Zuerkennung eines Grades der Behinderung
Merkzeichen G und B
Einschränkung des Gehvermögens
Ortsübliche Wegstrecke
Doppelte Kausalität
Tatbestand:
Der 1941 geborene Kläger begehrt die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 80 sowie die Feststellung
der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B.
Mit Bescheid vom 27. April 2006 hatte der Beklagte beim Kläger einen GdB von 60 festgestellt und dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen
zugrunde gelegt, wobei er von dem aus dem Klammerzusatz ersichtlichen jeweiligen Einzel-GdB ausgegangen war:
a) Psychische Behinderung mit ausgeprägten psychovegetativen und psychosomatischen Störungen (50),
b) Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule (20),
c) Hüftgelenksarthrose beidseitig (20),
d) Krampfaderleiden (10),
e) Nervenstörung der Beine (Restless-Leggs-Syndrom) (10),
f) Bauchwandschwäche (10).
Auf den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 21. Mai 2012 wegen des Hinzutretens neuer Leiden unter Bezugnahme auf die Merkzeichen
G und B holte der Beklagte Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte ein und stellte mit Bescheid vom 3. September
2012 beim Kläger einen GdB von 70 fest, wobei er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen ausging:
a) Depression, psychische Störungen (Neurosen), posttraumatische Belastungsstörung (50),
b) Krampfaderleiden, Lymphstauung des Beines beidseitig (20),
c) Bluthochdruck, Herzrhythmus-Störungen, Antikoagulantien-Therapie (20),
d) Hüftgelenksarthrose beidseitig (20),
e) Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule (20),
f) Nervenstörung der Beine, Restless-Leggs-Syndrom (10),
g) Diabetes mellitus (10),
h) Bauchwandschwäche (10),
i) Sehminderung (10).
Die Zuerkennung der Merkzeichen G und B lehnte der Beklagte indes ab. Mit dem hiergegen gerichteten Widerspruch machte der
Kläger geltend, ihm sei ein GdB von 100 zuzuerkennen. Weiterhin begehrte er die Merkzeichen G und B. Seines Erachtens müsse
sein psychisches Leiden mindestens mit einem GdB von 80 bewertet werden. Ferner sei verkannt worden, dass bei ihm sämtliche
Wirbelsäulenabschnitte betroffen seien und erhebliche Schmerzen verursachten. Auch das Hüftleiden halte er für unterbewertet.
Überhaupt nicht berücksichtigt worden seien ein Knieleiden und Arthrose der Sprunggelenke und Füße sowie ein Prostataleiden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 2013 wies der Beklagte denn Widerspruch zurück.
Mit der am 29. Januar 2013 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt und hierzu sein Vorbringen aus dem
Widerspruchsverfahren vertieft. Nach Einholung von Befundberichten der den Kläger behandelnden Ärzte hat das Sozialgericht
mit Gerichtsbescheid vom 14. Oktober 2014 die Klage abgewiesen.
Mit der hiergegen am 7. November 2014 eingelegten Berufung hat der Kläger sein Begehren auf Zuerkennung eines GdB von 100
und der Merkzeichen G und B vollumfänglich weiter verfolgt. Hierzu hat er insbesondere vorgebracht, das Sozialgericht habe
seiner Aufklärungspflicht nicht genügt, insbesondere habe es weder Befundberichte des behandelnden Urologen bzw. der behandelnden
Psychiaterin und Neurologin eingeholt noch eine Aufklärung durch gerichtlich veranlasstes Gutachten betrieben. Der Kläger
beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. Oktober 2014 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides
vom 3. September 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Januar 2013 zu verpflichten, bei ihm ab Mai 2012 einen
Grad der Behinderung von 100 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche
mit Merkzeichen G und B festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie sowie Sportmedizin
Prof. Dr. G, den der Senat damit beauftragt hat, ein Zusatzgutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. W R einzuholen. Nach
ambulanter Untersuchung des Klägers am 23. Februar 2016 ist der Sachverständige Prof. Dr. G im ersten Teil seines Gutachtens
zu der Einschätzung gelangt, beim Kläger seien neurologische und psychische Ausfälle im Rahmen einer arterio-sklerotischen
Encephalopathie festzustellen, die mit einem Einzel-GdB von 60 zu bewerten seien. Hierbei handele es sich um eine Hirnfunktionsstörung.
