Folgenbeseitigungsanspruch im Hinblick auf Absenkungen von Leistungen nach dem SGB II
Allgemeiner öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch
Wiederherstellung durch Naturalrestitution
Hoheitlicher Eingriff in ein subjektives Recht des Betroffenen
Tatbestand
Streitig ist ein Folgenbeseitigungsanspruch (FBA) im Hinblick auf Absenkungen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
(Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die Kläger beziehen seit August 2005 Alg II vom Beklagten. Nachdem zwischenzeitlich keine Einladungen mehr zu Vorspracheterminen
erfolgt waren, begann der Beklagte ab März 2013 wieder damit, die Kläger zur Vorsprache im Jobcenter aufzufordern. Ebenso
wurden verschiedene eine Eingliederungsvereinbarung ersetzende Verwaltungsakte (EG-VAe) erlassen. Wegen des Nichterscheinens
bei Meldeterminen zwischen dem 27.03.2013 und 17.12.2015 sowie Verstößen gegen Verpflichtungen aus den EG-VAen mit dem Gültigkeitszeiträumen
zwischen dem 11.12.2013 bis 04.05.2016 senkte der Beklagte das Alg II der Klägerin zu 1. und des Klägers zu 2. - jeweils einzeln
- mit Bescheiden vom 21.06.2013, 07.08.2013, 07.08.2013, 07.08.2013, 04.09.2013, 04.09.2013, 22.10.2013, 22.10.2013, 22.10.2013,
06.11.2013, 05.12.2013, 05.12.2013, 18.12.2013, 12.02.2014, 12.02.2014, 12,02,2014, 12.02.2014, 13.03.2014, 14.03.2014, 28.03.2014,
22.04.2014, 29.04.2014, 13.05.2014, 20.05.2014, 18.07.2014, 18.07.2014, 18.07.2014, 18.07.2014, 20.10.2014, 21.11.2014, 21.11.2014,
21.11.2014, 08.12.2014, 25.01.2015, 26.01.2015, 26.01.2015, 10.02.2015 , 12.03.2015, 23.04.2015, 23.04.2015, 28.05.2015, 14.07.2015,
14.07.2015, 03.11.2015, 03.11.2015, 03.11.2015, 16.11.2015, 16.11.2015 und 22.12.2015 ab.
Die Widersprüche gegen die Sanktionsbescheide vom 13.03.2014 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheiden vom 27.03.2014 (in
den Akten des Beklagten mit Datum "26.03.2014") zurück.
Am 20.10.2014 haben die Kläger bzgl aller in den Jahren 2013 und 2014 ihnen gegenüber ergangenen Meldeaufforderungen und "EGV" Widerspruch eingelegt. Das Schreiben legte der Beklagte offenbar als Widerspruch gegen die Sanktionsbescheide bzw als Überprüfungsanträge
bezüglich der Sanktionsbescheide aus, verwarf die Widersprüche gegen die Sanktionsbescheide als unzulässig wegen der Versäumung
der Widerspruchsfrist (hierzu enthielt der Widerspruchsbescheid eine Rechtsbehelfsbelehrung) und lehnte unter dem Punkt "Hinweis"
den (auch) als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gewerteten Widerspruch ab (hierzu enthielt der Bescheid keine Rechtbehelfsbelehrung). Im Einzelnen ergingen so die jeweiligen
verschiedenen (Widerspruchs-)Bescheide vom 17.12.2014, 18.12.2014, 19.12.2014, 22.12.2014 und 05.01.2015.
Widersprüche vom 20.09.2015 (eingegangen am 21.09.2015) gegen die Sanktionsbescheide vom 28.05.2015 und 14.07.2015 (Meldeversäumnisse
vom 01.04.2015 und 13.05.2015 sowie Pflichtverletzungen bzgl EG-VA) verwarf der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.10.2015
als unzulässig wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist (hierzu enthielt der Widerspruchsbescheid eine Rechtsbehelfsbelehrung)
und lehnte unter dem Punkt "Hinweis" den (auch) als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gewerteten Widerspruch ab (hierzu enthielt der Bescheid keine Rechtbehelfsbelehrung).
