungenfibrose medizinisch nicht habe nachgewiesen werden können. Auch der Lungenfacharzt Dr. D. habe in seiner Stellungnahme
vom 25. April 2017 darauf hingewiesen, dass hinsichtlich der Vitalkapazität (VC max.) des Versicherten im Jahre 2014 mit einem
Wert von 84,5 % eine signifikante Restriktion nicht festgestellt werden konnte. Diese Auffassung stehe auch in Übereinstimmung
mit der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung, wonach von einer rentenberechtigenden MdE im Rahmen der BK 4103 erst bei
einem Wert der Vitalkapazität (IVC) unter 80% sowie bei einer CIstat von unter 70% ausgegangen werden könne. Aufgrund der
bis zum September 2015 als noch im Normbereich anzusehenden Vitalkapazität ergäben sich keine Anhaltspunkte für die Bewertung
einer Minderung der Erwerbsfähigkeit. Aus diesen Gründen sei auch die hilfsweise beantragte Feststellung einer MdE von 10
v.H. im Rahmen eines möglichen Stützrententatbestandes (§
56 Abs.
1 Satz 2
SGB VII) nicht möglich. Insbesondere fehle es vor dem 15. Februar 2016 an einem weiteren MdE-Versicherungsfall, der eine Rente nach
einer MdE von 10 v.H. stützen würde. Auch der Antrag auf Feststellung, dass der Versicherungsfall der BK 4103 früher vorgelegen
haben müsste, sei nicht begründet, da er medizinisch nicht nachgewiesen worden sei.
Die Klägerin hat gegen dieses ihrem Prozessbevollmächtigten am 24. Juli 2020 zugestellte Urteil am 24. August 2020 Berufung
eingelegt. Die Beklagte unterschätze den vorliegenden Fall. Dass eine MdE von 20 v.H. für eine BK 4103 vor dem 17. Mai 2011
feststellbar sei, ergebe sich aus dem weiteren Verlauf.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Juli 2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. November 2016 in Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 29. Mai 2017 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin als Rechtsnachfolgerin
des versicherten L.S. aufgrund der anerkannten Berufskrankheit nach der Ziffer 4103 der Anlage 1 zur
Berufskrankheitenverordnung eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von mindestens 20 v.H., hilfsweise eine Stützrente aufgrund
eines Versicherungsfalles vor dem 17. Mai 2011 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf die ihrer Ansicht nach zutreffenden Gründe des erstinstanzlichen Urteils. Nach den Stellungnahmen von Dr.
S1 vom 17. Oktober 2016 und Dr. D. vom 25. April 2017 hätten Asbeststaubinhalationsfolgen erstmals im Rahmen einer CT-Untersuchung
am 17. Mai 2011 festgestellt werden können. Der Versicherungsfall sei deshalb erst ab diesem Datum anzunehmen, für eine Vorverlegung
bestehe kein Anhalt. Eine rentenberechtigende MdE habe bei den Lungenfunktionsprüfungen bis zum 15. Februar 2016 nicht festgestellt
werden können.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung über die Berufung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§
153 Abs.
1,
124 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG )). Außer der Gerichtsakte haben die den Versicherten betreffenden Verwaltungsakten vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Auf den Inhalt dieser Akten wird ergänzend Bezug genommen.
1. Nach §
56 Abs.
1 Satz 1 Siebtes Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall
hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf Rente. Wenn, wie vorliegend, kein Anspruch auf Verletztengeld entstanden
ist, werden Renten an Versicherte nach §
72 Abs.
1 Nr.
2 SGB VII von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem der Versicherungsfall eingetreten ist. Im Streitfall kann nicht festgestellt
werden, dass der Versicherungsfall vor dem 15. Februar 2016 eintrat. Wann der Versicherungsfall bei Berufskrankheiten eintritt,
richtet sich nach §
9 Abs.
5 SGB VII. Hiernach ist auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Behandlungsbedürftigkeit oder, wenn dies für den Versicherten
günstiger ist, auf den Beginn der rentenberechtigenden MdE abzustellen. Da der Versicherte bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden
und nicht mehr arbeitstätig war, kann eine Arbeitsunfähigkeit bzw. deren Beginn nicht bestimmt werden. Abzustellen ist vielmehr
auf den Beginn der Behandlungsbedürftigkeit bzw. der rentenberechtigenden MdE. Vor dem 16. Februar 2016, an dem wegen der
festgestellten BK 4105 bei dem Versicherten eine MdE von 100 v.H. bestand, waren die asbestassoziierten Pleuraveränderungen
(BK 4103) nicht behandlungsbedürftig und die MdE war bis zu diesem Zeitpunkt auf 0 festzusetzen. Das ergibt sich aus dem überzeugenden
Gutachten des Sachverständigen Dr. S., der zu dem Ergebnis gelangte, bei dem Versicherten hätten die Pleuraplaques keine negative
funktionelle Wirkung auf die Lungenfunktion gehabt. Zwar hätten sich sowohl in dem Röntgenbild aus dem Jahr 2008 als auch
dem CT aus 2011 klassische asbestassoziierte Pleuraveränderungen gefunden, jedoch kein Nachweis einer Lungenfibrose. Auch
die spätere Obduktion habe diesen Befund bestätigt. Die kleinen Pleuraveränderungen hätten sich kaum auf die Lungenfunktion
ausgewirkt.
Der Senat folgt diesen nachvollziehbaren und überzeugend begründeten Feststellungen. Sie decken sich auch mit den Ergebnissen
der sachverständigen Feststellungen des Pneumologen Dr. D. und Dr. S1, die ebenfalls bei dem Versicherten wesentliche Funktionsstörungen
aufgrund einer BK 4103 nicht erkennen konnten.
2. Dafür, dass die BK 4103 bereits vor 2011 mit einer rentenberechtigenden MdE vorgelegten hat, finden sich keine medizinischen
Hinweise. Darauf hat bereits der Lungenarzt Dr. S1 in seiner Stellungnahme vom 27. Oktober 2016 hingewiesen. Bei den nachgehenden
Untersuchungen in der Praxis von Dr. H1 (2008) hätten sich in der Lungenfunktion keine Einschränkungen gezeigt. Erst bei Untersuchungen
im Jahr 2014 hätte sich der Verdacht einer restriktiven Ventilationsstörung ergeben. Die anschließenden Lungenfunktionsuntersuchungen
am 14. November 2014 hätten dies aber nicht bestätigt. Unter Berücksichtigung der Sollwerte nach EGKS und der "Global Lung
Function Initiative 2012" sei bei der von dem Versicherten bei der Spirometrie erreichten Vitalkapazität nicht von einer Einschränkung
auszugehen gewesen. Das Sozialgericht hat die Klage deshalb auch insoweit zu Recht abgewiesen, sodass die Berufung insgesamt
keinen Erfolg hat.