Vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II an belgischen Staatsangehörigen
Anwendbarkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch auf EU-Bürger mit Aufenthalt in Deutschland ohne materielles Aufenthaltsrecht
Gründe
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu Recht abgelehnt.
Gemäß §
86b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Gericht der Hauptsache einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis (Anordnungsanspruch) treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint
(Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung (
ZPO)).
Bereits das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs nach § 7 Abs. 1 SGB II hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Es kann insoweit dahin stehen, ob er hilfebedürftig im Sinne von § 9 SGB II ist, weil ein möglicher Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II auch bei bestehender Hilfebedürftigkeit nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen ist. Ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II sind nach dieser Vorschrift Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Dies ist
beim Antragsteller der Fall. Ein anderes Aufenthaltsrecht als das zum Zweck der Arbeitsuche steht ihm nicht zu.
Der Antragsteller ist belgischer Staatsangehöriger. Er war nach eigenen Angaben seit seiner Einreise im November 2011 nach
Deutschland zu keinem Zeitpunkt in seinem Beruf als Journalist tätig, weil ihm die Ausübung einer diesbezüglichen Tätigkeit
bereits mangels deutscher Sprachkenntnisse nicht möglich war. Der Antragsteller ist damit weder als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU noch als Selbständiger nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Er ist auch nicht als Nicht-Erwerbstätiger nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, weil es ihm an ausreichenden Existenzmitteln fehlt. Sein Aufenthaltsrecht kann sich damit allenfalls
aus dem Zweck der Arbeitssuche (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 FreizügG/EU) ergeben. Eine aktive Arbeitsuche des Antragstellers ist allerdings bisher zu keinem Zeitpunkt erfolgt. Es stellt sich daher
die Frage, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch auf die EU-Bürger anwendbar ist, die sich ohne materielles Aufenthaltsrecht in Deutschland aufhalten (vgl. eingehend
zum Meinungsstand SG Dortmund, Beschluss vom 18.11.2014 - S 35 AS 3929/14 ER, [...] RdNrn. 2 ff). Teilweise wird diesbezüglich vertreten, dass der Leistungsausschluss nur eingreife, wenn das Aufenthaltsrecht
des Ausländers zur Arbeitsuche positiv festgestellt werden kann (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.05.2014 - L 19 AS 430/13, [...] RdNr. 42 ff; Hessisches LSG, Urteil vom 27.11.2013 - L 6 AS 378/12, [...] RdNr. 54). Die Vorschrift könne nicht dahingehend erweiternd ausgelegt werden, dass der Leistungsausschluss "erst
recht" für EU-Ausländer ohne materielles Aufenthaltsrecht gelten müsse. Als Ausnahmevorschrift müsse § 7 Abs. 1 Satz Nr. 2 SGB II vielmehr eng ausgelegt werden. Die Voraussetzungen für einen methodisch zulässigen "erst recht"-Schluss seien zudem nicht
erfüllt, da eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage nicht vorlägen. Art. 14 Abs. 4 b) der Richtlinie
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich
im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Richtlinie 2004/38 EG) regele einen Ausweisungsschutz
bei nachgewiesener Arbeitssuche. Allein für diesen freizügigkeitsberechtigten Personenkreis solle der Leistungsausschluss
gelten. Bei Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht bestehe demgegenüber die Möglichkeit zur Einleitung aufenthaltsbeendender
Maßnahmen durch die Ausländerbehörde.
Die Gegenauffassung nimmt demgegenüber an, dass der Leistungsausschluss auch auf die EU-Bürger anwendbar ist, bei denen ein
Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche nie bestanden hat oder fortgefallen ist und kein anderes Aufenthaltsrecht feststellbar
ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014 - L 15 AS 202/14 B ER, [...] RdNr. 15 ff.; Hessisches LSG, Beschluss vom 14.10.2009 - L 7 AS 166/09 B, [...] RdNr. 21; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.11.2013 - L 6 AS 130/13, [...] RdNr. 35 f.). Dieser Auffassung schließt sich der Senat an. Er geht davon aus, dass Wortlaut und Aufbau der Norm darauf
hindeuten, dass der Gesetzgeber mit der Vorschrift alle EU-Bürger vom Leistungsbezug ausschließen wollte, die nicht über zusätzliche
Aufenthaltsrechte als die des bis zu drei monatigen Aufenthaltes oder des Aufenthalts zur Arbeitssuche verfügen (vgl. hierzu
auch SG Dortmund, Beschluss vom 18.11.2014 - S 35 AS 3929/14 ER, [...]). Insbesondere unter Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes des Art.
3 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) hält er es nicht für vertretbar, arbeitsuchende EU-Bürger, die über ein Aufenthaltsrecht verfügen, vom Leistungsbezug auszuschließen,
EU-Bürger ohne materielles Aufenthaltsrecht aber mit einzubeziehen und hält daher allein eine weite Auslegung der Ausschlussregelung
für sachgerecht (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014 - L 15 AS 202/14 B ER, [...] RdNr. 16;). Hierfür spricht auch der Sinn und Zweck der Norm, eine unangemessene Belastung der sozialen Sicherungssysteme
zu verhindern. Dieser Sinn und Zweck gebietet es gerade, die nicht erwerbstätigen EU-Bürger, die nicht einmal zum Zweck der
Arbeitsuche eingereist sind und die nicht über ausreichende Mittel zur Existenzsicherung verfügen, in den Leistungsausschluss
mit einzubeziehen (vgl. Greiser in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014 Anhang zu § 23 , [...] RdNr. 15.4). Die Anwendung des SGB II auf diese Ausländer ist vor dem Hintergrund, dass diese Leistung nicht nur zur Unterhaltssicherung, sondern auch zur Integration
in den Arbeitsmarkt dienen systemwidrig (vgl. erneut LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014 - L 15 AS 202/14 B ER, [...] RdNr. 16).