Eine von den Klägern begehrte Verpflichtung des Beklagten zum Erlass positiver Überprüfungsbescheide in Bezug auf die Sanktionsbescheide
ist Gegenstand des Berufungsverfahrens L 11 AS 163/17.
Im og Widerspruchsschreiben vom 20.09.2015 beantragten die Kläger ua auch die einmalige Zahlung von 3.500 EUR als Schadenersatz.
Die EG-VAe und die Meldeaufforderungen seien rechtswidrig bzw nichtig, so dass die als Sanktionen einbehaltenen Leistungen
zurück zu überweisen seien und ein Schadenersatz zu zahlen sei. Hierüber hat der Beklagte nach Aktenlage weder entschieden
noch sich dazu geäußert.
Am 29.01.2016 haben die Kläger Klage zum SG erhoben und die Aufhebung sämtlicher seit dem 21.03.2013 und künftiger, bis zum Abschluss des Verfahrens ergangener Meldeaufforderungen
(Nr 1), die Aufhebung sämtlicher seit dem 11.12.2013 bzw künftiger, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens, per
Verwaltungsakt erlassener Eingliederungsvereinbarungen (Nr 2), die Aufhebung sämtlicher seit dem 21.06.2013 und künftiger
bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erlassener Sanktionsbescheide (Nr 3), die Zahlung von 3.500 EUR für den gesamten
Zeitraum seit dem Beginn der Sanktionen im Jahr 2013 als Folgenbeseitigungsanspruch (Nr 4) und die weitere Zahlung von monatlich
135 EUR seit Januar 2016 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens bzw der vollständigen Einstellung der betreffenden
Sanktionen als Folgenbeseitigungsanspruch (Nr 5) beantragt. Nr 4 des Klageantrages hat das SG als hier gegenständliches Klageverfahren - ohne den Erlass eines eigenständigen Trennungsbeschlusses - erfasst. Die übrigen
Klagegegenstände wurden als Klageverfahren S 17 AS 77/16, S 17 AS 80/16, S 17 AS 81/16 und S 17 AS 83/16 geführt. Zur Klagebegründung haben die Kläger ua ausgeführt, sie hätten in ihrem Widerspruchsschreiben vom 20.09.2015 einen
FBA von 3.500 EUR pauschal eingefordert. Es sei sehr schwierig, die aus den Sanktionen erwachsenen Schäden im Einzelnen zu
benennen und zu belegen. Offensichtlich würde die Höhe auch vom Beklagten nicht bestritten, da er hierauf nicht eingegangen
sei. Eine Verbindung der Verfahren hat das SG mit Beschluss vom 29.06.2016 abgelehnt.
Mit Urteil vom 06.10.2016 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Auslegung des klägerischen Begehrens habe ergeben, dass es den Klägern um einen Betrag iHv 3.500
EUR als FBA für den Zeitraum vom 01.07.2013 bis zur Klageerhebung am 29.01.2016 gehe. Einen höheren Betrag von 4.445 EUR hätten
die Kläger nur für den nicht eingetretenen Fall der Erhebung einer neuen Klage nach Klagerücknahme geltend gemacht. Auch würde
unter Auslegung des Antrages nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz nicht "Schadenersatz" sondern "Folgenbeseitigung" begehrt.
Andernfalls hätte eine Verweisung an die ordentlichen Gerichte mit der Folge einer Gerichtskostenpflicht vorgenommen werden
müssen. Ein FBA bestehe jedoch nicht. Dieser führe nur zur Wiederherstellung des früheren Zustandes vor einem hoheitlichen
Handeln, durch das ein noch andauernder rechtswidriger Zustand geschaffen worden ist. Im Bereich der sozialrechtlichen Leistungserbringung
führe eine rechtswidrige Leistungskürzung jedoch ausschließlich über § 44 SGB X zu einer nachträglichen Erbringung der Leistungen und über §
44 SGB I zur Verzinsung einer fälligen Forderung. Die Kläger begehrten jedoch explizit eine über die nachträgliche Leistungserbringung
hinausgehende zusätzliche Beseitigung von Vollzugsfolgen. Einen solchen Anspruch begründe ein FBA jedoch nicht.
