Sozialgerichtliches Verfahren - einstweiliger Rechtsschutz - Zulässigkeit des Antrags - doppelte Rechtshängigkeit - Übergehen
des Anspruchs in einem anderen Verfahren - fehlender Antrag auf Beschlussergänzung - Regelungsanordnung - Anordnungsanspruch
- Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Ausländer - Daueraufenthalt - Erforderlichkeit einer durchgehenden
Meldung bei einer Meldebehörde
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Im Streit steht ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.
Die Antragsteller, beide 1985 geboren und rumänische Staatsangehörige, sind Eheleute. Sie reisten 2014 nach Deutschland ein.
Ausweislich diverser Meldebescheinigungen der Städte M1, L, M2 und H waren sie in Deutschland wie folgt gemeldet: 2. Juni
2014 bis 1. April 2016 in M1, 1. April 2016 bis 27. Juni 2017 in L, 27. Juni 2017 bis 28. August 2018 in M2, ab 1. September
2018 in H, dort zunächst bis zum 1. Juni 2020 unter der Anschrift S1-Straße
Nach Auskunft der Stadt M1 in einem anderen Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (L 2 AS 307/19 B ER) erfolgte die Anmeldung dort am Tag des gemeldeten Einzugs, also am 2. Juni 2014. Die Stadt M2 teilte im selben Verfahren
mit, die Abmeldung dort im August 2018 sei aufgrund einer E-Mail des damaligen Vermieters erfolgt, der mitgeteilt habe, die
Antragsteller seien am 1. August 2018 mit unbekanntem Ziel ausgezogen. In Erweiterten Meldebescheinigungen der Stadt H ist
vermerkt, der dortige Zuzug am 1. September 2018 sei aus Rumänien erfolgt.
Ab dem 6. September 2018 beantragten die Antragsteller regelmäßig beim Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Die Anträge wurden überwiegend mit der Begründung abgelehnt, die Antragsteller seien gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Eine vom Antragsteller zu 1. zunächst angegebene selbständige Tätigkeit als Altmetallsammler
reichte nach Auffassung des Antragsgegners nicht aus, um ein eigenes Aufenthaltsrecht zu begründen. Ein im Januar 2019 mitgeteiltes
Arbeitsverhältnis als Hausmeister hielt der Antragsgegner für fingiert, weil der Arbeitgeber und der Vermieter der Antragsteller
wirtschaftlich miteinander verflochten gewesen seien.
Im Beschwerdeverfahren L 2 AS 307/19 B ER verpflichtete der Antragsgegner sich nach einem Hinweis des Berichterstatters auf § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II, den Antragstellern für die Zeit vom 2. Juli bis zum 31. August 2019 vorläufig Leistungen zu gewähren.
Bei Entscheidungen für spätere Bewilligungsabschnitte ging der Antragsgegner allerdings davon aus, dass die Voraussetzungen
des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht vorlägen, weil kein durchgängiger Aufenthalt in Deutschland belegt sei. Insoweit verwies er wiederholt darauf, dass
die Antragsteller von der Stadt M2 am 28. August 2018 von Amts wegen abgemeldet worden seien und dass bei der Anmeldung zum
01.09.2018 in H „Zuzug von Rumänien“ vermerkt worden sei. Vom Antragsteller zu 1. angegebene Beschäftigungsverhältnisse als
Bauhelfer bei der Firma B. waren nach Auffassung des Antragsgegners nicht geeignet, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu
begründen und damit einen Leistungsausschluss zu beseitigen, weil diese Tätigkeiten in Wirklichkeit nicht ausgeübt worden
seien.
Aufgrund von Mietschulden verloren die Antragsteller ihre Wohnung in der S1-Straße. Zum 1. Juni 2020 meldete die Stadt H sie
unter dieser Anschrift von Amts wegen ab. Beim Antragsgegner, der wiederholt Zusicherungen zu Umzügen ablehnte, gaben sie
als Anschrift in H zunächst S2-Straße an, im Februar 2021 unter Vorlage eines Mietvertrags G-Straße
Für die Zeit von September 2020 bis Februar 2021 lehnte der Antragsgegner einen Leistungsantrag mit der Begründung ab, dass
sich die Antragsteller außerhalb des in der Erreichbarkeitsanordnung genannten Bereichs aufgehalten hätten. Einen Überprüfungsantrag
lehnte er mit Bescheid vom 25. Februar 2021 ab, weil die Antragsteller Unterlagen, die wiederholt angefordert worden seien,
nicht eingereicht hätten.
