Anerkennung eines Ereignisses als Arbeitsunfall
Fehlender Störfaktor von außen
Keine Ursächlichkeit alltäglicher Ereignisse
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Ereignisses vom 20. Februar 2018 als Arbeitsunfall mit der Folge einer traumatisch
bedingten Abrissfraktur der Tibia des rechten Kniegelenks.
Der 2003 geborene Kläger sprang im Sportunterricht beim Geräteturnen vom Barren und verdrehte sich bei der Landung das rechte
Kniegelenk. Der umgehend aufgesuchte Durchgangsarzt diagnostizierte eine Knieprellung rechts und äußerte den Verdacht auf
eine Epiphysenläsion im Bereich der Tuberositas tibiae. Ausweislich eines MRT-Befundes vom 23. Februar 2018 wurde ein frischer
knöcherner Ausriss der Tuberositas tibiae bei nicht komplett verschlossenen Epiphysenfugen mit unverändert leichter Frakturdehiszenz
diagnostiziert. Deswegen befand sich der Kläger vom 2. bis 3. März 2018 in stationärer Behandlung der Klinik für Orthopädie
und Unfallchirurgie im R-Krankenhaus A. Ausweislich des Operationsberichts vom 2. März 2018 wurde eine Reposition und Retention
mittels zweier durchbohrter Schrauben des knöchernen Ausrisses vorgenommen. In einem Fragebogen vom 30. April 2018 führte
der Kläger aus, dass beim Geräteturnen im Sportunterricht am Barren beim „Vornrausschwingen“ und über den rechten Holm schwingend
eine Landung auf den Füßen erfolgte. Dabei habe es im rechten Knie einen Knacks gegeben, und er sei nach hinten umgefallen.
Das Knie habe danach nicht mehr belastet werden können und es sei ein Rettungswagen gerufen worden. Der Beratungsarzt der
Beklagten L führt in einer Stellungnahme vom 16. Juni 2018 aus, dass die versicherte Tätigkeit am Unfalltag nicht wesentlich
teilursächlich für den Gesundheitsschaden gewesen sei. Die Schienbeinrauhigkeit rechts habe bereits vorbestanden.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. August 2018 die Anerkennung des Ereignisses vom 20. Februar 2018 als Arbeitsunfall
ab. Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung könnten daher nicht erbracht werden. Hiergegen legte der Kläger, damals
noch vertreten durch seine Erziehungsberechtigten, Widerspruch ein. Im Widerspruchsverfahren beauftragte die Beklagte im Einverständnis
mit dem Kläger den Chirurgen W mit der Erstellung eines Zusammenhangsgutachtens. Dieser führte in seinem Gutachten vom 22.
Januar 2019 aus, dass beim Kläger eine operativ versorgte Ablösung der Schienbeinrauhigkeit am rechten Kniegelenk vorliege.
Apophysenlösungen würden überwiegend bei männlichen Jugendlichen in den letzten zwei Jahren vor dem knöchernen Verschluss
der Apophysenfuge beobachtet. Es handle sich um eine Schadensanlage, die sich beim kräftigen Muskelzug manifestiere. Nach
der medizinischen Literatur sei Voraussetzung für die Annahme eines Unfallereignisses, dass ein Störfaktor den Ablauf der
versicherten Tätigkeit mitbestimmt habe. Das sei hier nicht der Fall, da der Absprung vom Barren ungestört verlaufen sei.
Gestützt hierauf wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 22. März 2019 den Widerspruch des Klägers zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 25. April 2019 beim Sozialgericht Gotha Klage erhoben. Die Ausrissfraktur der Tibiae stehe im
kausalen Zusammenhang mit sportlichen Verrichtungen am 20. Februar 2018.
Das Sozialgericht hat verschiedene Befundberichte beigezogen und S mit der Erstellung eines Zusammenhangsgutachtens beauftragt.
