Anspruch eines behinderten Menschen auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für die Betreuung in einer Pflegefamilie
Anforderungen an das Vorliegen einer über die reine Erziehung hinausgehenden Förderung
Tatbestand
Der Kläger begehrt Eingliederungshilfe in Form der Bewilligung einer Betreuung in einer Pflegefamilie von Januar 2015 bis
einschließlich Juni 2018.
Bei dem am 00.00.1988 geborenen Kläger besteht seit seiner Geburt eine Neurofibromatose Typ 1 mit erheblicher psychomotorischer
und psychosozialer Retardation, grob- und feinmotorischen Störungen, Koordinations-, Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen
sowie Sprach- und emotionalen Störungen und einer geistigen Behinderung ("Morbus Recklinghausen"). Bei ihm sind ein GdB von
100 sowie die Merkzeichen G, B und H anerkannt. Im streitigen Zeitraum bezog der Kläger von der Stadt Aachen fortlaufend Grundsicherung
nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (Regelbedarf, Mehrbedarf nach § 42 Nr. 2 SGB XII wegen Erwerbsminderung, Kosten der Unterkunft, Heizkosten) sowie Pflegegeld iHv 430 € von der Pflegekasse nach Pflegegrad
2.
Der Kläger lebte seit seiner Geburt bei Familie A. Seit dem 01.07.2018 lebt er in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung.
Die beigeladene Pflegemutter, Frau L A, ist seine Betreuerin. Sie ist ausgebildete Sozialpädagogin und Sprachtherapeutin.
Vom Jugendamt der Stadt Aachen ist sie als Erziehungsstelle iSd SGB VIII anerkannt. Der Kläger besuchte bis zum Schuljahresende 2006/2007 eine Förderschule für Menschen mit geistiger Behinderung
in Aachen. Seit September 2007 befindet sich der Kläger in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Mit Bescheid vom
08.01.2010 bewilligte der Beigeladene Leistungen zur Ausübung einer Beschäftigung durch Aufnahme des Klägers in den Arbeitsbereich
der WfbM. Darüber hinaus erhielt der Kläger von der Beklagten Eingliederungshilfeleistungen in Form unterstützender Leistungen
in einem Umfang von 2 mal 2 Wochenstunden zur Betreuung und Begleitung bei seinen Freizeitaktivitäten.
Der Kläger erhielt zunächst Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII von der Stadt Aachen (Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII, nach Eintritt der Volljährigkeit i.V.m. § 41 SGB VIII als Hilfe für junge Volljährige). Mit Schreiben vom 10.08.2008 wandte die Beigeladene sich unter dem Betreff "Übernahme Unterbringungskosten
für B K" an den Beigeladenen und schrieb "heute wende ich mich an Sie mit dem Antrag auf Übernahme der o.g. Kosten". Sie schilderte
die Pflegesituation und bat um Prüfung, ob im Rahmen des Modellprojekts "Wohnen geistig behinderter Kinder und Jugendlicher
in Pflegefamilien" eine Übernahme der Unterbringungskosten bei ihr durch den Beigeladenen möglich ist. Mit Schreiben vom 17.02.2009
teilte der Beigeladene dem Kläger mit, das Modellprojekt werde in Aachen nicht angeboten und beziehe sich ohnehin nur auf
die Betreuung Minderjähriger. Was die Möglichkeiten anderer betreuter Wohnformen angehe, solle sich die Beigeladene an eine
Beratungsstelle wenden. Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält das Schreiben nicht.