Daraufhin beantragten die Antragsteller am 3. März 2021 beim Sozialgericht (SG) Halle einstweiligen Rechtsschutz. Das Verfahren wurde unter dem Az. S 19 AS 259/21 ER geführt. Die Antragsteller begehrten die Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Gewährung von Leistungen nach
dem SGB II und nahmen zum einen auf die Ablehnung ihres Überprüfungsantrags für die Zeit von September 2020 bis Februar 2021 Bezug,
zum anderen auf einen unter dem 16. Februar 2021 gestellten Weiterbewilligungsantrag für die Zeit ab März 2021.
Mit Beschluss vom 16. April 2021, den Antragstellern zugestellt am 20. April 2021, verpflichtete das SG den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig, den Antragstellern für die Zeit vom 1. September 2020 bis
zum 28. Februar 2021 Leistungen zu gewähren; auf den Zeitraum ab 1. März 2021 ging es in seinem Beschluss nicht ein. Mit Beschluss
vom 26. Juli 2021 hob der erkennende Senat die einstweilige Anordnung auf, weil es für den Zeitraum von September 2020 bis
Februar 2021 an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes fehle, da der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
erst im März 2021 gestellt worden sei.
Bereits zum 1. Juni 2021 hatten die Antragsteller einen Mietvertrag über eine 57qm große Wohnung in der B-Straße in H abgeschlossen
(Kaltmiete: 350 €, Betriebskostenvorauszahlung: 102 € pro Monat).
Am 10. Juni 2021 lehnte der Antragsgegner ihren Antrag vom 16. Februar 2021 für die Zeit vom 1. März bis 31. August 2021 ab.
Den dagegen gerichteten Widerspruch wies er mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2021 zurück. Seine Entscheidung begründete
er wiederum damit, dass die Antragsteller nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b SGB II von Leistungen ausgeschlossen seien. Es liege kein Fall des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II vor, weil ein mindestens fünfjähriger durchgehender Aufenthalt der Antragsteller auch unter Berücksichtigung der bereits
am 2. Juni 2014 erfolgten erstmaligen Wohnsitznahme im Saalekreis und der entsprechenden Anmeldung nicht belegt sei. Der Antragsgegner
verwies darauf, dass die Antragsteller in M2 für die Zeit von Oktober 2017 bis März 2018 zunächst Leistungen bezogen hätten,
die aber mit Bescheid vom 5. März 2018 zur Erstattung gestellt worden seien. Ob sie in der Folgezeit ab 1. April 2018 beim
Landkreis S Leistungen beantragt hätten und ob ihnen solche Leistungen gewährt worden seien, sei unbekannt. Wiederholte Nachfragen
dazu seien unbeantwortet geblieben. Weiter verwies der Antragsgegner auf die E-Mail des ehemaligen Vermieters an die Stadt
M2 wonach die Antragsteller zum 1. August 2018 mit unbekanntem Ziel ausgezogen seien. Zum 28. August 2018 seien sie vom Amts
wegen abgemeldet worden. Die erstmalige Anmeldung in H. sei mit dem Vermerk „Zuzug aus Rumänien“ versehen worden. Daher sei
ein durchgängiger tatsächlicher Aufenthalt in Deutschland nicht nachgewiesen. Am 22. Juni 2021 haben die Antragsteller beim
SG Halle unter Vorlage des Ablehnungsbescheids vom 10. Juni 2021 einen weiteren Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt.
