Zahlung von Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs nach SGB II
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör
Fristgemäße Möglichkeit und Zumutbarkeit der Erfüllung einer gerichtlich geforderten Mitwirkungshandlung
Sozialgerichtliche Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts
Gründe
I.
Die Antragsteller beantragten mit am 29.10.2015 bei dem Sozialgericht Dortmund eingegangenen Schriftsatz, den Antragsgegner
im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs nach dem SGB II zu zahlen. Vorausgegangen war eine Aufhebung einer Leistungsbewilligung durch den Antragsgegner (Bescheid vom 19.10.2015).
Zugleich beantragten sie Prozesskostenhilfe für dieses Verfahren und fügten eine vollständig ausgefüllte Erklärung über die
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, Kontoauszüge von August 2015 bis Oktober 2015, die Kopie eines Arbeitsvertrags
der Antragstellerin zu 1) sowie deren Lohnabrechnung für September 2015 bei.
Mit Verfügung vom 29.10.2015, die am 30.10.2015 (Freitag) von der Geschäftsstelle ausgeführt wurde, forderte der Kammervorsitzende
von den Antragstellern u.a. Lohn- und Gehaltsabrechnungen vom 01.08.2015 "bis laufend", ungeschwärzte, vollständige Kontoauszüge
"vom 01.08.2015 bis laufend" sowie eine aktuelle tabellarische Aufstellung über vorhandenes Vermögen. Den Antragstellern wurde
- ohne weitere Hinweise - eine Erledigungsfrist bis zum 04.11.2015 (Mittwoch) gesetzt.
Mit Beschluss vom 05.11.2015 (Donnerstag) lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und
die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Nach verständiger Würdigung des Antragsbegehrens gehe das Gericht davon aus, dass
die anwaltlich vertretenen Antragsteller nicht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen den Aufhebungsbescheid
vom 19.10.2015 nach §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG, sondern den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §
86b Abs.
2 SGG begehren. Es könne dahinstehen, ob der so ausgelegte Antrag statthaft sei. Jedenfalls sei es den Antragstellern nicht gelungen,
einen Anordnungsgrund glaubhaft zu machen. Die Zweifel an der Eilbedürftigkeit seien in erster Linie auf das Verhalten der
Antragsteller im Prozess zurückzuführen. Die Antragsteller betrieben das Eilverfahren nur schleppend. Sie verzögerten selbst
eine zeitnahe evtl. für sie günstige Entscheidung, indem sie ohne eine nachvollziehbare Begründung die der Verfahrensbeschleunigung
dienenden Verfügungen des Gerichts nicht erledigten. Die Antragsteller hätten auf die Verfügung des Kammervorsitzenden vom
29.10.2015 nicht reagiert. Die Kammer verkenne nicht, dass die Auffassung vertreten werde, das Sozialgericht sei verpflichtet
sicherzustellen, dass die Fristsetzung die Antragsteller zu einem Zeitpunkt erreicht hat, zu dem die Erfüllung der geforderten
Mitwirkungshandlung noch fristgemäß möglich und zumutbar war und das Sozialgericht, wenn es den Zeitpunkt der Bekanntgabe
nicht sicher feststellen kann, verpflichtet sei, die Antragsteller an die Erledigung der Auflage zu erinnern. Diese Auffassung
des (erkennenden) 7. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen sei im Beschluss vom 07.05.2015 (L 7 AS 576/15 B ER) nicht näher begründet worden. Die Kammer teile diese Auffassung nicht. Abgesehen davon, dass unklar sei, was genau
der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen unter der von ihm verlangten Sicherstellung verstehen wolle, sei die Kammer der Auffassung,
dass die vom 7. Senat des LSG wohl als einzig vertretbar erachtete Vorgehensweise mit der Natur des einstweiligen Rechtsschutzes
kaum zu vereinbaren sei.
Am 09.11.2015 sind mit Schriftsatz vom 03.11.2015 abgesandte Unterlagen, die mit den bereits im Prozesskostenhilfeverfahren
eingereichten Unterlagen identisch sind, nochmals beim Sozialgericht eingegangen. Eine Vermögensaufstellung könne nicht erfolgen,
weil kein Vermögen vorhanden sei. Eine Verwertung dieser dem Kammervorsitzenden am 09.11.2015 vorgelegten Unterlagen für das
Verfahren ist nicht erfolgt.
Am 18.11.2015 haben die Antragsteller Beschwerde eingelegt und zusammengefasst vorgetragen, die Erfüllung der gerichtlichen
Auflagen seien in der gesetzten Frist nicht möglich gewesen; sie seien hilfebedürftig.
