Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
Berücksichtigung von Kindergeld als Einkommen
Einsatz von Vermögen
Gründe:
I.
Streitig ist im Berufungsverfahren noch die Berücksichtigung von Kindergeld (Kg) als Einkommen.
Nachdem die Leistungserbringung im Jahr 2007 wegen des Zuflusses einer Erbschaft eingestellt worden war, bewilligte die Stadt
Göttingen dem Kläger zu 1 sowie seiner Ehefrau, der Klägerin zu 2, und den in den Jahren 2001 und 2007 geborenen Kindern,
den Klägern zu 3 und 4, ab 3. Juni 2008 bis zum 31. Dezember 2008 zunächst vorläufig Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Der weitere im Jahr 1998 geborene Sohn G. erhielt wegen zu berücksichtigenden Vermögens weiter keine Leistungen (Bescheid
vom 15. Oktober 2008). Wegen des Bezugs von Wohngeldleistungen hob die Stadt H. mit dem Änderungsbescheid vom 7. November
2008 die Leistungsbewilligung für den Monat Juni 2008 teilweise auf. Dagegen legten die Kläger am 8. Dezember 2008 Widerspruch
ein, mit dem sie auch die Berücksichtigung des für G. gezahlten Kg als Einkommen rügten. Sie trugen vor: Das für G. gezahlte
Kg stelle kein für die Bedarfsgemeinschaft verfügbares Einkommen dar, denn es werde für die Lebenshaltung des Kindes benötigt.
Ein vermögendes Kind unterscheide sich von einem Kind, das seinen notwendigen Unterhalt aus laufenden Einnahmen decken könne,
dadurch, dass ihm die Verwertung des eigenen Vermögens entgegen der Regelung des §
1602 Abs
2 BGB zugemutet werde, obwohl die Eltern zumindest in Höhe des gewährten Kg leistungsfähig im unterhaltsrechtlichen Sinne seien.
Nachdem die Stadt H. die Kläger im Jahr 2008 auf die Unangemessenheit der Unterkunftskosten hingewiesen hatte, teilte sie
ihnen mit Schreiben vom 8. Januar 2009 mit, dass sie im Bescheid vom selben Tag lediglich noch die angemessenen Unterkunftskosten
in Höhe von 625 EUR monatlich berücksichtige. Mit dem Leistungsbescheid vom 8. Januar 2009 bewilligte die Beklagte - wiederum
vorläufig - Leistungen für die Monate Januar bis Juni 2009. Dabei setzte sie das für G. gezahlte Kg vorab vom Bedarf des Klägers
zu 1 ab. Mit dem Widerspruch vom 9. Februar 2009 wandten sich die Kläger gegen die Begrenzung der Unterkunftskosten.
Mit Bescheid vom 29. Mai 2009 setzte die Stadt H. Leistungen für den Zeitraum im Jahr 2008 endgültig fest. Mit weiterem Bescheid
vom selben Tag änderte sie die Leistungsbewilligung für die Monate Januar bis Juni 2009. Die Widersprüche hinsichtlich der
Berücksichtigung des für G. gezahlten Kg und der bewilligten Leistungen für Unterkunftskosten wurden zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid
vom 29. Juni 2009). Mit Bescheid vom 15. Juli 2009 setzte die Beklagte die Leistungen für die Monate Februar bis Juni 2009
endgültig fest.
Auf die am 3. August 2009 vor dem SG Hildesheim erhobenen Klage erklärte sich der Beklagte bereit, der Leistungsbewilligung
auch für die Zeit vom 1. Januar bis 15. April 2009 die tatsächlichen Unterkunftskosten zugrunde zu legen und setzte dieses
Teilanerkenntnis im Bescheid vom 20. April 2012 um. Für die verbleibenden Monate hielt er an der Höhe der zugrunde gelegten
angemessenen Unterkunftskosten unter Hinweis auf für das Gebiet der Stadt H. existierende Gutachten fest.
Das SG hat durch Urteil vom 23. Juli 2012 den Bescheid vom 8. Januar 2009 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 29. Mai 2009
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2009 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 15. Juli 2009 und vom
20. April 2012 abgeändert und den Beklagten verurteilt, den Klägern für den Zeitraum vom 16. April bis zum 30. Juni 2009 zusätzliche
Unterkunftskosten in Höhe von 228,10 EUR zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Die vom Beklagten berücksichtigten angemessenen Unterkunftskosten beruhten nicht auf einem sog schlüssigen Konzept. Deshalb
seien die Werte der rechten Spalte der Tabelle zu § 12 Wohngeldgesetz zuzüglich eines Aufschlages in Höhe von 10 vom Hundert heranzuziehen. Nach der gesetzlichen Konzeption des § 11 SGB II sei das für G. gezahlte Kg als Einkommen zu berücksichtigen. Soweit unterhaltsrechtlich das Kg nicht als Einkommen der unterhaltspflichtigen
Eltern zu behandeln sei, gelte das nur für die Einkommensermittlung von Unterhaltsverpflichteten nach familienrechtlichen
Vorschriften.
