Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung
Verfassungsmäßigkeit von § 6 Abs. 3a SGB V
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung hat.
Der am 00.00.1958 geborene Kläger war bis zum 21.07.2001 Mitglied der Beklagten. In der Folgezeit war er bei einem privaten
Versicherungsunternehmen krankenversichert und in den letzten Jahren hauptberuflich selbstständig. Am 04.06.2019 stellte er
bei der Beklagten einen Antrag auf (erneute) Mitgliedschaft. Ab dem 11.06.2019 nehme er eine Arbeitnehmertätigkeit als IT-Mitarbeiter
bei der Firma K GmbH auf.
Mit Bescheid vom 25.06.2019 lehnte Beklagte den Antrag des Klägers unter Berufung auf §
6 Abs
3a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) ab, da dieser bereits das 55. Lebensjahr vollendet habe und vor Beschäftigungsbeginn bei einer privaten Krankenversicherung
versichert gewesen sei.
Zur Begründung des hiergegen am 29.06.2019 eingelegten Widerspruchs trug der Kläger vor, §
6 Abs
3 SGB V verletzte übergeordnetes Recht und sei unwirksam. Es liege ein Verstoß gegen Art
3 des
Grundgesetzes (
GG) vor, da kein nachvollziehbarer Grund für eine Benachteiligung bei Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung aufgrund
seines Lebensalters bestehe. Auch aus § 7 Abs 1 i.V.m. § 1 Allgemeines Gleichbehandlunggesetz (AGG) und den zugrunde liegenden EU-Bestimmungen ergebe sich das Verbot einer Benachteiligung ua aufgrund des Alters.
Mit (weiteren) Bescheid vom 17.09.2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf Mitgliedschaft erneut ab. §
6 Abs
3a SGB V sei vor dem Hintergrund in das Gesetz eingefügt worden, dass versicherungsfreie Personen, die sich frühzeitig für die private
Krankenversicherung entschieden haben, diesem System auch im Alter angehören sollen. Eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes
nach Art
3 GG und entsprechenden EU-Richtlinien sei nicht festzustellen. Der vom Gesetzgeber gewünschte Bezug zur gesetzlichen Krankenversicherung
sei aufgrund privater Krankenversicherung in den letzten Jahren nicht gegeben. Voraussetzung für die Versicherungsfreiheit
sei nicht nur die Vollendung des 55. Lebensjahres, sondern auch die hauptberufliche Selbstständigkeit in mindestens der Hälfte
der letzten fünf Jahre vor Beginn der grundsätzlichen Versicherungspflicht. Diese Voraussetzung sei nach Angaben des Klägers
erfüllt.
Auch hiergegen legte der Kläger am 14.10.2019 Widerspruch ein. Mit Bescheid vom 14.01.2020, der dem Kläger nach seinen Angaben
am 28.01.2020 zugegangen ist, wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Am 24.02.2020 hat der Kläger beim Sozialgericht Dortmund (SG) Klage erhoben und zur Begründung im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt. Ergänzend hat
er ausgeführt, es treffe nicht zu, dass durch §
6 Abs
3a SGB V verhindert werde, dass ältere Person, deren Leistungsbedarf in der Regel die Beiträge erheblich übersteigen, durch einen
Wechsel in die Versicherungspflicht in der gesetzliche Krankenversicherung eintreten können, ohne vorher eigene Beiträge zur
Soziallast geleistet zu haben. Diese Aussage sei schon deshalb falsch, weil gerade durch den Eintritt in die Krankenversicherung
ein Beitrag zur Soziallast geleistet werde. Das Prinzip der deutschen Sozialversicherung basiere überdies nicht auf einem
Anspar- oder Rückstellungsprinzip. Vielmehr würden die aktuellen Ausgaben durch die jeweils aktuellen Einnahmen gedeckt. Es
gehöre zum Grundprinzip der Krankenversicherung, dass die allermeisten Versicherten keine adäquaten Leistungen zu den Beiträgen
erhalten.
Mit Urteil vom 20.04.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß §§
54 Abs
1 S 1 1. Alt, 55 Abs
1 Nr
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) sei zulässig, jedoch unbegründet. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung der Pflichtversicherung in der gesetzlichen
Krankenversicherung. Er sei gemäß §
6 Abs
3a SGB V versicherungsfrei. Nach dieser Vorschrift seien Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig
werden, versicherungsfrei, wenn sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht nicht gesetzlich versichert
waren. Weitere Voraussetzung sei, dass diese Person mindestens die Hälfte dieser Zeit versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht
befreit oder nach §
5 Abs
5 SGB VI nicht versicherungspflichtig war. Diese Voraussetzungen lägen vor. Der Kläger habe nach Vollendung seines 55. Lebensjahres
die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung im Hinblick auf die Aufnahme einer grundsätzlich versicherungspflichtigen
Beschäftigung zum 11.06.2019 beantragt. Er sei in den letzten fünf Jahren vor Eintritt dieser Versicherungspflicht auch nicht
gesetzlich versichert gewesen. Vielmehr sei er als hauptberuflich Selbstständiger nach §