Sie haben geltend gemacht, dass sie gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen seien. Zwar müsse für den Beginn des dort geregelten Fünfjahreszeitraums
eine Meldebescheinigung nachgewiesen werden, nicht aber für die gesamte Dauer des Aufenthalts in Deutschland. In der Zeit
einer fehlenden polizeilichen Meldung vom 2. Juni bis zum 15. November 2020 hätten sie sich nach dem Verlust ihrer Wohnung
in der S1-Straße auf Wohnungssuche befunden. In dieser Zeit seien sie zunächst in der K-Straße, dann bei Verwandten in der
S2-Straße untergekommen. Eine Anmeldung habe hier pandemiebedingt erst zum 15. November 2020 erfolgen können. Von Anfang Februar
bis Ende Mai 2021 hätten sie in der G-Straße gewohnt, seit 1. Juni 2021 wohnten sie im B-Straße Sie verfügten weder über Einkommen
noch über Vermögen, auf ihrem Girokonto befinde sich ein Guthaben von 5,01 €; die Kosten ihrer Unterkunft beliefen sich auf
452 € pro Monat. Zur Glaubhaftmachung haben sie u.a. einen Kontoauszug und den Mietvertrag vorgelegt.
Mit Beschluss vom 29. Juli 2021 hat das SG den Antrag abgelehnt. Er sei wegen doppelter Rechtshängigkeit des geltend gemachten Anspruchs unzulässig, und es fehle deshalb
das Rechtsschutzbedürfnis. Insoweit hat das SG auf das Beschwerdeverfahren L 2 AS 289/21 verwiesen. In dem zugrunde liegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (S 19 AS 259/21 ER) sei der Bewilligungszeitraum von März bis August 2021 bei der gebotenen Auslegung des Rechtsschutzbegehrens bereits streitgegenständlich
gewesen. Dass die 19. Kammer dazu keine Entscheidung getroffen habe, ändere nichts an der fortbestehenden Rechtshängigkeit.
Gegen diesen Beschluss haben die Antragsteller am 2. August 2021 Beschwerde erhoben. Im Beschwerdeverfahren haben sie auf
Nachfrage des Senats klargestellt, dass es ihnen um die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistungsgewährung
für die Zeit vom 22. Juni bis zum 31. August 2021 gehe.
Der Antragsgegner wendet ein, die Antragsteller seien gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Es greife auch
nicht § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II ein, weil ein mindestens fünfjähriger durchgehender Aufenthalt in Deutschland nicht nachgewiesen sei. Insoweit macht er erneut
Zweifel in Bezug auf den Zeitraum von April bis August 2018 geltend.
Die Antragsteller führen dazu aus, das Beibringen von schriftlichen Nachweisen über ihren Aufenthalt in Deutschland in diesem
Zeitraum gestalte sich insbesondere wegen des wiederholten Verlusts ihres Wohnraums einschließlich einer faktischen Räumung
durch den Vermieter und vorübergehender Wohnungslosigkeit schwierig. Der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller hat erklärt,
er könne jedoch nachvollziehen, dass die Antragsteller Anfang März 2018 persönlich bei ihm vorgesprochen hätten. Am 16. März
2018 habe zudem eine Besprechung in seiner Kanzlei stattgefunden, an der der Antragsteller zu 1. teilgenommen habe. Die seinerzeit
hinzugezogene Dolmetscherin könne sich noch an ihn erinnern. Weiter habe der Antragsteller zu 1. die Kanzlei am 30. April
2018 aufgesucht; bei dieser Gelegenheit sei ein Antragsformular zur Weiterbewilligung von SGB II-Leistungen ausgefüllt worden. Auch am 4. Mai 2018 seien Leistungsangelegenheiten besprochen worden. Am 22. Juni 2018 habe
der Antragsteller zu 1. die Kanzlei aus näher bezeichneten anderen Gründen aufgesucht; außerdem könne ein Termin am 1. August
2018 nachvollzogen werden. Der Prozessbevollmächtigte hat entsprechende Auszüge seines anwaltlichen Terminkalenders vorgelegt,
außerdem Unterlagen, die er in der fraglichen Zeit mit dem Antragsteller zu 1. gefertigt habe.
