Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitssuchende; Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen - hier einer geminderten
Altersrente bei der Deutschen Rentenversicherung; Ermessensausübung des Grundsicherungsträgers
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. Juni 2014 ist gemäß §§
172 Abs.
1,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat es rechtsfehlerhaft abgelehnt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs
des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. Mai 2014 anzuordnen, mit dem dieser den Antragsteller nach
Zugang dieses Bescheides, spätestens bis zum 09. Juni 2014, aufgefordert hatte, eine geminderte Altersrente bei der Deutschen
Rentenversicherung zu beantragen. Dem Begehren des Antragstellers war nach Erlass des Widerspruchsbescheides und der Erhebung
der Klage in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang zu entsprechen.
1.) a) Der Antrag des Antragstellers ist in Bezug auf die begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage nach
§
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig. Denn abweichend vom Regelfall des §
86a Abs.
1 Satz 1
SGG hat die gegen den Bescheid vom 23. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2014 erhobene Klage gemäß
§
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 3 des Sozialgesetzbuches Zweites Buch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung, weil es sich bei dem genannten Bescheid um einen Verwaltungsakt handelt, mit dem der Antragsteller
im Sinne der zuletzt genannten Vorschrift zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert worden ist.
b) Der zulässige Antrag ist auch begründet. Inhalt der Begründetheitsprüfung ist eine - auf den insoweit maßgeblichen Zeitpunkt
der Entscheidung des Gerichts - vorzunehmende Interessenabwägung, bei der unter Beachtung der vom Gesetzgeber getroffenen
Grundentscheidung, den Eintritt der aufschiebenden Wirkung abweichend von dem in §
86a Abs.
1 Satz 1
SGG geregelten Grundsatz nach §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG gerade auszuschließen, die jeweiligen Interessen der Beteiligten gegeneinander abzuwägen sind. Ergibt diese Abwägung, dass
das private Interesse des jeweiligen Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs das öffentliche
Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung seines Bescheides überwiegt, ist die aufschiebende Wirkung in aller
Regel anzuordnen. Dies wiederum ist der Fall, wenn sich der angegriffene Bescheid als offensichtlich rechtswidrig erweist
und dies mit einer subjektiven Rechtsverletzung des Belasteten einhergeht, weil an der sofortigen Vollziehung eines mit der
Rechtsordnung nicht im Einklang stehenden Bescheides kein öffentliches Interesse besteht. Umgekehrt überwiegt das öffentliche
Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung seines Bescheides das private Interesse des Antragstellers an der
aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs, wenn gegen die Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides offensichtlich keine
Bedenken bestehen. In diesem Fall ist die aufschiebende Wirkung in aller Regel nicht anzuordnen. Lässt sich die Frage nach
der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides indes nicht hinreichend sicher beantworten, kommt es unter Berücksichtigung
der oben dargestellten Grundentscheidung des Gesetzgebers für die Begründetheit des Antrags entscheidend auf die sonstigen
Interessen der Beteiligten an. Grundsätzlich hat hierbei zu gelten, dass die an das private Interesse des Antragstellers an
der Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu stellenden Anforderungen im Sinne einer dynamischen Betrachtung um so höher sein
müssen, je geringer die Erfolgsaussichten des von ihm in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs zu bewerten sind. Die wechselseitig
eintretenden Folgen, die jeweils entstünden, wenn sich die durch das Gericht getroffene Eilentscheidung im Hauptsacheverfahren
als unzutreffend erweisen sollte, sind in die Betrachtung mit einzubeziehen. Hierbei ist insbesondere in den Verfahren, in
denen existenzsichernde Leistungen in Rede stehen, in den Blick zu nehmen, ob und mit welcher Intensität dem Antragsteller
bei einer Ablehnung seines Antrages eine endgültige Verletzung von Grundrechten droht, deren Eintritt zu vermeiden nach Artikel
19 Abs.
4 des
Grundgesetzes gerade Sinn und Zweck des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens ist (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 05. November 2014
- L 25 AS 2731/14 B ER -, juris).
c) Die danach anzustellende Abwägung fällt hier zugunsten des Antragstellers aus, weil hier vieles dafür spricht, dass der
angegriffene Bescheid rechtswidrig ist.
Gestützt ist der Bescheid auf § 12a Satz 1 SGB II i.V.m. § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Gemäß § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen
Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich
ist. Bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres gilt dies gemäß § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II aber nicht für eine vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente. Da der Kläger im Januar 2014 das 63. Lebensjahr vollendet
hat, ist die grundsätzlich bestehende Pflicht des Antragstellers, spätestens bis zum 09. Juni 2014 eine Rente zu beantragen,
nicht nach § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II ausgeschlossen. Die Pflicht zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen wird durch § 12a SGB II konkretisiert. § 12a SGB II betrifft unter Berücksichtigung von § 65 Abs. 4 SGB II alle Leistungsberechtigten, die - wie der Antragsteller - nach dem 1. Januar 2008 das 58. Lebensjahr vollendet haben und
damit nicht mehr in den Genuss der sogenannten 58er-Regelung kommen. Wenn der Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen
Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellt, können die Leistungsträger nach diesem Buch nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen.