Gegen die am 8. Oktober 2012 zugestellte Entscheidung hat zunächst der Beklagte Berufung eingelegt, die er am 25. März 2015
zurückgenommen hat.
Mit der am 8. November 2012 eingelegten Berufung wenden sich die Kläger weiterhin gegen die Berücksichtigung des für G. gezahlten
Kg als Einkommen. Die Begründung ihrer Rechtsauffassung haben sie vertieft: Mit der Unterhaltsrechtsreform des Jahres 2007
sei ein wesentlicher Paradigmenwechsel erfolgt. Die fortwährende Unterhaltsverpflichtung gegenüber Rafael ergebe sich aus
den grundlegenden Regelungen des Unterhaltsrechts in §§
1601 ff
BGB. Insbesondere sei das Vermögensprivileg minderjähriger Kinder aus §
1602 Abs
2 BGB zu beachten, so dass die Unterhaltspflicht des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 fortbestehe, soweit sie leistungsfähig
seien. Die Leistungsfähigkeit ergebe sich aus der Gewährung des Kg für G ... Damit stehe es der Bedarfsgemeinschaft nicht
zur Verfügung. §
1612b BGB ordne an, dass das auf das Kind entfallende Kg zur Deckung seines Barbedarfs zu verwenden sei. Das BVerfG habe entschieden,
dass das Kg nicht mehr den Eltern, sondern den Kindern selbst als deren eigenes Einkommen familienrechtlich bindend und unabhängig
vom Außenverhältnis zwischen den Bezugsberechtigen und der Familienkasse zugewiesen sei. Das Kg werde zwar nach wie vor den
Eltern zur Auszahlung gebracht und solle diese auch nach wie vor bei der Erfüllung ihrer Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind
entlasten. Doch hätten die Eltern das Kg als Einkommen des Kindes zu verwenden und für das Kind einzusetzen. Im Ergebnis sei
§
11 Abs
1 Satz 3
SGG II nicht mehr als bloße Zurechnungsnorm anzusehen, sondern regele inhaltsgleich im Sozialrecht die familienrechtliche Zuordnung
des Kg als individuelles Einkommen des einzelnen Kindes. Es sei deshalb nicht statthaft, einem Kind zugunsten Dritter seinen
Auszahlungs- und Verwendungsanspruch auf das ihm über die Eltern gezahlte Kg zu entziehen.
Die Kläger beantragen sinngemäß, 1. das Urteil des SG Hildesheim vom 23. Juli 2012 zu ändern, 2. auch den Bescheid des Beklagten
vom 29. Mai 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2009 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, Leistungen
ohne Berücksichtigung des für G. gezahlten Kg als Einkommen zu gewähren.
Der Beklagte verteidigt die Berücksichtigung des Kg als Einkommen und beantragt, die Berufung der Kläger gegen das Urteil
des SG Hildesheim vom 23. Juli 2012 zurückzuweisen.
Der Senat hat die Beteiligten durch Verfügung vom 28. Juli 2015 darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Berufung durch
Beschluss zurückzuweisen und dass er eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Den Beteiligten ist Gelegenheit
zur Stellungnahme gegeben worden, die die Kläger mit dem Schriftsatz vom 31. August 2015 genutzt haben.
Dem Senat haben neben den Prozessakten die Leistungsakten des Beklagten vorgelegen. Sie sind Grundlage der Entscheidungsfindung
gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug
genommen.
II.
Die statthafte Berufung der Kläger ist form- und fristgerecht eingelegt und somit insgesamt zulässig. Sie hat jedoch in der
Sache keinen Erfolg. Der Senat hält das Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich.
Die Entscheidung konnte deshalb durch Beschluss ergehen, §
153 Abs
4 SGG.
Das SG hat die auf Zahlung der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ohne Berücksichtigung des für G. gezahlten Kg als
Einkommen gerichtete Klage zu Recht abgewiesen. Dabei ist diese, soweit sie den Bewilligungszeitraum im Jahr 2009 betrifft,
schon unzulässig. Denn der Widerspruch vom 9. Februar 2009 richtete sich allein gegen die Höhe der Leistungen für Unterkunftskosten
(zur Zulässigkeit der Trennung der Streitgegenstände Regelbedarf und Bedarf für Unterkunft und Heizung zB BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 38). Somit ist der Verfügungssatz zur Höhe des Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts, der durch zu berücksichtigendes
Einkommen und Vermögen zunächst gedeckt wird (§ 19 Satz 3 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 gültigen Fassung), - entgegen der Auffassung der Kläger - in der Sache bindend (§
77 SGG) mit der Folge, dass er nicht mehr angegriffen werden kann. Darüber hinaus ist in diesem Bewilligungszeitraum das für G.
gezahlte Kg allein beim Kläger zu 1 berücksichtigt worden. Die weiteren Kläger sind somit nicht beschwert und ihre Klagen
erweisen sich auch deshalb als unzulässig. Denn die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende stellen individuelle
Ansprüche des einzelnen Mitglieds einer Bedarfsgemeinschaft und nicht lediglich Rechnungsposten des Gesamtanspruchs einer
Bedarfsgemeinschaft dar (zB Spellbrink/Becker in: Eicher SGB II 3. Aufl 2013 § 7 Rn 70 mN zur Rspr), wie die Kläger meinen.