Der Antragsgegner ist der Auffassung, dies reiche zur Glaubhaftmachung nicht aus. Die Kalendereintragungen des Rechtsanwalts
seien kein Nachweis dafür, dass die Termine tatsächlich wahrgenommen worden seien. Außerdem komme der Familienname des Antragstellers
zu 1. häufig vor. Darüber hinaus sei nach wie vor nicht dazu vorgetragen worden, wie die Antragsteller ihren Lebensunterhalt
bis Ende August 2018 bestritten hätten. Auch sei keine Entscheidung über den Weiterbewilligungsantrag für die Zeit ab April
2018 vorgelegt worden.
Der Senat hat die Prozessakte des SG, die Verwaltungsakte des Antragsgegners sowie die Prozessakten der Verfahren S 5 AS 470/19 ER (L 2 AS 307/19 B ER) und S 19 AS 259/21 ER (L 2 AS 289/21 B ER) beigezogen.
II.
Die Beschwerde ist gemäß §
172 Abs.
1, Abs.
3 Nr.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig; insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt worden (§
173 SGG). Sie ist auch begründet. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
Der Zulässigkeit des Antrags steht weder die materielle Rechtskraft einer bereits ergangenen Entscheidung über den Streitgegenstand
noch der Einwand doppelter Rechtshängigkeit entgegen. Zwar ist die 6. Kammer des SG in ihrem Beschluss vom 29. Juli 2021 zu Recht davon ausgegangen, dass der Leistungszeitraum ab März 2021 bei der entsprechend
§
123 SGG gebotenen Auslegung bereits Gegenstand des Antrags vom 3. März 2021 (S 19 AS 259/21 ER) gewesen sei. Das steht einer Sachentscheidung im vorliegenden Verfahren aber nicht entgegen.
Auch Entscheidungen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sind der materiellen Rechtskraft fähig (vgl. Keller, in:
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Auflage 2020, §
86b Rn. 44a; zu deren Reichweite siehe Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. August 2018 – L 7 SO 2248/18
ER-B –, juris Rn. 5). Vorliegend fehlt es aber an einer der materiellen Rechtskraft fähigen Entscheidung über den Streitgegenstand.
Denn im Verfahren S 19 AS 259/21 ER (L 2 AS 289/21 B ER) ist keine Entscheidung bezüglich des Leistungszeitraums ab März 2021 ergangen. Ein entsprechendes Begehren war zwar
von dem am 3. März 2021 beim SG gestellten Antrag umfasst. Die 19. Kammer des SG hat die Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung aber insoweit nicht verneint, sondern überhaupt nicht geprüft und deshalb
keine Sachentscheidung getroffen. Das ergibt sich eindeutig aus dem Tenor und den Gründen des Beschlusses: Im Tenor ist keine
Ablehnung des Antrags im Übrigen ausgesprochen worden, die Kostenentscheidung beruht offensichtlich auf der Annahme eines
vollständigen Obsiegens der Antragsteller, und in den Gründen findet ein Leistungsbegehren für die Zeit ab März 2021 keine
Erwähnung. Schon weil ausschließlich der Antragsgegner Beschwerde gegen diese Entscheidung erhoben hatte, war dieser Zeitraum
auch nicht Gegenstand des anschließenden Beschwerdeverfahrens.
Einer Sachentscheidung des Senats steht auch nicht der Einwand doppelter Rechtshängigkeit entgegen. Dies gilt unabhängig davon,
dass das Verfahren S 19 AS 259/21 ER (L 2 AS 289/21 B ER) inzwischen beendet ist. Denn die ursprünglich gegebene Rechtshängigkeit des Begehrens bezüglich der Zeit ab März 2021
ist bereits vorher entfallen, weil die Antragsteller nach dem Beschluss der 19. Kammer des SG vom 16. April 2021, der ihnen am 20. April 2021 zugestellt worden ist, nicht innerhalb eines Monats einen Antrag auf Beschlussergänzung
gestellt haben. Denn die 19. Kammer des SG hat das auf die Zeit ab März 2021 bezogene Begehren bei ihrer Entscheidung offenkundig übersehen. Damit liegt ein Übergehen
dieses Anspruchs i.S.v. §
140 SGG vor. Diese Vorschrift ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entsprechend anwendbar (vgl. Keller, a.a.O., § 140
Rn. 2 m.w.N.). Die Antragsteller hätten daher binnen eines Monats eine Beschlussergänzung beantragen können. Dass sie dies
nicht getan haben, hat dazu geführt, dass insoweit mit Ablauf des 20. Mai 2021 die Rechtshängigkeit erloschen ist (vgl. Keller,
a.a.O., § 140 Rn. 3). Damit hat zu keinem Zeitpunkt eine doppelte Rechtshängigkeit vorgelegen.