Dieser hat in seinem Gutachten vom 25. Juli 2019 das Vorliegen einer traumatisch bedingten Abrissfraktur der Tibia-Apophyse
des rechten Kniegelenks verneint. Bei dem Ereignis am 20. Februar 2018 sei es zur Manifestation einer bis dahin stummen Schadensanlage
gekommen. Sämtliche Gesundheitsbeeinträchtigungen seien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unfallunabhängiger
Natur. Das Erstschadensbild spreche gegen die Annahme einer unfallbedingten Gesundheitsbeeinträchtigung. Weder im klinischen
Befund noch in der MRT-Untersuchung seien Zeichen einer frischen knöchernen Verletzung nachgewiesen worden. In einer ergänzenden
Stellungnahme vom 1. Oktober 2019 hat der Sachverständige nach Inaugenscheinnahme der MRT-Bilder vom 23. Februar 2018 ausgeführt,
dass außer der Lösung der Tuberositas tibiae sich keine frischen Verletzungsfolgen nachweisen ließen. Hinweise auf Einblutungen
in den Knochen hätten sich nicht gefunden. Auch das im Durchgangsarztbericht dokumentierte Weichteilhämatom im Bereich der
Tuberositas sei bei einer Epiphysenlösung nicht ungewöhnlich. Geräteturnen stelle für einen gesunden Schüler einen lebensalltagsüblichen
Belastungsvorgang dar. In einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 1. September 2020 hat der Sachverständige ausgeführt,
dass sich im Bereich der Ansatzstelle der Schienbeinrauhigkeit keine Zeichen einer direkten oder indirekten Gewalteinwirkung
fänden. Abgesehen von der Lösung der Apophyse (Wachstumsfuge) fänden sich keinerlei sonstige Knieschäden. In einer weiteren
ergänzenden Stellungnahme vom 23. November 2020 hat der Sachverständige ausgeführt, dass sich dem MRT-Befund im Bereich der
abgelösten Apophyse keine Hinweise auf eine drei Tage zuvor abgelaufene traumatische Verletzung entnehmen ließen. Ein mäßiger
Kniegelenkserguss könne sekundär bei solchen Erkrankungen auftreten. Im Operationsbericht vom 2. März 2018 sei kein Bluterguss
beschrieben worden. Beim Kläger habe eine stumme Schadensanlage bestanden.
Durch Urteil vom 15. März 2021 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Nach den Sachverständigengutachten von W und S
habe beim Kläger ein pubertätsbedingter Umbauvorgang an den Apo- und Epiphysenfugen vorgelegen, welcher den Schadenseintritt
wesentlich verursacht habe. Der Abgang vom Barren sei ohne Störfaktor, wie z. B. Hängenbleiben oder dergleichen, erfolgt.
Die stumme Schadensanlage bestehe in der Minderung der Festigkeit der Tibia-Apophyse. Die vorgegebene Turnübung sei daher
als Gelegenheitsursache einzustufen. Für die Desintegration der Apophyse sei eine physiologische Belastung im Sportunterricht
oder in einer Alltagssituation ausreichend gewesen.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Das Ereignis vom 20. Februar 2018 erfülle alle Merkmale des Unfallbegriffs
des §
8 SGB VII. Nach den Feststellungen des Sachverständigen sei die vorliegende Abrissfraktur des Klägers bei der Absolvierung der Sport-übung
im Moment der maximalen Anspannung des Knie-Streck-Apparates entstanden. Das Knie habe dabei seine muskuläre Stabilisierung
verloren, wodurch es zum Sturz des Klägers nach dem Aufkommen auf den Boden gekommen sei. Bei der Absolvierung dieser Sportübung
habe es sich nicht um eine alltägliche Eigenbewegung gehandelt.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Gotha vom 15. März 2021 und des Bescheides der Beklagten vom 13. August 2018
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 2019 das Ereignis vom 20. Februar 2018 als Arbeitsunfall im Sinne der
gesetzlichen Unfallversicherung mit der Folge einer Abrissfraktur der Tibia-Apophyse des rechten Kniegelenks festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen in dem angegriffenen Urteil.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren §
124 Abs.
2 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte den Rechtsstreit aufgrund des erklärten Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch
Urteil entscheiden (§
124 Abs.
2 SGG).
Die Berufung des Klägers ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg (§§
143,
151 SGG).
Der Bescheid der Beklagten vom 13. August 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. März 2019 ist rechtmäßig und
verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung, dass er am 20. Februar 2018
einen Arbeitsunfall im Sinne des §
8 Abs.
1 SGB VII erlitten hat, weil kein Arbeitsunfall im Sinne des §
8 Abs.
1 SGB VII vorliegt.
Zwar hat der Kläger zum Zeitpunkt des Ereignisses am 20. Februar 2018 mit der Teilnahme am Schulsportunterricht eine versicherte
Tätigkeit ausgeübt und stand daher unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung (§
2 Abs.
1 Nr.
8b SGB VII). Die Verrichtung des Klägers zur Zeit des Ereignisses - die Teilnahme am Geräteturnen - gehörte zur versicherten Tätigkeit
des Schulunterrichts und stand daher mit dieser in einem sachlichen Zusammenhang. Die Anerkennung eines Arbeitsunfalls scheitert
jedoch daran, dass der erforderliche Gesundheits(erst)schaden nicht vorliegt. Denn die bei dem Kläger am 20. Februar 2018
diagnostizierte Abrissfraktur der Tibia-Apophyse des rechten Kniegelenks lässt sich nicht mit der erforderlichen hinreichenden
Wahrscheinlichkeit auf das Ereignis zurückführen.
Für die haftungsbegründende Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung.
Diese setzt zunächst einen naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden
voraus und in einem zweiten wertenden Schritt, dass das versicherte Unfallereignis für den Gesundheitsschaden wesentlich war.
Denn als im Sinne des Sozialrechts ursächlich und rechtserheblich werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen
Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Gab es neben der versicherten Ursache noch konkurrierende
Ursachen, z. B. Krankheitsanlagen, so war die versicherte Ursache wesentlich, solange die unversicherte Ursache nicht von
überragender Bedeutung war. Eine Krankheitsanlage war von überragender Bedeutung, wenn sie so stark oder so leicht ansprechbar
war, dass die (naturwissenschaftliche) Verursachung akuter Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer
Einwirkungen bedurfte, sondern jedes alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinungen verursacht hätte.
War die Krankheitsanlage von überragender Bedeutung, so ist die versicherte naturwissenschaftliche Ursache nicht als wesentlich
anzusehen und scheidet als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts aus; sie ist
dann bloß eine so genannte Gelegenheitsursache (vgl. BSG, Urteil vom 12. April 2005, a.a.O., Rn. 16).
Ausgehend von diesen Grundsätzen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Abrissfraktur der Tibia-Apophyse des rechten
Kniegelenks nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Ereignis vom 20. Februar 2018 zurückgeführt werden kann.
Aus den bildgebenden Befunden und dem Operationsbericht ergeben sich hinreichende Zweifel am Vorliegen einer traumatisch bedingten
Abrissfraktur der Tibia-Apophyse des rechten Kniegelenks. Der Sachverständige S führt insoweit in seinem Gutachten vom 25.