Den am 01.07.2010 gestellten Weiterbewilligungsantrag hinsichtlich der Jugendhilfeleistungen leitete die Stadt Aachen am 14.07.2010
per Fax an die Beklagte weiter. Mit Bescheid vom 14.07.2010 lehnte die Stadt Aachen die Weiterbewilligung der Kinder- und
Jugendhilfeleistungen ab. In dem anschließenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren VG Aachen 2 L 328/10 bewilligte die Stadt Aachen die Leistung bis zum 31.07.2010 weiter. Das VG Aachen lud die hiesige Beklagte bei. Mit Beschluss
vom 17.12.2010 lehnte das VG den gegen die Stadt Aachen gerichteten einstweiligen Rechtsschutzantrag ab. Für die begehrte
Hilfe für geistig behinderte Erwachsene sei nicht "die Jugendhilfe, sondern die Sozialhilfe zuständig". Für die Erbringung
der Leistung als Kinder- und Jugendhilfe an Erwachsene sei eine Rechtsgrundlage nicht vorhanden, die Stadt habe den Antrag
iSd §
14 SGB IX rechtzeitig an die hiesige Beklagte weitergeleitet. Diese sei durch die fristgerechte Verweisung zur Leistung von Eingliederungshilfe
verpflichtet. Die ebenfalls gegen die Stadt Aachen erhobene Klage 2 K 1449/10 nahm der Kläger daraufhin zurück.
Am 20.01.2011 beantragte der Kläger die Fortsetzung der bislang nach dem SGB VIII erbrachten Vollzeitpflege bei Familie A als Leistung der Eingliederungshilfe nunmehr bei der Beklagten. Diese bewilligte
dem Kläger daraufhin fortlaufend (Bescheide vom 19.04.2011, vom 02.04.2013, vom 09.04.2013 und vom 05.09.2013) monatlich 739,70
€ Eingliederungshilfe für eine Betreuung des Klägers in der Familie A als Leistung der Eingliederungshilfe. In dem Bescheid
vom 05.09.2013 führt die Beklagte aus, ein Übergang in eine betreute Wohnform werde angestrebt, bislang sei jedoch kein freier
Platz vorhanden. Die Übergangszeit wolle die Pflegemutter nutzen, um die erzieherische Begleitung fortzuführen und weiter
an der Selbständigkeit des Klägers zu arbeiten, damit dieser künftig befähigt sei, in dem deutlich weniger betreuungsintensiven
Umfeld einer stationären Einrichtung der Eingliederungshilfe zurechtzukommen. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass die erforderliche
umfangreiche Hilfe zu den bisherigen Bedingungen weitergewährt werde. Dies erfordere zusätzlich die Zahlung eines Pflegegeldes
für den Betreuungsaufwand iHv 663,70 € (dreifacher Satz für die Kosten der Erziehung bzw. Vollzeitpflege in Anlehnung an die
Beträge gem. § 39 SGB VIII iHv 219 € = 657 € + Beiträge UV = 6,70; einschließlich der Leistungen für die Altersvorsorge iHv 76 € ergibt sich ein Gesamtbetrag
iHv 739,70 €).
Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 01.07.2014 bewilligte die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 21.11.2014 Eingliederungshilfe
iHv 739,70 € monatlich bis zum 31.12.2014. Der Kläger sei bereits seit dem 21.09.2006 volljährig und damit nicht mehr Kind
oder Jugendlicher iS des Gesetzes. Aus Vertrauensschutzgründen sei eine Weiterbewilligung bis zum 31.12.2014 erfolgt. In Abgrenzung
zu der noch mit dem Bescheid vom 05.09.2013 anerkannten Eingliederungsleistung durch die Pflegemutter führte die Beklagte
nunmehr aus, der Kläger sei auf das Modellprojekt "Leben in Gastfamilien" (LiGA) des Beigeladenen zu verweisen. Dieses gehöre
zum ambulant betreuten Wohnen, zusätzlich zur Gastfamilie erfolge eine Betreuung über einen anerkannten Anbieter des ambulant
betreuten Wohnens ins Aachen. Die Beklagte fügte einen entsprechenden Flyer bei. Den am 08.12.2014 eingelegten Widerspruch
wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23.06.2015 zurück.
Hiergegen richtet sich die am 15.07.2015 beim Sozialgericht Aachen erhobene Klage. Der im SGB VIII anerkannte Grundsatz der Hilfekontinuität müsse auch im SGB XII Anwendung finden, weshalb die Leistung nicht habe eingestellt werden dürfen. Da der Kläger nicht mehr Kind oder Jugendlicher
sei, müsse die begehrte Leistung als Leistung zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten iSd §
55 Abs.
2 Nr.
6 SGB IX aF erbracht werden.
Der Kläger hat beantragt:
"den Bescheid vom 21.11.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2015 abzuändern und die Kosten für die dem
Kläger ab dem 01.01.2015 bis 30.06.2018 geleistete Vollzeitpflege in der Pflegefamilie A als Eingliederungshilfe in Form von
Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten zu übernehmen".