II.
Die zulässige Beschwerde ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung in entsprechender Anwendung von §
159 Abs.
1 Nr.
2 SGG begründet.
1) Auch in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist in entsprechender Anwendung von §
159 SGG eine Zurückverweisung zulässig (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.08.2014 - L 19 AS 1341/14 B ER; Sächsisches LSG, Beschluss vom 30.07.2014 - L 3 AS 796/14 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 18.11.2011 - L 5 KR 202/11 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25.03.2009 - L 3 AS 148/09 B ER; zurückhaltend im Hinblick auf Eilbedürftigkeit und Vorläufigkeit der Verfahren Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte,
SGG, 2. Aufl., §
159 Rn. 3).
2) Das Verfahren vor dem Sozialgericht leidet an einem wesentlichen Mangel im Sinne dieser Vorschrift.
a) Das Vorgehen des Sozialgerichts verletzt den Anspruch der Antragsteller auf rechtliches Gehör (§
62 SGG).
Der im
Grundgesetz verankerte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen
Verfahrens. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des gerichtlichen Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung,
die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Art.
103 Abs.
1 GG, §
62 SGG garantieren den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren daher, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen
Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern (ständige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung,
vergl. nur BVerfG, Beschluss vom 29.05.1991 - 1 BvR 1383/90).
Der Anspruch auf rechtliches Gehör gilt (selbstverständlich) auch im sozialgerichtlichen Eilverfahren (LSG Hessen, Beschluss
vom 23.01.20017 - L 9 SO 97/06 ER). Zwar ist die Setzung von Fristen nicht ausgeschlossen und gerade in Eilverfahren oft sachgerecht
und zielführend (Wolff-Dellen, in: Breitkreuz/Fichte,
SGG, 2. Aufl., §
62 Rn. 20). Wie der Senat bereits ausgeführt hat (Beschluss vom 07.05.2015 - L 7 AS 576/15 B ER), ist das Sozialgericht, wenn es einen Anordnungsgrund wegen des fruchtlosen Ablaufs einer vom Vorsitzenden gesetzten
Frist verneinen will, jedoch verpflichtet sicherzustellen, dass die Fristsetzung den Antragsteller zu einem Zeitpunkt erreicht
hat, zu dem die Erfüllung der geforderten Mitwirkungshandlungen noch fristgemäß möglich und zumutbar war.
Dies schließt nicht nur aus, an den fruchtlosen Ablauf einer dem Beteiligten gar nicht bekannten Frist negative Rechtsfolgen
zu knüpfen (so der Sachverhalt, der der vom Sozialgericht zitierten Entscheidung des Senats vom 07.05.2015 - L 7 AS 576/15 B zugrunde lag), sondern auch unzumutbar kurze Fristen zu setzen, die auch bei Anwendung der gebotenen (ggfs. anwaltlichen)
Sorgfalt nicht sicher ausreichend sind. Die hier vom Kammervorsitzenden gesetzte Frist war unzumutbar kurz. Die am Freitag,
dem 30.10.2015 per Fax abgesandte Fristsetzung hat den Bevollmächtigten der Antragsteller am selben Tag erreicht. Der Bevollmächtigte
hatte damit nur zwei volle Arbeitstage zur Verfügung, um die Auflagen des Gerichts zu erfüllen, da die Rückantwort spätestens
am 03.11.2015 hätte zur Post gegeben werden oder am 04.11.2015 per Fax hätte übermittelt werden müssen, um das Gericht fristgerecht
zu erreichen. Dies dürfte in den meisten Fällen unzumutbar sein, gilt aber besonders, wenn - wie hier - fünf Antragsteller
betroffen sind, hinsichtlich derer die gerichtlichen Auflagen erfüllt werden müssen.
Entgegen den Ausführungen des Sozialgerichts in der angefochtenen Entscheidung widerspricht die Verpflichtung, angemessene
Fristen zu setzen, der "Natur des einstweiligen Rechtsschutzes" nicht. Die Natur des einstweiligen Rechtsschutzes liegt nicht
in einer maximal beschleunigten Entscheidung, sondern gem. Art.