Der Antrag ist auch begründet.
Das Gericht kann nach §
86b Abs.
2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung
des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers erschwert oder wesentlich vereitelt wird. Einstweilige
Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn
eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen
Anordnung ist gemäß §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung (
ZPO) die Glaubhaftmachung des Vorliegens sowohl eines Anordnungsanspruchs (also eines in der Hauptsache gegebenen materiellen
Leistungsanspruchs) als auch eines Anordnungsgrunds (also der Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile).
Ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn ihre tatsächlichen Voraussetzungen mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit vorliegen (vgl. Keller, a.a.O., § 86b Rn. 41).
Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat
die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist
eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa
weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen
bedürfte –, kann eine Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung ergehen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom
14. März 2019 – 1 BvR 169/19 -, juris Rn. 15 m.w.N.).
Die Antragsteller haben das Vorliegen sowohl eines Anordnungsanspruchs als auch eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht.
Sie haben glaubhaft gemacht, dass sie für die Zeit vom 22. Juni bis zum 31. August 2021 gemäß §§ 7 ff., 19 ff., 67 SGB II einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben.
Dies gilt zunächst im Hinblick auf die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Als erwerbsfähige Leistungsberechtigte sind danach Personen leistungsberechtigt, die das 15. Lebensjahr vollendet und die
Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig und hilfebedürftig sind (Nr. 2, Nr. 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt
in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4). Die Antragsteller sind im leistungsberechtigten Alter und erwerbsfähig. Nach
ihrem Vorbringen im Verwaltungsverfahren und im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sowie nach den vorliegenden Unterlagen
bestehen auch keine durchgreifenden Zweifel daran, dass sie hilfebedürftig i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. §§ 9 ff., 67 SGB II sind. Sie haben auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
Der Senat hält es zudem für ausreichend glaubhaft gemacht, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht zum Tragen kommt, weil ein Fall des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II vorliegt. Nach dieser Vorschrift erhalten Ausländerinnen und Ausländer sowie ihre Familienangehörigen abweichend von § 7 Abs. 2 Nr. 2 SGB II Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet
haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) festgestellt wurde. Die Fünf-Jahres-Frist beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II). Insoweit ist zur Vermeidung missbräuchlicher rückwirkender Meldungen das Datum maßgeblich, an dem die Ausländerin oder
der Ausländer die Meldung vorgenommen hat (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 15. Mai 2019 - L 2 AS 125/19 B ER - juris Rn. 103). Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten
des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet (§ 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II).
Durch die vorliegenden Meldebescheinigungen und die Auskunft der Stadt M1 im Verfahren L 2 AS 307/19 B ER ist glaubhaft gemacht, dass die Antragsteller sich dort am 2. Juni 2014 angemeldet haben. Aus Sicht des Senats ist auch
im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, dass sie seitdem – und damit deutlich länger als fünf Jahre
– ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Verbleibende Zweifel und Unklarheiten sind im Hauptsacheverfahren zu
klären.
Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand nach der gesetzlichen Definition in §
30 Abs.
3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (
SGB I) dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend
verweilt. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen
im streitigen Zeitraum zu beurteilen. Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft
im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen
ist (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 7. Februar 2019 – L 2 AS 860/18 B ER –, juris Rn. 37). Kurze Unterbrechungen, die die Zukunftsoffenheit des Aufenthalts in Deutschland nicht infrage stellen,
etwa kurze Heimatbesuche, hindern die Annahme des gewöhnlichen Aufenthalts nicht, wohl aber wesentliche Unterbrechungen (vgl.