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat an ihrer dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegenden Rechtsauffassung festgehalten.
Mit Urteil vom 28.09.2018 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Beklagte sei zwar nach §
14 SGB IX für die Erbringung der Eingliederungshilfe zuständig. Der Kläger habe jedoch keinen Anspruch nach § 54 Abs. 3 SGB XII, da er kein Kind oder Jugendlicher sei. Der Grundsatz der Hilfekontinuität führe nicht zu einer Anspruchsbegründung. Der
Anspruch könne auch nicht auf §
55 Abs.
2 Nr.
6 SGB IX aF gestützt werden. Zweifelhaft sei bereits, ob sich die erbrachte Vollzeitpflege als Leistung des ambulant betreuten Wohnens
auffassen lasse. Im Ergebnis können dies dahinstehen, denn wie sich aus der finalen Struktur des §
55 Abs.
2 Nr.
6 SGB IX aF ergebe, bestehe das Ziel der Leistungen beim ambulant betreuten Wohnen in der Verselbständigung der Lebensführung des
behinderten Menschen in seinem eigenen Wohn- und Lebensumfeld (Bezugnahme auf BSG Urteil vom 30.06.2016 - B 8 SO 7/15 R). Im vorliegenden Fall seien die von der Pflegefamilie A erbrachten Betreuungsleistungen
erkennbar nicht auf eine Verselbständigung der Lebensführung des Klägers in seinem Wohnumfeld gerichtet gewesen.
Gegen das ihm am 06.12.2018 zugestellte Urteil richtet sich die am 13.12.2018 erhobene Berufung des Klägers. Die in der Familie
A geleistete Betreuung stelle eine Hilfe zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben dar. Zum 01.01.2015 hätte
sich keinerlei Änderung in der Bedarfssituation ergeben. Die Ablehnung von Leistungen ab diesem Zeitpunkt verletze den Grundsatz
der Hilfekontinuität. Die Pflegemutter habe weiterhin den gesamten Hilfebedarf des Klägers abgedeckt, es sei nicht einzusehen,
dass dies ab Januar 2015 ohne jegliche Vergütung geschehen solle. Soweit die Beklagte dem Kläger eine Teilnahme an ihrem Programm
"Leben in Gastfamilien" angeboten habe, gehe dies am Bedarf des Klägers vorbei, da eine besondere fachliche Qualifikation
der Gastfamilien nicht gefordert sei, die bei der Pflegmutter indes vorhanden sei. Zudem sei das Wunsch- und Wahlrecht des
Klägers nach § 9 SGB XII zu beachten. Die zur Pflegefamilie aufgebaute Bindung, die zu einer Gastfamilie nicht bestehe, sei insoweit ein zu beachtender
Gesichtspunkt. Die Pflegemutter habe über den ganzen Zeitraum pädagogische Leistungen erbracht, mit denen sie die Teilhabe
des Klägers sichergestellt habe. Daher seien entweder die Beklagte oder aufgrund des Antrags vom 10.08.2008 der Beigeladene
zur Erbringung der beantragten Leistung verpflichtet.