Das Argument, gegen letztere bestehe die Möglichkeit, aufenthaltsbeendende Maßnahmen einzuleiten, so dass eine vergleichbare
Interessenlage nicht gegeben sei, ist nicht tragfähig, weil das Freizügigkeitsrecht nach §§ 5 Abs. 5, 6 und 7 FreizügG/EU so lange besteht, bis sein Verlust nach § 5 Abs. 4 FreizügigG/EU festgestellt worden ist. Bis zum Erlass eines solchen Feststellungsaktes gilt damit zunächst die Vermutung
der Freizügigkeit. Das somit formal bis zur Ausweisung noch bestehende Aufenthaltsrecht kann aber keine Rechtsposition begründen,
die über diejenige eines aufenthaltsberechtigten EU-Ausländers hinausgeht (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014
- L 15 AS 202/14 B ER, [...] RdNr. 16; Greiser in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014 Anhang zu § 23 , [...] RdNr. 15.2 f. ). Allein die Möglichkeit, einer unangemessenen Beanspruchung der Leistungen durch aufenthaltsbeendende
Maßnahmen zu begegnen, lässt zudem die Erforderlichkeit einer Anwendung des Leistungsausschlusses bis zur tatsächlichen Durchsetzung
dieser Maßnahmen nicht zwingend entfallen (vgl. Greiser in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014 Anhang zu § 23, [...] RdNr. 15.3). Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass der EU-Ausländer bereits nach kurzzeitiger Ausreise erneut für
drei Monate nach Deutschland einreisen kann.
Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist demnach auf den Antragsteller anzuwenden, weil er auch die Ausländer erfasst, die - wie dieser - wirtschaftlich inaktiv
sind, ohne über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel zu verfügen.
Unter Berücksichtigung der Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union - EUGH in Sachen Dano (Urteil vom 11.11.2014
- C-333/13, zitiert nach curia.europa.eu) ist auch davon auszugehen, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht europarechtswidrig ist.
Art. 24 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38 bestimmt zwar, dass jeder Unionsbürger, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen
Mitgliedstaates aufhält, grundsätzlich ein Recht auf die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des Mitgliedstaates
hat, er gilt aber nach der oben zitierten Entscheidung des EUGH nur, wenn und solange der Aufenthalt des Unionsbürgers im
Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 überhaupt erfüllt. Dies setzt nach Art.
7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 bei einem Aufenthalt von über drei Monaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaates
voraus, dass der Unionsbürger entweder Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist (Art. 7 Abs. 1 a)) oder
für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während des Aufenthalts keine
Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden
Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen (Art. 7 Abs. 1 b)). Nur solange sie diese Voraussetzungen erfüllen,
steht ihnen das Aufenthaltsrecht zu (Art. 14 Abs. 2 der RL 2004/13). Bei der Beurteilung dieser Frage ist eine konkrete Prüfung
der wirtschaftlichen Situation des Betroffenen vorzunehmen, wobei die beantragten Leistungen nicht zu berücksichtigen sind
(vgl. EUGH in Sachen Dano, Urteil vom 11.11.2014 - C-333/13, zitiert nach curia.europa.eu, RdNr. 69 ff.). Liegen die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie nicht
vor, kann der Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen keine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des
Aufnahmestaats verlangen.
Der Antragsteller verfügt aber nach seinen eigenen Angaben und unter Berücksichtigung seiner vorgelegten Kontoauszüge nicht
über ausreichende Existenzmittel. Auch ein Krankenversicherungsschutz besteht bei ihm nicht. Er kann sich damit nicht auf
das Diskriminierungsverbot des Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie berufen.
Auch Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004, die ab dem 1. Mai 2010 die Verordnung Nr. 1408/71 ersetzt hat, steht dem Leistungsausschluss
nicht entgegen.
Art. 4 ("Gleichbehandlung") der Verordnung lautet: "Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen,
für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie
die Staatsangehörigen dieses Staates." In Art. 70 Abs. 1) und 2) der Verordnung sind diesbezüglich die "besonderen beitragsunabhängigen
Leistungen" geregelt, zu denen nach Anhang X der Verordnung 883/2004 auch die Leistungen nach dem SGB II gehören. Diese werden aber nach Art. 70 Abs. 4 der Verordnung 883/2004 ausschließlich in dem Mitgliedsstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften
gewährt. Hieraus folgt nach der Auffassung des EUGH, dass eine nationale Regelung - wie § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II - die die Gewährung solcher Leistungen an nicht erwerbstätige Unionsbürger von dem Erfordernis abhängig macht, dass sie die
Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 für ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedsstaat erfüllen, nicht europarechtswidrig
ist (vgl. EUGH in Sachen Dano, Urteil vom 11.11.2014 - C-333/13, zitiert nach curia.europa.eu, RdNr. 83).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, §
177 SGG.