Eine zeitliche Festlegung über die Dauer des Zustandes sei ihm nicht möglich. Allein aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen
könne davon ausgegangen werden, dass der Kläger in der Lage sei, eine Strecke von etwa 2000 Metern in 30 Minuten zu Fuß zurückzulegen
und zwar auch seit Mai 2012. Auch sei der Kläger bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht auf fremde Hilfe angewiesen.
Der Sachverständige Dr. WRhat den Kläger am 1. Juni 2016 untersucht und in seinem Gutachten vom 3. Juni 2016 festgehalten,
er habe den Kläger zunächst auf die von ihm geklagte körperliche Symptomatik angesprochen und sich die Beschwerden schildern
lassen. Nachdem sich dabei als Mittelpunkt der körperlichen Symptomatik eine Unsicherheit beim Laufen herausgestellt habe,
habe er den Kläger auf Hilfsmittel, wie Gehstützen oder einen Rollator hingewiesen und zur Antwort erhalten, einen solchen
wolle der Kläger nicht, obwohl er eventuell die Begleitperson ersetzen könne. Der Kläger fühle sich dann nach außen hin total
alt und krank. Zu den Bewegungsabläufen des Klägers hat der Sachverständige festgehalten, das Aufrichten vom Stuhl sei weitestgehend
unauffällig und allenfalls leichtgradig verzögert erfolgt. Der Oberkörper sei sowohl im Stehen als auch im Laufen jederzeit
aufrecht gehalten worden. Im Rahmen einer Gehprobe habe das Gangbild kleinschrittig und bedächtig gewirkt. Es habe jedoch
entgegen der Beschreibung des Klägers keinesfalls bereits nach wenigen Minuten ein auffälliges Schwanken eingesetzt. Der Kläger
habe sich langsam, aber kontrolliert und ohne Falltendenz umwenden können. Manuelle Abläufe hätten durchgehend normal gewirkt,
die Hände seien gleichförmig eingesetzt worden. Allgemeine Bewegungsabläufe wirkten verlangsamt aber jederzeit ausreichend
sicher. Eine nennenswerte Fallneigung setzte während der Begegnung nicht ein. Dies beziehe sich auch auf grob koordinative
Vorgänge. Über den Gelenken aller vier Extremitäten konnten altersgemäße Bewegungsumfänge und reizfreie periartikulare Weichteile
aufgezeigt werden. Neurologisch fanden sich keine Belege dafür, dass es an der HWS oder LWS zu einer Mitbeteiligung von Nervenstrukturen
gekommen ist. Die in den MRT-Aufnahmen dargestellte, ausgeprägte Stenose des zentralen Spinalkanals auf Höhe L4/5 hinterlasse
bisher kein typisches Beschwerdebild im Sinne einer Claudicatio-Spinalis. Keinesfalls habe die räumliche Einengung der Nervenkanäle
zu einer neurologischen Störung geführt. Weiter hat der Sachverständige festgehalten, im Funktionskreis obere Extremitäten
habe die Untersuchung keinen pathologischen Befund ergeben. Keinesfalls leide der Kläger unter einer Systemerkrankung des
Bewegungsapparates. Aufgrund des unauffälligen Zustandes aller peripheren Gelenke beider Beine sei es erlässlich gewesen,
Röntgenaufnahmen zu veranlassen. Zwar sei es durchaus möglich, dass bei dem 75 Jahre alten Kläger Verschleißprozesse entstanden
seien, doch hätten diese weder ein relevantes klinisches Erscheinungsbild noch eine Behandlungsbedürftigkeit ausgelöst. Es
ergäben sich keine Indizien für einen bedeutsamen Verschleißprozess der tragenden Gelenke im Funktionskreis untere Extremitäten.