5 Abs
5 SGB V nicht versicherungspflichtig gewesen.
Die durch den Kläger gerügte Abweichung vom AGG könne die Rechtswidrigkeit des §
6 Abs
3a SGB V nicht begründen, da das AGG nicht höherrangiger als das
SGB V und für den vorliegenden Fall nach § 2 Abs 2 AGG auch nicht anwendbar sei. Nach dieser Norm seien ausschließlich die Regeln des SGB (§ 33c Erstes Buch Sozialgesetzbuch und
§ 19a Viertes Buch Sozialgesetzbuch) einschlägig. Jedenfalls handele es sich bei der Regelung in §
6 Abs
3a SGB V allenfalls um eine mittelbare Benachteiligung im Sinne von § 3 Abs 2 AGG. Diese sei durch ein sachliches Ziel iSd § 3 Abs 2 AGG gerechtfertigt. Sinn der Regelung sei der Schutz der Solidargemeinschaft vor missbräuchlichem Zugang. Personen, die sich
frühzeitig für eine Absicherung in der privaten Krankenversicherung entschieden haben, sollten dieser auch im Alter angehören.
Auch eine Verletzung von Art
3 GG habe die Kammer nicht zu erkennen vermocht. Ein Verstoß gegen Art
3 Abs
1 GG liege nur dann vor, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt werde, obwohl
zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen
könnten. Der Gleichheitssatz setze dem Gesetzgeber umso engere Grenzen, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen
oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken könne. Außerhalb dieses Bereichs
lasse er dem Gesetzgeber weitgehende Freiheit, Lebenssachverhalte je nach dem Regelungszusammenhang verschieden zu behandeln.
Unter Beachtung dessen, dass es sich bei der Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen
Krankenversicherung um einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang handele, könne der Gesetzgeber den Kreis der Pflichtversicherten
so abgrenzen, wie es für die Begründung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft erforderlich ist. Die Grenze bilde insoweit
allein das Willkürverbot, dh wenn sich für die Ungleichbehandlung kein in einem angemessenen Verhältnis zu dem Grad der Ungleichbehandlung
stehender Rechtfertigungsgrund finden lasse. Der Gesetzgeber habe vorliegend nur den Grundsatz gestärkt, dass versicherungsfreie
Personen, die sich frühzeitig für eine Absicherung in der privaten Krankenversicherung entschieden haben, diesem System auch
im Alter angehören sollen. Dem Gesetzgeber sei es durch Art
3 Abs
1 GG nicht verwehrt, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtagsregelungen einzuführen, obwohl jeder Stichtag unvermeidbar
gewisse Härten mit sich bringe. Voraussetzung sei, dass die Einführung eines Stichtags notwendig ist und dass sich die Wahl
des Zeitpunktes am gegebenen Sachverhalt orientiert und damit sachlich vertretbar ist. Der sachliche Grund für eine solche
Differenzierung sei der Schutz der Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung vor einer unzumutbaren Belastung infolge
eines Wechsels zwischen den Versicherungssystemen speziell in Zeiten, in denen, wie im Alter, typischerweise höhere Leistungen
der gesetzlichen Krankenversicherung abgefragt werden.
Gegen das am 07.05.2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 06.06.2021 Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholt er sein
bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, er sei durch die private Krankenversicherung nicht über Nachteile einer solchen
Versicherung umfassend aufgeklärt worden. Auch fühle er sich gegenüber Engländern, die nach seiner Kenntnis auch nach dem
55. Lebensjahr noch gesetzlich krankenversichert werden können, benachteiligt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 20.04.2021 zu ändern sowie die Bescheide der Beklagten vom 25.06.2019 und 17.09.2019
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.01.2020 aufzuheben und festzustellen, dass er ab dem 11.06.2019 als Arbeitnehmer
bei der Beklagten pflichtversichert ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für rechtmäßig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte der
Beklagten sowie der beigezogenen Akte des SG zu dem Verfahren S 13 KR 583/21 verwiesen, der Gegenstand der Entscheidung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung, über die der Berichterstatter mit Zustimmung der Beteiligten gemäß §
155 Abs.
3 und
4 i.V.m. §
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) anstelle des Senats ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Bescheide vom 25.06.2019 und 07.09.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
14.01.2020 sind rechtmäßig. Die Beklagte hat den Antrag des Klägers auf Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung zu
Recht abgelehnt. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung, dass er ab dem 11.06.2019 als Arbeitnehmer bei der
Beklagten pflichtversichert ist.