Beschluss des erkennenden Senats vom 7. Februar 2019, a.a.O., Rn. 50; BT-Drs. 18/10211, S. 14). Ein starkes Indiz für die
Beendigung des zukunftsoffenen Verbleibs stellt dagegen eine vom Ausländer selbst vorgenommene Abmeldung ins Ausland dar (vgl.
Beschluss des erkennenden Senats vom 7. Februar 2019, a.a.O., Rn. 51).
Es sind keinerlei belastbare Anhaltspunkte dafür zu erkennen, dass die Antragsteller entgegen den vorliegenden Meldebescheinigungen
nicht von Juni 2014 bis zu ihrem Zuzug nach H. im September 2018 im beschriebenen Sinne ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet
gehabt hätten. Soweit der Antragsgegner hinsichtlich des Zeitraums von April bis August 2018 Bedenken äußert, bleiben diese
spekulativ. Er stützt sie zum einen auf die ungeklärte Frage, ob die Antragsteller in dieser Zeit Leistungen eines anderen
Jobcenters bezogen bzw. wovon sie gelebt haben, zum anderen auf die Umstände des Wegzugs aus M2 und des Zuzugs nach H. Beide
Gesichtspunkte stehen der Annahme, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Bundesgebiet glaubhaft gemacht sei, nicht entgegen.
Für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II kommt es nicht darauf an, wie sich der Betroffene während der fraglichen Zeit finanziert hat (vgl. LSG Baden-Württemberg,
Beschluss vom 8. Mai 2020 – L 7 AS 1070/20 ER-B –, juris Rn. 16; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3. Juli 2020 – L 8 SO 73/20 B ER –, juris Rn. 29; Leopold,
in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 7 Rn. 162; Knickrehm, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 7. Auflage 2021, § 7 Rn. 23). Unklarheiten
darüber, wovon er gelebt hat, können jedoch im Einzelfall Zweifel daran begründen, dass er sich tatsächlich in Deutschland
aufgehalten hat. Vorliegend ist aber durch die Angaben des Prozessbevollmächtigten der Antragsteller und die Vorlage von Auszügen
aus seinem anwaltlichen Terminkalender für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hinreichend glaubhaft gemacht, dass
die Antragsteller sich auch in der Zeit von April bis August 2018 in Deutschland aufhielten, wobei etwaige kurze Unterbrechungen
durch Heimatbesuche unschädlich wären. Auch die Mitteilung des damaligen Vermieters an die Stadt M2 spricht für einen Auszug
aus der Wohnung in M2 frühestens zum 1. August 2018. Nichts anderes ergibt sich aus dem Bescheid das Landkreises S vom 5.
März 2018. Mit diesem Bescheid ist die Leistungsbewilligung an die Antragsteller für die Zeit von Oktober 2017 bis März 2018
nicht etwa wegen Zweifeln an ihrer Anwesenheit in Deutschland endgültig auf Null festgesetzt worden, sondern weil die vom
Antragsteller zu 1. vorgelegten Unterlagen nicht ausgereicht hätten, um die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit zu belegen.
Auch die Umstände des Wegzugs aus M2 und des Zuzugs nach H. stellen den durchgehenden gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland
nicht infrage. Die Abmeldung in M2 zum 28. August 2018 ist von Amts wegen erfolgt, nicht etwa wegen einer eigenen Abmeldung
der Antragsteller ins Ausland; die Anmeldung in H. am 3. September 2018 (einem Montag) rückwirkend zum 1. September 2018.
Wann genau die Antragsteller die Wohnung in M2 verlassen haben, lässt sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht
zuverlässig feststellen. Der Vermieter hatte der Stadt M2 einen Auszug zum 1. August 2018 mitgeteilt. Der Antragsteller zu
1. hat demgegenüber in den Verfahren L 2 AS 307/19 B ER und L 2 AS 289/21 B ER an Eides statt versichert, dass er sich im gesamten Monat August 2018 gemeinsam mit der Antragstellerin zu 2. in M2
aufgehalten habe. Am 28. August 2021 sei die Wohnung in der S1-Straße in H. übergeben worden. Da diese nicht im besten Zustand
gewesen sei, hätten sie sie in der ersten Septemberwoche 2018 renoviert. In dieser Zeit seien sie zwischen M2 und H. gependelt.