Auf seinem Fachgebiet seien folgende Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen:
a) Funktionskreis Achsenorgan:
Degenerative Veränderungen der unteren LWS, absolute Einengung des Spinalkanales auf L4/5, keine messbare Mitbeteiligung spinaler
Nervenbahnen (GdB 20),
b) Funktionskreis untere Extremitäten:
Hüftgelenksverschleiß beidseitig mit geringen funktionellen Auswirkungen, degenerative Veränderungen beider Kniegelenke mit
geringen funktionellen Auswirkungen (GdB 10),
c) Funktionskreis venös-lymphatisches Abflusssystem:
Krampfaderleiden, Lymphstau der Beine beidseitig (GdB 20).
Eine relevante Beeinträchtigung des Gehvermögens sei auf orthopädischem Gebiet nicht erkennbar. Eine Benutzung öffentlicher
Verkehrsmittel sei dem Kläger ohne fremde Hilfe möglich. Mit zusammenfassender gutachterlicher Stellungnahme vom 12. Juli
2016 hat der Sachverständige Prof. Dr. G ausgeführt, unter Einbeziehung auch der orthopädischen Seite ergebe sich ein Gesamt-GdB
von 70. Eine maßgebliche Veränderung seit Mai 2012 sei nicht zu erkennen.
Der Beklagte ist der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. G insoweit entgegengetreten, als seines Erachtens das psychische
Leiden mit einem GdB von 60 überbewertet sei und maximal einen GdB von 50 rechtfertige.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges des
Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht - wenn auch ohne die hierfür nötige Sachaufklärung - hat das Sozialgericht
es abgelehnt, dem Kläger einen GdB von mehr als 70 zuzuerkennen bzw. die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme
der Merkzeichen G und B festzustellen.
Nach den §§
2 Abs.
1,
69 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (
SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend
den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu bewerten. Heranzuziehen sind hierbei die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG).
Im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme durch Einholung medizinscher Gutachten, deren Ergebnis und sonstigen Inhalten
der Kläger inhaltlich in keiner Weise entgegengetreten ist und das sich der Senat zu eigen macht, steht zur Überzeugung des
Senates fest, dass beim Kläger Funktionsbeeinträchtigungen im Gebiet der oberen oder unteren Extremitäten bzw. der Wirbelsäule
nicht in dem von ihm geklagten Umfange vorliegen. Insbesondere zeigt die im Wege bildgebender Verfahren festgestellte Spinalkanalstenose
bislang nicht die mit ihr möglicherweise verbundenen Auswirkungen auf die Beweglichkeit und begründet daher trotz der im bildgebenden
Verfahren nachgewiesenen Ausgeprägtheit nicht die Zuerkennung eines GdB von mehr als 20. Deutlicher auf die Gehfähigkeit des
Klägers wirken sich vielmehr dessen Adipositas und die Lymphstauung der Beine aus.
Im Ergebnis der gutachterlichen Untersuchungen ist festzustellen, dass der Kläger an folgenden Funktionsbeeinträchtigungen
seit Mai 2012 leidet:
1) Neurologische und psychische Ausfälle im Rahmen einer arteriosklerotischen Enzephalopathie,
2) a) Funktionsbeeinträchtigung des Achsenorgans,
b) Funktionsbeeinträchtigung der unteren Extremitäten,
c) Funktionsbeeinträchtigung des venös-lymphatischen Abflusssystems.
Hinsichtlich der durch orthopädische Begutachtung festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen zu 2) hat der Sachverständige
nachvollziehbar und schlüssig ausgeführt, dass die Wirbelsäule im Sinne mittelgradiger funktioneller Auswirkungen in einem
Abschnitt (LWS) betroffen sei, woraus sich nach Ziffer 18.9 der VMG ein GdB von 20 ergibt. Er hat weiter dargelegt, dass beim
Kläger eine Störung des venös-lymphatischen Abflusssystems mit deutlicher Stauung an beiden Unterschenkeln festzustellen sei,
wobei bislang weder Ulzerationen noch Insuffizienzen aufgetreten seien. Dies rechtfertigt nach Ziffer 9.2.3 einen GdB von
ebenfalls 20. Hinsichtlich der unteren Extremitäten hat der Sachverständige praktisch keine Funktionsbeeinträchtigungen der
Knie- und Fußgelenke feststellen können. Lediglich im Hüftbereich hat sich eine leichte degenerationsbedingte Einschränkung
der Beweglichkeit objektivieren lassen. Insofern ist gem. Ziffer 18.14 der VMG ein GdB von 10 angemessen.
Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet hat der Sachverständige eine arteriosklerotische Enzephalopathie festgestellt,
also eine hirnorganisch bedingte Funktionsbeeinträchtigung mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung im Sinne von Ziffer
3.1.1 der VMG, die hierfür eine GdB-Spanne von 50 bis 60 vorsieht. Ob insoweit der untere oder der obere Spannenwert anzusetzen
ist, kann hier indes dahinstehen, denn auch bei Ansetzung eines GdB von 60 ergäbe sich kein Gesamt-GdB über den beim Kläger
bereits festgestellten Wert von 70. Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der
GdB gemäß §
69 Abs.
3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann
im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung
größer wird, wobei es gem. Nr. 3.d)ee) bei einem ein GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme
des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Hiervon ausgehend, ist das orthopädische Leiden in der Gesamtschau dahingehend
zu bewerten, dass die Beeinträchtigung der LWS und die lymphatische Stauung zu einander überlagernder Symptomatik führen,
die insgesamt mit einem GdB von 20 zutreffend bewertet ist. Selbst wenn man mit dem neurologisch/psychiatrischen Sachverständigen
für das hirnorganische Leiden einen GdB von 60 annähme, würde daher ein Gesamt-GdB von mehr als 70 nicht erreicht werden.
Die Berufung bleibt auch in Bezug auf die begehrten Merkzeichen G und B ohne Erfolg. Gemäß §
145 Abs.
1 Satz 1
SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt
sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen
Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§
69 Abs.
1 und 4
SGB IX).
Nach §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens
nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen
vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse
des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen -
noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die
in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke
nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in §
145 Abs.
1 Satz 1, §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein
und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R -, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen,
die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer
dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, - 9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen
in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung
des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung
getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert
wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem
der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo
und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all
jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen
im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus
anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob - wie überwiegend vertreten wird
(so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu §
69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 - L 8 SB 3119/08 - in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 - L 8 SB 2723/13 -; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 - L 10 SB 154/12 -; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 - L 13 SB 12/08 -) - die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg
sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung
des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus
den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II
S. 15) Rechnung getragen, indem er in §
70 Abs.
2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung
des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen
Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen
sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen
Rechtslage (vgl. §
159 Abs.
7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).
Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer
Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat - über die genannten Regelbeispiele hinausgehend - vielmehr auch
der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen
auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots
(Art.
3 Abs.
3 Satz 2
GG; Art.
5 Abs.
2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen
sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 - 9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger nicht erheblich gehbehindert. Beide Sachverständige haben in ihren Gutachten nachvollziehbar
herausgearbeitet, dass der Kläger die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G nicht erfüllt.
Denn nach der überzeugenden Einschätzung der Gutachter, der sich der Senat anschließt, ist das Gehvermögen des Klägers nicht
behinderungsbedingt so weit eingeschränkt, dass er nicht Wegstrecken im Ortsverkehr in adäquater Zeit zu Fuß zurücklegen könnte.
Insbesondere könnte er nach den Ausführungen des orthopädischen Gutachters nötigenfalls ohne weiteres einen sog. Rollator
zu Hilfe nehmen, um eventuell auftretende Gangunsicherheiten abzufangen, wolle dies aber nicht, weil er mit einem solchen
Hilfsmittel zu alt aussehe. Damit sind offenkundig auch die Voraussetzungen der §§
145 Abs.
2 Nr.
1,
146 Abs.
2 SGB IX für das Merkzeichen B nicht gegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.