Dagegen haben die Kläger Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Die ihnen zugestellten Protokollabschriften
der mündlichen Verhandlung seien unbeglaubigt gewesen, was zur Nichtigkeit der Zustellung eines Urteils und damit zur Nichtingangsetzung
der Rechtsmittelfrist führen müsse. Die "erstinstanzlichen Urteile" hätten für sie materiell-rechtlich überhaupt keine Bestandskraft,
seien daher effektiv nicht vorhanden. Es sei nicht bewiesen worden, dass überhaupt diesbezüglich mündlich vor dem SG verhandelt worden sei. Zur Vermeidung von Rechtsnachteilen hätten sie aber ihr Anliegen in Berufungsschriften gekleidet.
Ihr Schreiben vom 25.08.2017 - mit diesem Schreiben haben die Kläger den Erlass einstweiliger Anordnungen bezüglich der Sanktionsbescheide
vom 21.07.2017 beantragt - werde zum Gegenstand des Verfahrens gemacht. Die Kläger haben Kopien der Eingangsbestätigungen
des SG bezüglich ihrer Klage vom 29.01.2016 vorgelegt, worin die jeweiligen Aktenzeichen der Eingangsbestätigungen durch verschiedenfarbige
Markierungen den jeweiligen Antragsbegehren zugewiesen worden sind.
Die Kläger beantragen:
1.
Die Zurückverweisung des Verfahrens an das Sozialgericht Bayreuth ohne Hauptverhandlung.
2.
Die Wiedereinsetzung in den alten Stand hinsichtlich der Rechtsmittelfrist bezüglich des oben bezeichneten Urteils ab der
Zustellung einer mangelfreien Protokollabschrift der Hauptverhandlung an die Kläger.
3.
Die Feststellung der Nichtigkeit hinsichtlich des Abtrennungsbeschlusses des Sozialgerichts Bayreuth vom 02.02.2016 in dem
Verfahren S 17 AS 77/16.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung hat er auf die Ausführungen des SG verwiesen.
Ablehnungsanträge der Kläger gegen den Vorsitzenden des Senats vom 23.01.2018 und gegen alle Mitglieder des Senats vom 25.04.2018
wegen der Besorgnis der Befangenheit hat der Senat mit Beschlüssen vom 22.02.2018 (L 11 SF 71/18 AB) und 07.05.2018 (L 11 SF 182/18 AB) abgelehnt.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§
143,
144,
151 SGG), aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Es liegt ein wirksames Urteil des SG vor, das den Klägern ausweislich der Postzustellungsurkunden auch zugestellt worden ist. Die Übersendung von unbeglaubigten
Protokollabschriften ändert daran nichts. Dass das Urteil des SG in der mündlichen Verhandlung am 06.10.2016 erlassen worden ist, wird durch die in den Akten des SG befindliche Niederschrift, die eine öffentliche Urkunde darstellt, bewiesen. Die Niederschrift ist entsprechend den gesetzlichen
Vorschriften ausgefertigt und von der Vorsitzenden der 17. Kammer am SG sowie von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben worden (§
122 SGG, §§
159,
160 Zivilprozessordnung -
ZPO-).