Der Senat geht im Anschluss an den 25. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 05. November 2014 - L 25 AS 2731/14 B ER -, juris) davon aus, dass bereits die Entscheidung darüber, ob die in § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II genannte Aufforderung an den Hilfebedürftigen ergeht, im pflichtgemäßen Ermessen des Grundsicherungsträgers steht. Vor diesem
Hintergrund wird sich der angefochtene Bescheid bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null
aller Voraussicht nach als ermessensfehlerhaft erweisen und zwar ungeachtet der Frage, ob es sich bei den in der Unbilligkeitsverordnung
vom 14. April 2008 (BGBl I S. 734) genannten Gesichtspunkten um negative Tatbestandsmerkmale oder Ermessenskriterien handelt.
Bei der Ermessensausübung sind etwa die voraussichtliche Dauer oder Höhe des Leistungsbezugs, absehbarer Einkommenszufluss
oder dauerhafte Krankheit zu berücksichtigen. Insbesondere in Bezug auf die Stellung eines vorzeitigen Altersrentenantrags
ist zu berücksichtigen, dass der Leistungsberechtigte als Altersrentner von Leistungen nach dem SGB II - und damit auch von solchen nach §§ 16 ff. SGB II - ausgeschlossen ist. Für berücksichtigungsfähig hält der 28. Senat des LSG Berlin-Brandenburg dementsprechend auch das Vorliegen
einer Eingliederungsvereinbarung, die im vorliegenden Fall zwischen den Beteiligten am 15. Mai 2014 abgeschlossen worden ist.
Zudem ist die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente regelmäßig mit Abschlägen verbunden, was ebenfalls zu berücksichtigen
ist (vgl. S. Knickrehm/Hahn in Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, § 5 RdNr. 35).
Von seinem Ermessen hat der Antragsgegner in dem Bescheid vom 23. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
13. Juni 2014 vor dem Hintergrund des genannten Abwägungsmaterials nur unzureichend Gebrauch gemacht. Er hat weder den Abschluss
der Eingliederungsvereinbarung noch den Umstand in seine Ermessenserwägungen eingestellt, dass der Antragsteller im Fall der
Bewilligung einer vorgezogenen Altersrente gemäß § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II von Eingliederungsleistungen nach den §§ 16 ff. SGB II ausgeschlossen ist. Ebenso wenig hat er die Höhe der dem Antragsteller bei regulärer und bei vorzeitiger Inanspruchnahme
zustehenden Altersrente ermittelt. Eine Entscheidung, ob durch die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente im Falle des
Antragstellers eine Unbilligkeit gegeben wäre oder er zur Inanspruchnahme von ergänzenden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zwölftes
Buch (SGB XII) gezwungen wäre (vgl. hierzu LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19. Mai 2014, L 7 AS 545/14 B ER, juris), fehlt in den angegriffenen Verwaltungsentscheidungen deshalb ebenfalls.
Auch wenn der Antragsgegner grundsätzlich erkannt haben mag, dass der Antragsteller Anspruch auf eine pflichtgemäße Ausübung
des Ermessens hat, ist er dieser Verpflichtung jedoch auch im Widerspruchsbescheid aus den genannten Gründen nicht hinreichend
nahgekommen. In seinen Ausführungen bezieht er sich vorrangig auf die gesetzlichen Vorschriften sowie auf das (Nicht)Vorliegen
der Voraussetzungen nach § 12a SGB II i. V. m. der Unbilligkeitsverordnung und schlussfolgert daraus, dass die Aufforderung zur Beantragung der Altersrente zu
Recht erfolgt sei. Es werden zwar als Ermessenskriterien der vorzeitige Anspruch auf Rente, das Nichtvorliegen von Härtefall
und Unbilligkeit der vorzeitigen Rentenbeantragung, der Vorrang von versicherungsfinanzierten Leistungen vor steuerfinanzierten
Leistungen und die Möglichkeit der ergänzenden Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII, die denen des SGB II in diesem Fall vorzuziehen seien, aufgeführt (vgl. die Wiedergabe der wortgleichen Kriterien in dem Beschluss des Landessozialgerichts
Berlin-Brandenburg vom 7. August 2014 - L 28 AS 1830/14 B ER, L 28 AS 1831/14 B ER PKH - juris). Eine einzelfallbezogene Abwägung dieser Kriterien findet aber nicht statt.