Im Wege der Klageänderung hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung mit Einverständnis der übrigen Beteiligten sein Begehren
beziffert und einen monatlichen Betrag iHv 739,70 € verlangt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28.09.2018 zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 21.11.2014
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2015 oder den Beigeladenen zu verpflichten, für die Zeit vom 01.01.2015
bis zum 30.06.2018 Leistungen der Vollzeitpflege in der Pflegefamilie A als Eingliederungshilfe iHv 739,70 € monatlich zu
gewähren
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Sie habe bereits im Bescheid vom 21.11.2014 auf das Projekt des Beigeladenen
"Leben in Gastfamilien (LiGA)" hingewiesen, eine Teilnahme hieran sei vom Kläger abgelehnt worden. Der Kläger habe konkrete
Bedarfe zu benennen, die der Eingliederungshilfe zuzuordnen seien, so dass dann eine entsprechende Hilfeplanung vorgenommen
und geprüft werden könne, ob entsprechende Hilfen in der Pflegefamilie geleistet werden können. Eine analoge Anwendung der
jugendhilferechtlichen Bestimmungen komme bei erwachsenen behinderten Menschen nicht in Betracht. Es wäre systemwidrig, wenn
nach Vollendung des 21. Lebensjahres Geldleistungen in gleicher Höhe wie zuvor zur Verfügung gestellt würden (Bezugnahme auf
LSG Baden-Württemberg Urteil vom 23.04.2015 - L 7 SO 308/14, LSG Schleswig-Holstein Urteil vom 09.03.2011 - L 9 SO 21/09).
Der Grundsatz der Hilfekontinuität könne nicht auf die Sozialhilfe übertragen werden. Der Umstand, dass bis zum 31.12.2014
unter Nichtbeachtung der Rechtslage Leistungen erbracht wurden, führe nicht zu einer abweichenden Bewertung, ein Anspruch
auf Fehlerwiederholung bestehe nicht. Angesichts der Offenheit des Leistungskatalogs des § 54 SGB XII könne der Eingliederungshilfeanspruch auch Familienpflege umfassen. Voraussetzung wäre dann jedoch, dass von der Pflegmutter
Leistungen erbracht worden sind, die als Hilfe zu einem selbstbestimmten Wohnen in betreuten Wohnmöglichkeiten zu bezeichnen
seien. Das Wohnen in einer Pflegefamilie, in der der erwachsene Mensch mit Behinderung schon als Kind gelebt hat, sei nach
der Rechtsprechung in der Regel nicht als betreutes Wohnen in diesem Sinne anzusehen, da im Vordergrund nicht die Förderung
der Selbständigkeit stehe, sondern "das Verschaffen eines Familienersatzes". Aus den Ausführungen des Klägers, insbesondere
seiner Ablehnung einer Teilnahme an dem Projekt LiGA, werde deutlich, dass es ihm gerade nicht um die Förderung seiner Selbständigkeit
außerhalb seiner Familie, sondern um den Erhalt der Familienpflege gehe. Insgesamt setze eine behinderungsbedingte Eingliederungsleistung
voraus, dass eine über die Erziehung und Pflege hinausgehende qualitative Betreuung erfolge, die dem Pflegekind das Leben
in der Gemeinschaft außerhalb seiner Familie ermöglichen soll (Bezugnahme auf BSG Urteil vom 25.09.2014 - B 8 SO 7/13 R).
Der Beigeladene hat keinen ausdrücklichen Antrag gestellt, aber ausgeführt, gem. §
14 SGB IX sei die Beklagte zuständig, da die Stadt Aachen den Antrag rechtzeitig weitergeleitet habe. Der Antrag vom 10.08.2008 habe
sich aufgrund der jahrelangen Übernahme der Leistungserbringung durch die Beklagte erledigt. Er sei auch sachlich für die
begehrte Leistung nicht zuständig.
Die Beigeladene hat keine Ausführungen gemacht.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte
sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und des Beigeladenen verwiesen, derer wesentlicher Inhalt Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Verurteilung des Beigeladenen (§
75 Abs.
5 SGG) begründet. Das Sozialgericht hat die Klage insoweit zu Unrecht abgewiesen, wobei eine Beiladung und Verurteilung des Beigeladenen
noch im Berufungsverfahren zulässig ist (BSG Urteil vom 29.09.2009 - B 8 SO 19/08 R).
1) Streitgegenstand des Verfahrens ist ein Anspruch des Klägers, der zutreffend durch die Beigeladene als seine gerichtlich
bestellte Betreuerin vertreten wird, auf Bewilligung von Eingliederungshilfe in Form der Betreuung in der Pflegefamilie A
vom 01.01.2015 bis zum 30.06.2018. Der streitige Zeitraum ist antragsgemäß begrenzt, weil der Kläger die Leistungen bis zum
31.12.2014 erhalten hat und sich ab 01.07.2018 in einer betreuten Wohngruppe befindet und hierfür Eingliederungshilfe erhält.
