Ablehnung eines Sachverständigen im sozialgerichtlichen Verfahren wegen Besorgnis der Befangenheit; ärztliche Untersuchung
ohne die Teilnahme von Angehörigen
Gründe:
I. Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde dagegen, dass das Sozialgericht seinem gegen den Sachverständigen Dr. F. gerichteten
Ablehnungsgesuch nicht entsprochen hat.
Der Kläger begehrt eine Erwerbsminderungsrente. Der vom Sozialgericht zum Sachverständigen bestellte Facharzt für Orthopädie
und Unfallchirurgie Dr. F. bestellte den Kläger für den 8. September 2009 zur Untersuchung. Der Kläger wollte an dieser Untersuchung
in Begleitung seiner Ehefrau teilnehmen. Der Sachverständige forderte die Ehefrau jedoch auf, außerhalb des Untersuchungsraums
zu warten, und untersuchte den Kläger in Abwesenheit seiner Gattin. Das Gutachten des Sachverständigen vom 10. September 2009
ging am 16. September 2009 beim Sozialgericht ein.
Bereits mit Schriftsatz vom 10. September 2009 hatte der Kläger den Sachverständigen als befangen abgelehnt und zur Begründung
insbesondere geltend gemacht, dass dieser eine Teilnahme seiner Ehefrau an der Untersuchung ohne sachlichen Grund abgelehnt
habe. Dies begründete Misstrauen hinsichtlich der Objektivität und Neutralität des Sachverständigen.
In seiner vom Sozialgericht angeforderten Stellungnahme vom 15. September 2009 zu diesem Befangenheitsgesuch hat der Sachverständige
ausgeführt, dass er den Eindruck gewonnen habe, dass eine Anwesenheit der aus seiner Sicht den "dominierenden Part" innehabenden
Ehefrau zu einer Verfälschung des gutachterlichen Untersuchungsergebnisses führen würde. Nicht der Kläger, sondern die Ehefrau
ihrerseits habe Wert auf ihre Teilnahme an der Untersuchung des Klägers gelegt. Durch seine Vorgehensweise habe das Beschwerdebild
des Klägers einer "dezidierten Beurteilung" zuführen können.
Mit Beschluss vom 23. September 2009 hat das Sozialgericht den Antrag des Klägers auf Ablehnung des Sachverständigen zurückgewiesen.
Der Sachverständige habe durchaus sachliche und nachvollziehbare Gründe dafür vorgetragen, dass er die Ehefrau des Klägers
an der Untersuchung nicht habe teilnehmen lassen. Er habe das Ziel verfolgt, eine Begutachtungssituation zu schaffen, bei
der der Kläger sich möglichst unbeeinflusst und unbefangen habe äußern und bewegen können.
Mit der am 19. Oktober 2009 eingelegten Beschwerde macht der Kläger geltend, dass der Sachverständige seine prozessualen Rechte
beschnitten habe. Als Begleitperson sei seine Ehefrau zu der vom Kläger als "äußerst erniedrigend" empfundenen und "mitunter
strapaziösen" Untersuchung zuzulassen gewesen, wobei sie auch das Recht gehabt hätte, Fragen zu stellen und Hinweise zu geben.
Rechtlich sei es gar nicht ausschlaggebend, ob eine solche Begleitperson zur mentalen Unterstützung des Versicherten oder
aus anderen Gründen an der Untersuchung teilnehmen wolle.
Der Sachverständige habe das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs missachtet. Des Weiteren habe der Sachverständige den
Grundsatz der Parteiöffentlichkeit verletzt, wobei allerdings der Beklagten ohnehin kein Recht zur Teilnahme an der Untersuchung
zuzugestehen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Senat teilt die Einschätzung des Sozialgerichts, dass kein berechtigter
Anlass ersichtlich ist, den Sachverständigen Dr. F. als befangen anzusehen.
Nach §
60 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) i. V. m. §
42 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) kann ein Richter - für Sachverständige gilt Gleiches (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i. V. m. §
406 ZPO) - wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit
zu rechtfertigen. Dies ist nicht erst dann der Fall, wenn der Richter oder Sachverständige tatsächlich befangen ist, sondern
schon dann, wenn ein Beteiligter bei Würdigung aller Umstände und bei vernünftigen Erwägungen Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit
und der objektiven Einstellung des Richters bzw. Sachverständigen zu zweifeln. Ein im Rahmen gebotener Verfahrensweise liegendes
Verhalten kann keinen Ablehnungsgrund begründen (Landessozialgericht Baden-Württemberg, B. v. 7. September 2009 - L 10 R 3976/09 B -).
Das Verhalten des abgelehnten Sachverständigen ist weder fachlich noch rechtlich zu beanstanden. Es ist damit kein vernünftiger
Anlass ersichtlich, an seiner Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung zu zweifeln.