19 Abs.
4 GG in der Gewährleistung von effektivem Rechtsschutz, wenn das Abwarten einer Hauptsacheentscheidung für den Betroffenen wegen
eines damit einhergehenden Rechtsverlustes unzumutbar wäre. Droht dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes
eine erhebliche, über den Randbereich hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende
Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher
und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, wenn
nicht ausnahmsweise gewichtige Gründe entgegenstehen. Hierbei muss das Gericht das Verfahrensrecht in einer Weise auslegen
und anwenden, die dem Gebot effektiven Rechtsschutzes Rechnung trägt (ständige Rechtsprechung, vergl. nur BVerfG, Beschlüsse
vom 29.07.2003 - 2 BvR 311/03 und vom 06.08.2014 - 1 BvR 1453/12). Nicht hingegen mit der Natur des einstweiligen Rechtsschutzes vereinbar ist eine Verfahrensgestaltung, bei der nicht die
Rechtswahrung des Betroffenen, sondern die schnelle Erledigung des Rechtsstreites tragend ist. Auch das Interesse an einer
zügigen Entscheidung ist immer am Maßstab des Art.
19 Abs.
4 GG zu messen und kein Selbstzweck.
b) Das Vorgehen des Sozialgerichts verletzt zudem die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts, die unter Berücksichtigung
der Beweismaßstäbe im einstweiligen Rechtsschutzverfahren und der Mitwirkungsobliegenheiten der Antragsteller auch in diesen
Verfahren besteht (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 12.01.2015 - L 11 AS 1310/14 B ER).
3) Aufgrund dieser Verfahrensmängel ist - unter Berücksichtigung der Maßstäbe des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens - ein
umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme iSd §
159 Abs.
1 Nr.
2 SGG notwendig, da eine Aufklärung des dem Eilantrag zugrunde liegenden Sachverhalts bislang vollständig unterblieben ist.
4) Bei der Ausübung seines Ermessens hat der Senat sich unter Berücksichtigung der Prozesswirtschaftlichkeit, des Beschleunigungsgebotes
und der Effektivität des Rechtsschutzes sowie der Einbeziehung der berechtigten Interessen der Antragsteller zur Zurückverweisung
entschieden. Maßgeblich hierfür ist, dass den Antragstellern andernfalls entgegen der gesetzlichen Ausgestaltung des Instanzenzugs
eine Instanz im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entzogen würde, in der ihr Begehren in rechtstaatlicher und prozessordnungsgemäßer
Weise geprüft wird (zu diesem Gesichtspunkt auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25.03.2009 - L 3 AS 148/09 B ER).
5) Bei der Ausgestaltung des wieder eröffneten erstinstanzlichen Verfahrens wird die Kammer auch zu beachten haben, dass die
Auslegung des Begehrens der Antragsteller (ggfs. unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes) keineswegs dazu
zwingt, den Antrag im Hinblick auf ein vorrangiges Verfahren nach §
86b Abs.
1 SGG als unstatthaften Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung anzusehen. Die Antragsteller begehren mindestens auch eine
Leistungszahlung entsprechend der ursprünglichen Bewilligung über den 01.11.2015 hinaus. Wenn dieses Begehren nach der Rechtsauffassung
des Sozialgerichts nur über einen Antrag nach §
86b Abs.
1 SGG zu verfolgen ist, hat es die Voraussetzungen dieser Vorschrift zu prüfen. Nicht zulässig ist es, den Antrag gerade so auszulegen,
dass die Auslegung zur Unstatthaftigkeit führt. Prozessuale Anträge sind vielmehr so auszulegen, dass ein Begehren eines Antragstellers
bzw. Rechtsmittelführers möglichst weitgehend zum Tragen kommt (vgl. BSG, Urteile vom 02.07.2009 - B 14 AS 75/08 R und vom 23.03.2010 - B 14 AS 6/09 R; vgl. zum Klageantrag BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS 8/06 R; Zusammenfassung bei BSG Urteil vom 16.05.2012 - B 4 AS 166/11 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.08.2013 - L 19 AS 1343/12 B). Als beantragt ist dementsprechend alles anzusehen, was nach Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommt. Die Gerichte
haben sich nicht daran zu orientieren, was als Antrag zulässig ist, sondern was begehrt wird, soweit jeder vernünftige Antragsteller
mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung anpassen würde und keine Gründe für ein anderes Verhalten vorliegen.
Auch für die Auslegung von Prozesshandlungen ist die Auslegungsregel des §
133 BGB entsprechend anzuwenden. Danach ist nicht an dem Wortlaut einer Erklärung zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen
und zu berücksichtigen. Dabei muss der für das Gericht und die übrigen Beteiligten erkennbare gesamte Vortrag einschließlich
der Verwaltungsvorgänge herangezogen werden (BSG, Urteil vom 06.04.2011 - B 4 AS 119/10 R mwN; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.08.2013 - L 19 AS 1343/12 B).
Das Sozialgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, seiner Entscheidung zugrunde zu legen
(§
159 Abs.
2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).