2) Der Beigeladene ist für die Leistungserbringung zuständig. Dieser ist iSd §
14 Abs.
2 Satz 1
SGB IX erstangegangener Rehabilitationsträger.
Es kann im vorliegenden Verfahren offen bleiben, ob die vom Kläger bei der Stadt Aachen im Zusammenhang mit den Kinder- und
Jugendhilfeleistungen gestellten Anträge als Anträge auf Teilhabeleistungen der Eingliederungshilfe anzusehen sind. Zu unterscheiden
ist zwischen familiärer Pflege als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe einerseits und behinderungsbedingter Eingliederungshilfe,
die eine über die reine Erziehung hinausgehende Förderung verlangt, andererseits (BSG Urteil vom 24.09.2014 - B 8 SO 7/13 R). Ein Antrag auf familiäre Vollzeitpflege iSd SGB VIII allein ist daher nicht als Eingliederungshilfeantrag auszulegen, wenn nicht zugleich ein über die familiäre Pflege hinausgehender
Eingliederungsbedarf geltend gemacht wird.
Es bedarf keiner Entscheidung, ob der Kläger zum damaligen Zeitpunkt auch einen Eingliederungsbedarf geltend gemacht hat,
denn das Ende der Erziehungsbedürftigkeit ist eine wesentliche Änderung der Bedarfssituation. Zu diesem Zeitpunkt war die
Stadt Aachen nicht mehr erstangegangener Reha-Träger iSd §
14 SGB IX, sondern der Beigeladene (dazu sogleich). Grundsätzlich führt ein Folgeantrag bei einem einheitlichen Leistungsfall ausgehend
von dem zu deckenden Bedarf zwar nicht zur erneuten Begründung der Zuständigkeit nach §
14 SGB IX. Denn es handelt sich dabei nicht um eine für die Frage der Zuständigkeit im Rahmen des §
14 SGB IX maßgebliche Zäsur (BSG Urteil vom 04.04.2019 - B 8 SO 12/17 R). Jedoch ist das Ende der Erziehungsbedürftigkeit des Klägers als eine Zäsur anzusehen,
so dass der ab diesem Zeitpunkt zu deckende Bedarf einen neuen Leistungsfall darstellt. Der Kläger hat mit Schreiben vom 10.08.2008
und damit lange vor der Weiterleitung des jetzt maßgeblichen Antrags beim Beigeladenen die Kostenübernahme für eine Betreuung
in der Pflegefamilie nach dem Ende der Erziehungsbedürftigkeit beantragt. Der Beigeladene hat diesem Antrag zwar nicht entsprochen,
ihn aber auch nicht in Form eines bestandskraftfähigen Bescheides abgelehnt. Bei dem Schreiben des Beigeladenen vom 17.02.2009
handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt. Abgesehen davon würde auch ein Ablehnungsbescheid einer Verurteilung des Beigeladenen
nicht entgegenstehen, da dies für die nach §
14 SGB IX begründete Zuständigkeit unbeachtlich ist (Ulrich in JurisPK
SGB IX §
14 Rn. 96) und sich der jetzt geltend gemachte Anspruch auf Zeiträume lange nach dem Schreiben vom 17.02.2009 bezieht. Entsprechend
dem Schutzzweck des §
14 SGB IX ist es zudem naheliegend, die einer Verurteilung nach §
75 Abs.
5 SGG entgegenstehende Wirkung eines bestandskräftigen Ablehnungsbescheides nicht auf Fälle der Geltendmachung von Rehabilitationsleistungen
zu übertragen (BSG Urteil vom 29.09.2009 - B 8 SO 19/08 R).
Für die Annahme des Beigeladenen, der Antrag habe sich aufgrund der Umstände des Falles erledigt, gibt es keine Rechtsgrundlage.