Die fachliche Durchführung der Untersuchung ist zunächst Sache des Sachverständigen. Das Gericht darf ihm grundsätzlich keine
fachlichen Weisungen darüber erteilen, auf welchem Weg er das Gutachten zu erarbeiten hat. Wenn es ein Sachverständiger für
erforderlich hält, die Untersuchung in Abwesenheit dritter Personen vorzunehmen, weil er die Verfälschung des Ergebnisses
der Exploration befürchtet, bewegt er sich (vorbehaltlich besonderer Umstände etwa in Form von nicht anders angemessen überwindbarer
Kommunikationsschwierigkeiten des Probanden) im Bereich seiner Fachkompetenz. Es ist kein wissenschaftlicher Standard erkennbar,
der die Anwesenheit Dritter bei Gutachten der vorliegenden Art vorsieht (vgl. zu diesen Maßstäben: BGH, B. v. 8. August 2002
- 3 StR 239/02 - NStZ 2003, 101).
Der Kläger macht im vorliegenden Verfahren insbesondere orthopädische Beeinträchtigungen geltend, die mit erheblichen Schmerzen
verbunden seien (vgl. etwa den Befundbericht des Chirurgen Dr. G. vom 2. April 2009, wonach bereits schmerztherapeutische
Maßnahmen eingeleitet worden sind). Bei solchen Krankheitsbildern lässt sich das Ausmaß der dadurch bedingten Leistungseinschränkungen
nur bei einer Gesamtbetrachtung der somatischen und psychischen Beeinträchtigungen angemessen beurteilen; dabei sind insbesondere
auch Lokalisation, Häufigkeit und Charakter der Schmerzen, biografische Schmerzerfahrungen, die Auswirkungen eigener Bewältigungsstrategien
sowie die Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens und bei der Partizipation in verschiedenen Lebensbereichen
zu berücksichtigen (vgl. hierzu und zu weiteren Gesichtspunkten: Schiltenwolf in Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo, Begutachtung
der Haltungs- und Bewegungsorgane, 5. Aufl., S. 510 ff.; Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl., S. 672
ff.).
Dies macht zugleich deutlich, dass in Zusammenhängen der vorliegenden Art auch ein orthopädischer Gutachter sich nicht mit
Messungen, Funktionsproben und etwa durch die Auswertung von (regelmäßig nur eine geringe Spezifität aufweisenden; vgl. Schiltenwolf,
aaO., S. 514) radiologischen Aufnahmen begnügen kann, sondern namentlich auch die psychischen Auswirkungen des Krankheitsbildes
unter Einschluss der individuellen Bewältigungsressourcen zu beurteilen hat. Bezeichnenderweise hat der abgelehnte Sachverständige
ausgehend von diesem Ansatz die Notwendigkeit eines psychiatrischen Zusatzgutachtens bejaht.
Gerade bei der Erhebung und Bewertung entsprechender psychischer Begleitumstände ist es aber von besonderer Bedeutung, dass
sich der Sachverständige einen möglichst unmittelbaren und ungestörten Eindruck von den Schmerzerfahrungen des Probanden und
von seinem Umgang mit den Schmerzen verschaffen kann. Dementsprechend wird auch in der Fachliteratur empfohlen, im Regelfall
keine Teilnahme von Angehörigen am gutachterlichen Gespräch zuzulassen (vgl. Venzlaff/Foerster, aaO., S. 19).
Dabei ist im vorliegenden Zusammenhang ferner zu berücksichtigen, dass der Kläger die materielle Beweislast für die anspruchsbegründenden
Tatsachen trägt. Eine sorgfältige Aufklärung des Sachverhalts trägt gerade auch seinen Interessen Rechnung. Es trägt damit
auch den wohlverstandenen eigenen Interesse eines Rentenbewerbers Rechnung, wenn der Sachverständige seinem Gutachten über
die Erwerbsfähigkeit nur möglichst unverfälscht und zutreffend ermittelte Umstände zugrunde zu legen trachtet (vgl. OVG Hamburg,
B. v. 15. Juni 2006 - 1 Bs 102/06 - DÖD 2007, 175).
Auch das weitere Vorbringen des Klägers gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung:
Art.