Hinsichtlich des Bewilligungszeitraums im Jahr 2008 ist die Klage zwar zulässig, aber unbegründet. Der Senat hat auch vor
dem Hintergrund der vertieften Argumente im Berufungsverfahren keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Berücksichtigung des
für G. gezahlten Kg als Einkommen.
Die Anrechnung des für G. gezahlten Kg in voller Höhe auf den Bedarf der Kläger entspricht der gesetzlichen Bestimmung des
§ 11 Abs 1 Satz 3 SGB II (in der bis zum 31. März 2011 gültigen Fassung, jetzt: Satz 4). Danach ist es als Einkommen des zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden
Kindes nur so weit zuzurechnen, soweit es zur Sicherung des Lebensunterhalts benötigt wird. Das ist hier nicht der Fall. G.
gehörte nicht zur Bedarfsgemeinschaft der Kläger, da er seinen Lebensunterhalt aus dem zu berücksichtigenden Vermögen sichern
konnte (§ 7 Abs 3 Nr 4, § 9 Abs 1, § 12 SGB II). Diese Anrechnung ist mit dem
Grundgesetz vereinbar (BVerfG SozR 4-4200 §
11 Nr 32). Etwas anderes folgt auch nicht aus der Regelung des §
1612b BGB.
Mit der Unterhaltsreform des Jahres 2007 hat der Gesetzgeber in §
1612b BGB nF das Kg nicht mehr den Eltern, sondern den Kindern selbst als deren eigenes Einkommen familienrechtlich bindend und unabhängig
vom Außenverhältnis zwischen den Bezugsberechtigten und der Familienkasse zugewiesen. Gleichzeitig sollten die zivilrechtlichen
Bestimmungen in Einklang mit den sozialrechtlichen Grundentscheidungen gebracht werden (BT-Drs 16/1830 S 29 f). Die gesetzliche
Neuregelung kann deshalb nicht so verstanden werden, als hätte der Gesetzgeber die Einkommensanrechnung nach § 11 Abs 1 Satz 3 (aF) SGB II unterbinden wollen (s auch LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 16. Mai 2012 - L 6 AS 10/12 B -).
Eine andere Bewertung ist auch nicht der von den Klägern angeführten Entscheidung des BVerfG in dem Nichtannahmebeschluss
vom 14. Juli 2011 - 1 BVerfG 932/10 - zu entnehmen. Und zwar schon deshalb nicht, weil Gegenstand der Entscheidung die Frage
der Gleichwertigkeit von Bar- und Betreuungsunterhalt bei der Anrechnung von Kg auf den Kindesunterhalt war, wenn der Unterhaltspflichtige
neben der Zahlung von Kindesunterhalt zur Leistung von Ehegattenunterhalt verpflichtet ist. Über das Unterhaltsrecht hinausgehende
Aussagen enthält die Entscheidung nicht, zumal auch das BVerfG wesentlich darauf abstellt, dass der Gesetzgeber eine Angleichung
der unterhaltsrechtlichen mit den sozialrechtlichen Regelungen bezweckte (vgl Harich SGb 2012 S 224 ff). Auch soweit die unterhaltsrechtliche
Bestimmung sozialrechtlichen Regelungen entgegensteht, ist sie nicht übertragbar (vgl Hengelhaupt in: Hauck/Noftz SGB II K § 11 Rn 364).
Zwischen den unterhaltsrechtlichen Bestimmungen und den sozialrechtlichen Regelungen besteht hier der Unterschied, dass ein
minderjähriges unverheiratetes Kind zur Bestreitung seines Unterhalts unterhaltsrechtlich nicht auf Vermögen verwiesen werden
darf (§
1602 Abs
2 BGB). Deshalb sind die Eltern weiterhin unterhaltspflichtig. Demgegenüber ist der Bedarf auch eines minderjährigen Kindes im
Leistungsrecht der Grundsicherung für Arbeitsuchende zunächst aus dem Vermögen zu decken. Die staatlichen Leistungen sowohl
des Kg als auch der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen beide der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums,
das - wie oben ausgeführt - durch die vollständige Anrechnung des Kg nicht verletzt wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG und berücksichtigt, dass die Kläger zu der ursprünglich von dem Beklagten eingelegten Berufung nicht vorgetragen haben.
Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision liegt nicht vor. Insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung,
§
160 Abs
2 Nr
1 SGG. Die Regelung in § 11 Abs 1 SGB II wird in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung und - nahezu einhellig - auch in der Literatur nicht angezweifelt (aA - soweit
ersichtlich - nur Geiger in: LPK - SGB II 5. Aufl 2013 § 11 Rn 33, nach dem eine Berücksichtigung über eine - fingierte - Abzweigung nach §
74 Abs
1 Einkommensteuergesetz zu vermeiden sei).