Juli 2019 aus, dass das Erstschadensbild gegen die Annahme einer unfallbedingten Gesundheitsbeeinträchtigung spricht. Nach
seinen Feststellungen fanden sich weder im klinischen Befund noch in der MRT-Untersuchung Zeichen einer frischen knöchernen
Verletzung. Der Sachverständige legte eingehend dar, dass im Fall des Klägers eine erhöhte Versagensbereitschaft der Tibia-Apophyse
vorgelegen hat. Diese Versagensbereitschaft hatte ihren Grund in wachstumsbedingten Umbauvorgängen des Knochens. Die Auswertung
des MRT-Befundes vom 23. Februar 2018 durch den Sachverständigen S hat insoweit ergeben (vgl. ergänzende Stellungnahme vom
1. September 2020), dass sich im Bereich der Ansatzstelle der Schienbeinrauhigkeit keine Zeichen einer stattgehabten direkten
oder indirekten Gewalteinwirkung fanden. Festgestellt werden konnte nur die Lösung der Apophyse (Wachstumsfuge). Folgen einer
anderen Verletzung fanden sich nicht. Ein traumatisch bedingter Abriss der Apophyse hat jedoch immer eine Begleitverletzung
des die Apophyse stabilisierenden Gegenzuges zur Folge. Ohne adäquate Begleitverletzungen scheidet die Annahme einer traumabedingten
Verletzung aus (Hempfling/Krenn, Schadenbeurteilung am Bewegungssystem, Band 1, Berlin 2016, 5.3, S. 403). Der festgestellte
mäßige Kniegelenkserguss kann nicht als solche adäquate Begleitverletzung gewertet werden, denn nach den Ausführungen von
S (vgl. ergänzende Stellungnahme vom 23. November 2020) ist er als Folge der abgelösten Apophyse entstanden. Nachvollziehbar
legt der Sachverständige dar, dass sich durch das Abstehen der Wachstumsfuge nach vorn das Kräfteparallelogramm des Kniegelenks
dahingehend verändert, dass die Wachstumsfuge auch durch physiologischen Zug innerhalb des Knie-Streck-Apparats vermehrt belastet
wird und dadurch abreißen kann. Dem entsprechen auch die Feststellungen im Operationsbericht vom 2. März 2018. Des Weiteren
weist der Sachverständige S in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 1. September 2020 darauf hin, dass das Ereignis vom 20.
Februar 2018 für einen ansonsten gesunden jungen Mann ein lebensalltagsüblicher Belastungsvorgang gewesen ist. Dem entspricht
es, dass der im Verwaltungsverfahren gehörte Sachverständige W in seinem Gutachten vom 22. Januar 2019 darauf hinweist, dass
alltägliche Ereignisse, wie ein ungestört abgelaufener Absprung vom Barren, nicht ausreichen, um eine traumatische Apophysenlösung
zu verursachen. Insoweit fehlt es an dem erforderlichen Störfaktor von außen. Dessen Erforderlichkeit entspricht dem aktuellen
wissenschaftlichen Erkenntnisstand (vgl. Hempfling u.a., Schäden an Apo- und Epiphysen - ärztlich-gutachtliche und rechtliche
Bewertung, MedSach, 2017 S.158 ff.). Danach bedarf es für die Annahme eines unfallbedingten Schadens einer erheblichen direkten
oder indirekten Krafteinleitung im Bereich der Apophyse. Eine direkte Krafteinwirkung durch einen Sturz auf die Apophyse liegt
hier ersichtlich nicht vor. Ebenso ist eine indirekte Krafteinwirkung zu verneinen, denn diese setzt eine maximale Vorspannung
der Apophysenverbindung voraus, die dann durch einen Störfaktor über ihre Belastungsgrenze hinaus beansprucht wird und versagt
(Hempfling u.a., a.a.O.). Der Hergang des Ereignisses (ungestörter Absprung vom Barren und Landung) wies daher bereits kein
erhebliches Gefährdungspotential für die Apophyse auf.
Damit bestehen erhebliche Anhaltspunkte dagegen, dass die Abrissfraktur der Tibia-Apophyse des rechten Kniegelenks beim Kläger
schicksalhafter Natur ist. Ein Zusammenhang mit dem Ereignis vom 20. Februar 2018 kann daher nicht mit der erforderlichen
hinreichenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Mangels Gesundheits(erst)schadens scheidet damit die Anerkennung eines
Arbeitsunfalls aus.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 SGG liegen nicht vor.