Die Kläger haben bislang keinen Antrag in der Sache gestellt, sondern vielmehr lediglich die Zurückverweisung des Verfahrens
an das SG ohne Hauptverhandlung beantragt. Eine Zurückverweisung an das SG durch das Berufungsgericht kommt jedoch nur in den Fällen des §
159 Abs
1 SGG in Betracht. Danach kann der Senat den Rechtsstreit an das SG zurückverweisen, wenn das SG selbst in der Sache nicht entschieden hat (§
159 Abs
1 Nr
1 SGG) oder das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und die Notwendigkeit einer umfangreichen und aufwendigen Beweisaufnahme
aufgrund des Mangels gegeben wäre (§
159 Abs
1 Nr
2 SGG). Da aber eine Beweisaufnahme nicht notwendig und die Entscheidung des SG zutreffend ist, sieht der Senat keinen Anlass, die Sache an das SG zurückzuverweisen. Da keine Frist versäumt worden ist, bedurfte es auch keiner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Eine
Feststellung der Nichtigkeit des "Abtrennungsbeschlusses des Sozialgerichts Bayreuth vom 02.02.2016 in dem Verfahren S 17 AS 77/16" kommt ebenfalls nicht in Betracht, da ein solcher Beschluss nicht vorliegt. Das SG hat die mit der Klageschrift vom 29.01.2016 geltend gemachten fünf Klageanträge nach Eingang in einzelnen Klageverfahren
erfasst. Auch wenn es für die Trennung mehrerer in einer Klage erhobener Ansprüche eines zu begründenden Beschlusses bedarf
(§
202 Satz 1
SGG i.V.m. §
145 Abs
1 ZPO), sind die Kläger im vorliegend gerichtskostenfreien Verfahren durch diese Auftrennung nicht beschwert. Das SG hat in den Klageverfahren S 17 AS 77/16 und S 17 AS 80 bis 83/16 über sämtliche Begehren entschieden, so dass im Ergebnis jedenfalls auch ein möglicher Verfahrensfehler
nicht dazu führen würde, dass die jeweiligen Entscheidungen darauf beruhen könnten.
Da die von den Klägern ausdrücklich gestellten Anträge damit ins Leere gehen, waren sie unter Berücksichtigung des Begehrens
der Kläger nach §
123 SGG auszulegen (zur Auslegung: Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl, § 123 Rn 3). Das SG kam zu der nachvollziehbaren Auslegung, den Klägern gehe es vorliegend (alleine) um eine Verurteilung des Beklagten zur Zahlung
von 3.500 EUR aus einem FBA, zumal ein (ausdrücklich) geltend gemachter Anspruch aus Amtshaftung abzutrennen und an das zuständige
Landgericht zu verweisen gewesen wäre. Dem schließt sich der Senat an, zumal die Kläger im Berufungsverfahren der Auslegung
durch das SG nicht widersprochen und keine Umstände vorgebracht haben, die Zweifel an der Richtigkeit der Auslegung begründen könnten.
Die Kläger haben keinen FBA gegen den Beklagten, der einen Zahlungsanspruch iHv 3.500 EUR begründen könnte. Beim allgemeinen
öffentlich-rechtlichen FBA handelt es sich um einen aus dem Richterrecht hergeleiteten Anspruch, mit dem die Wiederherstellung
des ursprünglichen, durch einen rechtswidrigen hoheitlichen Eingriff veränderten Zustandes im Wege der Naturalrestitution
erreicht werden soll (vgl BSG, Urteil vom 10.08.1995 - 11 RAr 91/94; Urteil vom 29.05.1996 - 3 RK 26/95 -, Thüringer LSG, Beschluss vom 01.06.2017 - L 4 AS 851/16 B - alle zitiert nach juris). Der Anspruch setzt damit voraus, dass durch einen hoheitlichen Eingriff in ein subjektives
Recht des Betroffenen ein rechtswidriger Zustand geschaffen wurde und dieser Zustand noch andauert (vgl Thüringer LSG aaO
mwN).
Vorliegend fehlt es bereits an einem rechtswidrigen Zustand. Wie sich aus dem Urteil des Senats vom heutigen Tag im Verfahren
L 11 AS 163/17 ergibt, sind die Sanktionsbescheide bestandskräftig und derzeit wirksam. Sie wurden bislang weder aufgehoben noch zurückgenommen
und stehen schon von daher einem FBA entgegen.
Die Kläger haben damit keinen Anspruch auf Zahlung von 3.500 EUR im Rahmen eines FBA gegen den Beklagten, so dass die Berufung
zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß §
160 Abs
2 Nrn. 1 und 2
SGG zuzulassen, liegen nicht vor.