Eine Übernahme des Leistungsfalls durch den evtl. vorrangig verpflichteten Rehabilitationsträger ist ausgeschlossen (BSG Urteil vom 04.04.2019 - B 8 SO 11/17 R). Da sich der eigentliche Leistungsfall, ausgehend von dem zu deckenden Bedarf (Betreuung
in einer Pflegefamilie nach dem Ende der Erziehungsbedürftigkeit) in dem streitigen Zeitraum seit dem 10.08.2008 nicht geändert
hatte, waren weder die Stadt Aachen noch die Beklagte berechtigt, auf den Folgeantrag vom 01.07.2010 ihre Zuständigkeit zu
prüfen bzw. den Antrag iS des §
14 SGB IX zuständigkeitsbegründend weiterzuleiten. Auch die zeitabschnittsweisen Bewilligungen begründen in der Sache keine für die
Frage der Zuständigkeit im Rahmen des §
14 SGB IX maßgeblichen Zäsuren. Eine Zäsur tritt erst ein, wenn das Teilhabeziel erreicht und die Rehabilitationsmaßnahme abgeschlossen
ist (BSG Urteil vom 04.04.2019 - B 8 SO 11/17 R), was hier (frühestens) mit der Aufnahme des Klägers in die stationäre Einrichtung
der Fall gewesen ist.
3) Der angefochtene Ablehnungsbescheid ist weiter wirksam. Der Bescheid hat sich nicht durch die mit Wirkung vom 01.01.2020
erfolgte Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgerecht des SGB XII und seine Überführung in das
SGB IX und die Zuständigkeitsregelung in §
6 Abs.
1 Nr.
7 SGB IX, wonach für die von der Klägerin begehrte Leistung nunmehr die Träger der Eingliederungshilfe und nicht mehr die Träger der
Sozialhilfe, die auch keine Rehabilitationsträger mehr sind, zuständig sind (vgl. dazu BSG Beschluss vom 25.06.2020 - B 8 SO 36/20 B), erledigt iSd § 39 Abs. 2 SGB X. Eine solche Erledigung mag diskutiert werden für Fälle, in denen ein Bescheid angefochten wird, der Bedarfe betrifft, die
über den 31.12.2019 hinaus bestehen (hierzu BSG Urteil vom 28.01.2021 - B 8 SO 9/19 R, BSG Beschluss vom 25.06.2020 - B 8 SO 36/20 B; verneinend LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 10.11.2020 - L 8 SO 84/20 ER
m. Anm. Zieglmeier, NZS 2021, 232). Dann kann die Frage aufgeworfen werden, ob und ggfs. in welchen Konstellationen angesichts der Neukonzipierung des Rechts
der Eingliederungshilfe (hierzu nur Eicher in JurisPK SGB XII Anhang § 19 Rn. 2) sich Ablehnungsbescheide ab 01.01.2020 erledigt haben. Vorliegend handelt es sich demgegenüber um einen allein vor
dem Inkrafttreten des neuen Rechts bestehenden Bedarf aufgrund eines vor dem 01.01.2020 abgeschlossenen Sachverhalts. Eine
vor dem 01.01.2020 bestehende Verpflichtung des Sozialhilfeträgers wird durch die Neukonzipierung des Eingliederungshilferechts
und eine damit evtl. einhergehende neue Trägerschaft ab Januar 2020 nicht berührt (ständige Rechtsprechung des Senats, vergl.
Urteil vom 17.05.2021 - L 9 SO 271/19).
4) In materieller Hinsicht ist das streitgegenständliche Begehren des Klägers begründet.
a) Der Kläger erfüllt unstreitig die Voraussetzungen des §§ 19 Abs. 3, 53 SGB XII in der bis zum 31.12.2019 gF (im Folgenden: aF). Er ist durch eine Behinderung im Sinne von §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX wesentlich in seiner Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt und es bestand nach der Besonderheit des Einzelfalles,
insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe (eine Behinderung oder
deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern - § 53 Abs. 3 SGB XII aF) erfüllt werden konnte. Der Kläger verfügte nicht über bedarfsdeckende Eigenmittel iSd § 19 Abs. 3 SGB XII aF.