Zur Begründung nimmt der Senat nach §
153 Abs
2 SGG auf die unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sorgfältig begründete angefochtene Entscheidung
Bezug und sieht im Wesentlichen von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Das SG hat zutreffend dargelegt, dass ein Verstoß gegen Art
3 Abs
1 GG nur in Betracht kommt, wenn willkürlich wesentlich Gleiches ungleich bzw wesentlich Ungleiches gleich behandelt wird, ohne
dass Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die (Un)gleichbehandlung rechtfertigen könnten. Außerhalb
dieses Bereichs hat der Gesetzgeber weitgehende Freiheit, Lebenssachverhalte je nach dem Regelungszusammenhang verschieden
zu behandeln. Die in § 6a
SGB V getroffene Regelung ist durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Da es sich bei der Sicherung der finanziellen Stabilität und
damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung um einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang handelt,
kann der Gesetzgeber den Kreis der Pflichtversicherten so abgrenzen, wie es für die Begründung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft
erforderlich ist. Mit den Beschränkungen des §
6 Abs
3a SGB V hat der Gesetzgeber im Rahmen seines weiten Ermessensspielraums zum Schutz der Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten
eine klare Abgrenzung zwischen der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung vorgenommen und den bereits in den für
eine Pflichtmitgliedschaft als Rentner (§
5 Abs
1 Nr
11 SGB V) oder für den freiwilligen Beitritt (§
9 Abs
1 Nr
1 SGB V) gesetzlich geforderten Vorversicherungszeiten zum Ausdruck kommenden Grundsatz gestärkt, dass versicherungsfreie Personen,
die sich frühzeitig für eine Absicherung in der privaten Krankenversicherung entschieden haben, diesem System auch im Alter
angehören sollen. Angesichts des verfassungsrechtlich zulässigen Ziels, die Beitragszahler vor einer unzumutbaren Belastung
infolge eines Wechsels zwischen den Versicherungssystemen der privaten und gesetzlichen Krankenversicherung zu schützen, ist
es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn nach §
6 Abs
3 S 2 und 3
SGB V demgegenüber versicherungsfrei sein soll, wer der Sphäre der privaten Krankenversicherung zu zuordnen ist und gerade nicht
über einen ausreichenden Bezug zur gesetzlichen Krankenversicherung verfügt (vgl hierzu zusammenfassend LSG NRW, Urteil vom
09.05.2019 - L 5 KR 658/18 - in juris - Rn 41 f mwN).
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die Regelung nicht alleine an das Lebensalter, sondern an eine Reihe
von Tatbestandsmerkmalen anknüpft, die kumulativ vorliegen müssen (vgl Felix in juris PK-
SGB V, 4. Aufl. 2020, §
6 Rn 67). Der Versicherungsfreiheit des §
6 Abs
3a SGB V setzt nach S 2 voraus, dass die betroffene Person mindestens die Hälfte der in S 1 genannten fünf Jahre versicherungsfrei
(§§
6 und
7 SGB V), von der Versicherungspflicht befreit (§
8 SGB V) oder - wie der Kläger - als Selbstständiger gemäß §
5 Abs
5 SGB V nicht versicherungspflichtig war. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen von §
6 Abs
3a S 1
SGB V Langzeitarbeitslose, die nach Bezug von Sozialhilfe eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen, ebenso wenig betroffen
sein Entwicklungshelfer, die nach längerem Auslandsaufenthalt zurück nach Deutschland kommen, oder Ausländer, die nach Erreichen
der maßgeblichen Altersgrenze von 55 Jahren erstmals in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt sind. Durch §
6 Abs
3a S. 2
SGB V soll daher offensichtlich sichergestellt werden, dass nur diejenigen älteren Menschen, die sich in jungen Jahren bewusst
und gewollt für einen Krankenversicherungsschutz in der privaten Krankenversicherung entschieden haben, diese auch im Alter
beibehalten (vgl Felix, aaO, Rn 69).
Insofern ergibt sich ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber englischen Staatsbürgern daraus,
dass diese bei erstmaliger Aufnahme einer versicherungspflichtigen Tätigkeit im Bundesgebiet nach Vollendung des 55. Lebensjahres
zuvor - anders als der Kläger - gar keine Möglichkeit hatten, Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung zu werden.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aufgrund des weiteren Vortrags des Klägers mit der Berufung. Er kann sich gegenüber der
Beklagten nicht darauf berufen, dass die private Krankenversicherung ihn nicht über die Nachteile dieser Versicherung im Alter
informiert hat, da ein etwaiges entsprechendes Versäumnis der privaten Versicherung der Beklagten nicht zuzurechnen wäre.
Zudem geht der Senat davon aus, dass der Kläger auch schon im Jahr 2001 die tatsächliche Möglichkeit hatte, sich über Vor-
und/oder Nachteile der privaten im Verhältnis zur gesetzlichen Krankenversicherung zu informieren .Dass er dies nach eigenem
Vortrag unterlassen hat, ist nicht der Beklagten und schon gar nicht der Versichertengemeinschaft anzulasten.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Anlass zur Zulassung der Revision besteht nicht, da die Voraussetzungen gemäß §
160 Abs
2 SGG nicht erfüllt sind.