d) Dabei verkennt der Senat nicht, das in der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. etwa LSG Berlin-Brandenburg, 10. Senat,
Beschluss vom 18. November 2014 - L 10 AS 2254/14 B ER -, juris) auch die Auffassung vertreten wird, dass die in § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II zugunsten des Grundsicherungsträgers eingeräumte Befugnis zur Stellung von Anträgen auf Leistungen eines anderen Trägers
anstelle eines Grundsicherungsempfängers im Regelfall zur Pflicht des Grundsicherungsempfängers führe, einen entsprechenden
Antrag zu stellen. Das in der Vorschrift eingeräumte Ermessen diene als intendiertes Ermessen im Wesentlichen dazu, im Einzelfall
besonderen Gründen Rechnung tragen zu können, die ein Abweichen vom Regelfall geboten erscheinen ließen. Habe ein Grundsicherungsempfänger
das 63. Lebensjahr vollendet und verweigere er das Stellen eines Rentenantrags, so sei der Grundsicherungsträger im Regelfall
gehalten, den Rentenantrag anstelle des Grundsicherungsempfängers für diesen zu stellen. Allein der Umstand, dass bei einem
vorzeitigen Rentenbeginn Abschläge bei der Höhe der Altersrente in Kauf zu nehmen seien, stelle keinen Grund dar, vom vorzeitigen
Rentenbezug abzusehen. Das Gleiche gelte dann, wenn der Grundsicherungsempfänger wegen des vorzeitigen Rentenbezuges eine
Rente in nicht bedarfsdeckende Höhe erhalte, die durch Leistungen nach dem SGB XII bzw. durch Wohngeld ergänzt werden müsse. Diese Auffassung verkennt jedoch zumindest, dass Grundsicherungsempfänger durch
eine solche Verfahrensweise ggf. auf nachrangige Leistungen der Sozialhilfe verwiesen werden (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB XII), was der Senat auch sonst (im Bereich des Krankengeldes) abgelehnt hat (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss
vom 08. August 2014 - L 9 KR 133/14 B ER -, juris). Deshalb folgt der Senat dieser Auffassung nicht.
e) Unabhängig davon ist die grundsätzliche und auch vorliegend fallentscheidende Rechtsfrage nach dem Abwägungsmaterial der
hier zu treffenden Ermessensentscheidung obergerichtlich umstritten und höchstrichterlich ungeklärt. In dieser Situation kann
die Interessenabwägung nach §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG nicht anders ausfallen als wenn sie nach den Kriterien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach § 32 BVerfGG ohne Berücksichtigung des mutmaßlichen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens zu treffen wäre. Sie muss zu Gunsten des Antragstellers
ausfallen, weil ihm bei einer Ablehnung seines Antrages und einem vorzeitigen Rentenbezug auf Antrag des Grundsicherungsträger
eine Verletzung seines Grundrechts aus Art.
19 Abs.
4 GG droht. Denn nach (bestandskräftiger) Bewilligung einer Rente könnte das mit der Klage verfolgte Ziel, der in § 12a Satz 1 SGB II normierten Verpflichtung zur Rentenantragstellung nicht nachkommen zu müssen, wegen des in § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II bestimmten Leistungsausschlusses bei Bezug einer Rente wegen Alters nicht mehr oder nur noch unter erheblichen Schwierigkeiten
erreicht werden. Die Frage, ob eine vorangegangene Aufforderung rechtswidrig war, wäre dann nicht mehr von Belang (BSG, Beschluss vom 12. Juni 2013, B 14 AS 225/12 B, juris), der Rechtsstreit grundsätzlich in der Hauptsache erledigt. Schon um eine solche mit Art.
19 Abs.
4 GG nicht zu vereinbarende Rechtsfolge zu vermeiden, ist es geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
2.) Darüber hinaus war dem Antragsgegner im Wege einstweiligen Rechtsschutzes aufzugeben, den von ihm gestellten Rentenantrag
zurückzunehmen. Hierbei kann dahinstehen, ob diese Anordnung auf §
86b Abs.
1 Satz 2
SGG zu stützen ist, der für die Fälle, in denen - wie hier - grundsätzlich eine Anfechtungskonstellation vorliegt, die Rückgängigmachung
von Vollziehungshandlungen und deren unmittelbaren Folgen betrifft, oder ob der originär auf Leistungsfälle zugeschnittene
§
86b Abs.
2 SGG die richtige Rechtsgrundlage darstellt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, 25. Senat, Beschluss des Senats vom 5. September 2014
- L 25 AS 2135/14 B ER). Denn letztlich handelt es sich auch bei der auf §
86b Abs.
1 Satz 2
SGG beruhenden Anordnung lediglich um eine spezielle Form der Regelungsanordnung, die hier losgelöst von ihrer rechtlichen Verankerung
zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Artikel
19 Abs.
4 GG geboten ist, weil dem Antragsteller ohne sie - wie bereits dargelegt - unwiederbringliche Nachteile drohen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG analog.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).