b) Die begehrte Leistung stellt eine Leistung der Eingliederungshilfe dar. Dies folgt aus dem offenen Leistungskatalog des
§ 54 SGB XII aF. § 54 Abs. 3 SGB XII aF ("Eine Leistung der Eingliederungshilfe ist auch die Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie, soweit eine geeignete
Pflegeperson Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht in ihrem Haushalt versorgt und dadurch der Aufenthalt in einer vollstationären
Einrichtung der Behindertenhilfe vermieden oder beendet werden kann. Die Pflegeperson bedarf einer Erlaubnis nach § 44 des Achten Buches. Diese Regelung tritt am 31. Dezember 2018 außer Kraft.") ist nicht zu entnehmen, dass diese Vorschrift abschließend ist
und insoweit der offene Leistungskatalog zurücktritt (BSG Urteil vom 24.09.2014 - B 8 SO 7/13 R, dem folgend LSG Baden-Württemberg Urteil vom 23.04.2015 - L 7 SO 308/14).
c) Voraussetzung für eine Kostenübernahme ist, dass in der Pflegefamilie eine über die reine Erziehung hinausgehende Förderung
erfolgt ist (BSG Urteil vom 24.09.2014 - B 8 SO 7/13 R Rn. 31). Dies ist hier nachgewiesen. Da der Kläger volljährig und in seiner Entwicklung
als Heranwachsender abgeschlossen war, kann die Betreuung in der Pflegefamilie nur in einer über die familiäre Erziehung hinausgehenden
weiteren Förderung bestanden haben. Der Kläger konnte und musste nicht mehr erzogen werden wie ein Kind oder Jugendlicher
in einer Pflegefamilie (ausdrücklich ebenso für den dortigen insoweit vergleichbaren Sachverhalt LSG Baden-Württemberg Urteil
vom 23.04.2015 - L 7 SO 308/14). Dass diese Förderung auch tatsächlich stattgefunden hat, ergibt sich überzeugend aus dem
Hilfeplanbericht vom 25.08.2018, in dem ausführlich die sehr gute familiäre und soziale Förderung und die Integration des
Klägers in einen großen Familienverbund, die Nachbarschaft und weitere soziale Zusammenhänge (Sport, Kirche) beschrieben werden.
Dies ist vornehmlich eine Leistung der beigeladenen Pflegemutter, die sich als erfolgreiche Eingliederungshilfe für den Kläger
betätigt hat. Demzufolge hat die Beklagte zutreffend noch in dem vorherigen Bescheid vom 05.09.2013 ausdrücklich den Eingliederungsbeitrag
der Pflegemutter dargelegt. Hieran hat sich nach dem 01.01.2015 nichts geändert.
d) Die Betreuung des Klägers in der Pflegefamilie war notwendig iSv §
4 Abs.
1 SGB IX. Diese Voraussetzung ist bei jeder Eingliederungsmaßnahme zu prüfen. Sie ist zu bejahen, wenn eine grundsätzlich geeignete
Eingliederungsmaßnahme unentbehrlich zum Erreichen der Eingliederungsziele ist, die gem. § 53 Abs. 3 Satz 1 SGB XII aF darin liegen, eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den behinderten Menschen in die Gesellschaft
einzugliedern (vgl. BSG Urteil vom 12.12.2013 - B 8 SO 18/12 R). Andere Möglichkeiten zur Bedarfsdeckung waren nicht vorhanden, denn ein Platz in
einer Wohngruppe stand noch nicht zur Verfügung. Der Kläger kann auchnicht mit Erfolg auf Leistungen im Rahmen des Projekts
"Leben in Gastfamilien (LiGA") als Hilfe zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten iSd § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII aF, §