103 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) verpflichtet zunächst die Gerichte, rechtliches Gehör zu gewähren; die Möglichkeiten des Klägers, sich - persönlich oder
durch Vermittlung seines Anwalts oder seiner Ehefrau - gegenüber dem Sozialgericht zu äußern, sind im vorliegenden Zusammenhang
in keiner Weise eingeschränkt worden. Soweit dieses Grundrecht überhaupt unmittelbare Verpflichtungen gegenüber einem Sachverständigen
(als einem sog. Gehilfen des Gerichts, vgl. dazu Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl., §
118, Rn. 11a) zu begründen vermag, ist zunächst erneut darauf hinzuweisen, dass dem Kläger (im Gegensatz zur Beklagten) gerade
durch den Sachverständigen die Möglichkeit eröffnet worden ist, noch einmal (über seinen bereits aktenkundigen schriftsätzlichen
Vortrag hinaus) persönlich im Einzelnen seine Beschwerden, seine Problematik und seinen Standpunkt zu erläutern. Eine Vermittlung
des rechtlichen Gehörs durch dritte Personen, etwa durch einen Anwalt oder - wie hier - durch einen Angehörigen, gewährleistet
Art.
103 Abs.
1 GG ohnehin nicht (BVerfG, B.v. 11. März 1975 - 2 BvR 135 - 139/75 - E 39, 156).
Bei dieser Ausgangslage ist nur ergänzend darauf hinzuweisen, dass das rechtliche Gehör eingeschränkt werden kann, wenn dies
durch sachliche Gründe hinreichend gerechtfertigt ist (vgl. BVerfGE 81, 123 [129f.] = NJW 1990, 1104; BVerfG, Beschluss vom 27.10.1999 - 1 BvR 385/90 - NJW 2000, 1175).
Das Gebot der Parteiöffentlichkeit findet zum Schutz der Intimsphäre des zu Begutachtenden bei ärztlichen Untersuchungen ohnehin
keine Anwendung (vgl. etwa OLG Köln, B. v. 25. März 1992 - 27 W 16/92 - NJW 1992, 1568). Schon deshalb kann der Sachverständige es nicht missachtet haben (abweichend wohl: Landessozialgericht Rheinland-Pfalz,
B. v. 23. Februar 2006 - L 4 B 33/06 SB - SGb 2006, 500). Dementsprechend ist nur ergänzend klarzustellen, dass der Kläger als Beteiligter (im Gegensatz zur Beklagten) bei der Untersuchung
selbstverständlich anwesend war; seine Ehefrau ist ohnehin nicht Beteiligte im vorliegenden Verfahren.
Soweit der Kläger das Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl. dazu - in ganz anderem Zusammenhang - den vom Kläger
zitierten Beschluss des BSG vom 9. April 2003 - B 5 RJ 140/02 B) missachtet sieht, erschließt sich aus dem Befangenheitsgesuch schon nicht, dass die Vorgehensweise des Sachverständigen
aus der Sicht eines verständigen Beteiligten als unfair zu betrachten sein könnte. Namentlich lässt sich nichts dafür objektivieren,
dass der Kläger durch die Abwesenheit seiner Ehefrau an der Geltendmachung seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen gegenüber
dem Sachverständigen gehindert war. Das inzwischen vorliegende Gutachten gibt seine Beschwerdeschilderungen vielmehr ausführlich
wieder. Erst recht ist nichts dafür erkennbar, dass der Kläger substantiiert gegenüber dem Sachverständigen sachliche Gründe
dafür aufgezeigt hat, dass er - abweichend vom Regelfall eines erwachsenen Probanden - auf eine Anwesenheit seiner Ehefrau
zur sachgerechten Wahrnehmung seiner Interessen angewiesen sei.
Vor diesem Hintergrund vermag der Senat auch dem - schon die erforderlich Substantiierung vermissen lassenden - Hinweis des
Klägers keine Relevanz beizumessen, wonach er im Beisein seiner Frau sein "Schamgefühl" eher hätte überwinden können. Der
mit der Untersuchung als solche verbundene (im vorliegendem Zusammenhang seinem Umfang nach durchaus überschaubare) Eingriff
in die Intimsphäre wird dem Betroffenen zugemutet (vgl. insbesondere §
62 SGB I) und wird aus der Sicht eines verständigen Beteiligten durch die Anwesenheit weiterer Personen bei der Begutachtung auch
nicht abgeschwächt (wenn nicht sogar verstärkt). Im Übrigen wird das vorliegende Verfahren auf Wunsch des die Klage führenden
Klägers betrieben.
Soweit der Kläger darauf hingewiesen hat, dass eben dieses "Schamgefühl" dazu geführt habe, dass er sich selbst (etwa beim
An- und Ausziehen) "geholfen" und nicht die angebotene Hilfe des Sachverständigen in Anspruch genommen habe (wohingegen er
im Falle der Anwesenheit seiner Ehefrau deren Hilfe offenbar beansprucht hätte), bringt er im Übrigen letztlich selbst zum
Ausdruck, dass eine Anwesenheit der Ehefrau die Gefahr einer Verfälschung der Untersuchungsergebnisse in Form objektiv nicht
erforderlicher Hilfeleistungen mit sich gebracht hätte.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).