Am Ende der ersten Septemberwoche habe er dann den Schlüssel der Wohnung in M2 beim Hausmeister abgegeben. Auf die Richtigkeit
dieser Angabe deutet u.a. der Mietvertrag für Wohnung in der S1-Straße in H. hin, der sich in Kopie in der Verwaltungsakte
des Antragsgegners befindet. Er ist auf den 28. August 2018 datiert, und die Unterschrift des Antragstellers zu 1. ist mit
dem handschriftlichen Zusatz „(im Büro)“ versehen, was für eine Anwesenheit vor Ort in H. spricht. Dem Vermerk in den Meldebescheinigungen
der Stadt H dass der Zuzug aus Rumänien erfolgt sei, misst der Senat vor diesem Hintergrund keine entscheidende Bedeutung
bei, zumal unklar ist, worauf er beruht.
Auch für die Zeit seit September 2018 ist ein durchgehender gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland hinreichend glaubhaft gemacht.
Insoweit stützt der Senat sich auf den Inhalt sowohl der beigezogenen Prozessakten zu anderen Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes als auch der Verwaltungsakte des Antragsgegners. Diese enthält nicht nur regelmäßige Anträge auf laufende Leistungen,
Anträge auf Zusicherungen zu beabsichtigten Umzügen und Mietverträge, sondern auch Unterlagen zu verschiedenen selbständigen
und unselbständigen Tätigkeiten des Antragstellers zu 1. Unabhängig von der Bewertung dieser behaupteten Tätigkeiten im Hinblick
auf ein etwaiges Aufenthaltsrecht i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II deuten die Unterlagen jedenfalls stark auf einen tatsächlichen Aufenthalt in H. hin.
Unschädlich ist, dass für die Zeit vom 29. bis 31. August 2018 und – nach den eigenen Angaben der Antragsteller – für die
Zeit vom 2. Juni bis zum 15. November 2020 eine Meldung i.S.d. Bundesmeldegesetzes (BMG) in Deutschland fehlt. Der Begriff des ge-wöhnlichen Aufenthalts i.S.v. §
30 Abs.
3 Satz 2
SGB I setzt keine solche Meldung voraus (vgl. Pitz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGB I, 3. Auflage 2018, §
30 Rn. 45; Mro-zynski,
SGB I, 6. Auflage 2019, §
30 Rn. 23). Dies gilt nach Auffassung des Senats auch im Rahmen des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II (ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Mai 2020 – L 18 AS 1812/19 –, juris Rn. 20; LSG Hamburg, Beschluss vom 20. Juni 2019 – L 4 AS 34/19 B ER –, juris Rn. 5; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. April 2018 – L 7 AS 2162/17 B ER –, juris Rn. 21; Leopold, a.a.O., § 7 Rn. 165; a.A.: Hessisches LSG, Beschluss vom 16. Oktober 2019 – L 7 AS 343/19 B ER –, juris Rn. 24). Denn § 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II differenzieren zwischen einem fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthalt und damit einem in §
30 Abs.
3 Satz 2
SGB I legaldefinier-ten Zustand, der keine Meldung voraussetzt, einerseits (Satz 4), und dem Beginn der Fünf-Jahres-Frist mit der
erstmaligen Meldung andererseits (Satz 5). Für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts i.S.v. Satz 4 kann das Vorliegen
einer melderechtlichen Anmeldung deshalb ein Indiz sein, es ist aber keine zwingende Voraussetzung.
Für die Gewährung existenzsichernder Leistungen liegt auch ein Anordnungsgrund vor.
Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, den Antragsgegner entsprechend §
130 Abs.
1 SGG dem Grunde nach zu verpflichten. Aufgrund vergleichbarer Verfahren in jüngerer Zeit geht der Senat davon aus, dass der Antragsgegner
die einstweilige Anordnung umsetzen wird, ohne dass es der Vollstreckung bedürfte, die bei einer Verpflichtung dem Grunde
nach zu einer weiteren Verzögerung führen würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von §
193 Abs.
1 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§
177 SGG).