55 Abs.
2 Nr.
6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 gF verwiesen werden. Das Leben in einer fremden Gastfamilie ist aufgrund der Verbundenheit des
Klägers mit der Familie A und der damit einhergehenden beschriebenen besonders gelungenen sozialen Intergration - insbesondere
vor der intendierten Aufnahme in einer stationären Wohneinrichtung - nicht bedarfsgerecht iSd § 9 Abs. 1 SGB XII. Soweit die Beklagte (erstmals) in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, bei der "Gastfamilie" könne es sich durchaus
um die Familie A selbst handeln, widerspricht dies bereits ihrem bisherigen Vorbringen, wonach eine Weitererbringung der bisherigen
Leistungen daran scheitere, dass der Kläger nicht auf ein Leben außerhalb seines bisherigen familiären Umfelds vorbereitet
worden sei. Ungeachtet dessen scheidet ein Wechsel der Form der erbrachten Hilfe (und eine damit verbundene Reduzierung der
erstattungsfähigen Kosten) ohne jegliche Veränderung des zugrundeliegenden Bedarfs, der durch die Notwendigkeit einer weiteren
sachkundigen Betreuung durch eine dem Kläger vertraute Betreuungsperson geprägt ist, als ebenfalls nicht bedarfsgerecht aus.
5) Der Umstand, dass mit der Beigeladenen keine Verträge nach §§ 75 ff SGB XII abgeschlossen worden sind, ist unbeachtlich (BSG Urteil vom 24.09.2014 - B 8 SO 7/13). Dass die Beigeladene auch ohne die Eingliederungshilfe in Vorleistung getreten ist,
ist ebenfalls unbeachtlich, da dies allein im Hinblick auf die rechtzeitig angefochtene rechtswidrige Leistungsablehnung erfolgt
ist und an der grundsätzlichen Bedarfssituation nichts ändert (hierzu BSG Urteil vom 29.09.2009 - B 8 SO 16/08 R mwN).
6) Der Anspruch ist auch in der geltend gemachten Höhe (739,70 €) begründet. Das SGB XII enthält keine nähere Regelung über die Art und Höhe der begehrten Leistung, so dass diese gem. § 17 Abs. 2 SGB XII ins Ermessen des Sozialhilfeträgers gestellt sind. Der Kläger ist gegenüber seiner Pflegemutter nicht verpflichtet, die erbrachten
Betreuungsleistungen zu vergüten, so dass eine solche Verpflichtung als Grundlage für die Höhe der Leistungen (iS eines Schuldbeitritts)
ausscheidet. Der zwischen der Pflegemutter und dem Kinder- und Jugendhilfeträger geschlossenen Vereinbarung kommt für die
Eingliederungshilfe keine Wirkung mehr zu, da sich diese Vereinbarung ausschließlich auf jugendhilferechtliche Leistungen
bezogen hat und diese im streitgegenständlichen Zeitraum beendet waren. Jedoch ist hinsichtlich der Höhe der Leistung im vorliegenden
Fall eine Ermessensreduzierung auf Null angesichts des durch die jahrelange Bewilligung begründeten Vertrauensschutzes anzunehmen.
Zudem verliert der Leistungsträger einen ihm zustehenden Ermessensspielraum wenn der Betroffene - wie hier - vom Leistungsträger
nicht auf eine rechtmäßige Alternativleistung verwiesen wird und sich die Leistung daher selbst beschaffen muss (dazu BSG Urteil vom 27.02.2020 - B 8 SO 18/18 R).
7) Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und berücksichtigt, dass der zur Leistung verpflichtete Beigeladene den Rechtsstreit veranlasst hat, indem er trotz Kenntnis
des Bedarfsfalls aufgrund des Antrags vom 10.08.2008 die Leistung nicht erbracht hat. Der Beigeladene hat noch im Berufungsverfahren
seine Eintrittspflicht verneint; der Umstand, dass er ungeachtet dessen keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat, ist im
Rahmen des §
193 SGG unbeachtlich (zur Kostenerstattungspflicht des Beigeladenen vgl. Schmidt in JurisPK
SGG §
193 Rn. 15 mwN). Im Übrigen müssten dem Beigeladenen auch in einem kostenpflichtigen Verfahren gem. §
197a Abs.
2 Satz 1
SGG die Kosten auferlegt werden, soweit er - wie hier - gem. §
75 Abs.
5 SGG verurteilt worden ist.
8) Gründe für eine Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) liegen nicht vor.