Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit einer Klagerücknahme.
Der 1951 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich pflegeversichert.
Mit seiner am 29.09.2016 vor dem Sozialgericht Köln erhobenen und dort unter dem Aktenzeichen S 9 P 211/16 geführten Klage hat er sich gegen die Ablehnung seines (am 25.04.2016 gestellten) Antrages auf Pflegeleistungen (durch Bescheid
der Beklagten vom 24.05.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2016) gewandt. Nachdem der gerichtlich bestellte
Sachverständige (Dr. E) in seinem Gutachten (vom 27.01.2017) einen Pflegebedarf in der Grundpflege von lediglich 11 Minuten
festgestellt hatte, hat der vom Kläger zwischenzeitlich mandatierte Prozessbevollmächtigte (vgl. Vollmacht vom 16.03.2017)
- Rechtsanwalt F - die Klage im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 11.10.2017 zurückgenommen und zugleich einen Antrag
auf Bewilligung von Leistungen nach dem ab dem 01.01.2017 geltenden Recht gestellt. Die Sitzungsniederschrift des beigezogenen
Verfahrens, auf die ergänzend Bezug genommen wird, ist an den Kläger von seinem Anwalt weitergeleitet worden. Mit Schreiben
vom 22.10.2017 hat der Kläger seinem Anwalt mitgeteilt, dass er mit der Klagerücknahme nicht einverstanden sei, er begehre
"Rückversetzung in den vorigen Stand"; das Schreiben hat er zugleich dem SG übersandt. Das SG teilte dem Kläger mit, dass das Verfahren durch die anwaltliche Klagerücknahme beendet sei.
Der Kläger hat sich darauf durch erneute (mit Schreiben vom 23.11.2018 erhobene) Klage vor dem Sozialgericht gegen die Rücknahme
seiner Klage auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung gewandt. Seit Februar 2017 erhalte er von der Beklagten einen
monatlichen Entlastungsbetrag von EUR 125,00 für 60 Stunden im Monat im Rahmen der Nachbarschaftshilfe nach §
45b Sozialgesetzbuch Elftes Buch (
SGB XI), der für die Pflegeperson einen unter dem Mindestlohn liegenden Stundenlohn von EUR 2,00 bedeute. Er benötige insbesondere
Mobilitätsbegleitung, die nur von wenigen Pflegediensten zu deutlich teureren Bedingungen angeboten würde. Die rückwirkende
Leistungsgewährung sei ihm durch die Rücknahme seiner berechtigten Klage ebenso "verbaut" worden wie die Berufung vor dem
Landessozialgericht. Sein Rechtsanwalt habe es versäumt vorzutragen, dass er über einen anerkannten Grad der Schwerbehinderung
von 100 (Merkzeichen G und B) verfüge. Dr. E habe ihn nach den Kriterien der Pflegestufen begutachtet, obwohl seit dem 01.01.2017
das neue Recht anzuwenden gewesen sei. Da ihm seine Rechtsschutzversicherung die Kostenzusage verweigere, sehe er sich gezwungen,
persönlich zu klagen.
Der Kläger hat den Sachverhalt überdies auch dem Bundessozialgericht zur Kenntnis gebracht.
Der Kläger hat sinngemäß beantragt,
festzustellen, dass die Klage unter dem Az. S 9 P 211/16 nicht erledigt ist und ihm rückwirkend Leistungen der sozialen Pflegeversicherung zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, der Rechtsstreit S 9 P 211/16 - der auch materiell nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keine Erfolgsaussichten versprochen hätte - sei aufgrund der Rücknahme
der Klage durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers wirksam beendet. Ergänzend hat sie erläutert, dass sie dem Kläger
nach entsprechender Begutachtung durch den Medizinischen Dienst aus 2018 mittlerweile aufgrund bestandskräftigen Bescheides
vom 19.01.2018 rückwirkend seit dem 20.01.2017 Leistungen nach dem Pflegegrad 1 gewähre.
Nach vorheriger Anhörung der Beteiligten (vgl. Richterbrief vom 09.07.2019) hat das Sozialgericht die Klage durch Gerichtsbescheid
vom 11.11.2019 abgewiesen. Die Klage sei unzulässig. Der unter dem Aktenzeichen S 9 P 211/16 geführte Rechtsstreit sei durch die von Rechtsanwalt F erklärte Klagerücknahme gem. §
102 Abs.
1 S. 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) erledigt. Nach der vorliegenden Prozessvollmacht bestünden keinen Zweifel an der Befugnis des Anwalts auch prozessbeendende
Erklärungen abzugeben. Diese Erklärung müsse sich der Kläger auch zurechnen lassen. Als Prozesshandlung sei sie nach ständiger
höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht anfechtbar. Wiederaufnahmegründe nach §
179 SGG i.V.m. §§
579,
580 Zivilprozessordnung (
ZPO) lägen nicht vor.
Der Kläger hat gegen den (den Beteiligten jeweils am 19.11.2019) zugestellten Gerichtsbescheid am 28.11.2019 Berufung eingelegt.
Zur Begründung hat er ausgeführt, Hintergrund seines Leistungsantrages sei ein Schlaganfall gewesen, der stationär mit anschließender
Rehabilitationsmaßnahme behandelt worden und Ursache für die Heraufsetzung seines Schwerbehindertengrades gewesen sei. Die
Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen stünden in Widerspruch zur Einschätzung seiner Rehaärzte und des Versorgungsamtes.
Er habe seinen Rechtsanwalt ausdrücklich gebeten, dass er vor einer gerichtlichen Entscheidung ausführlich informiert werden
wollte, stattdessen habe dieser die Klage zurückgezogen. Da er täglich 2 Stunden fremde Hilfe benötige, entspreche seine Pflegebedürftigkeit
Pflegestufe I. Er wolle sich nicht mit dem eigenmächtigen Handeln seines Rechtsanwaltes abfinden.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 11.11.2019 zu ändern und festzustellen, dass die Klage unter dem Aktenzeichen
S 9 P 211/16 nicht erledigt ist und ihm rückwirkend ab April 2016 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie sieht sich durch den angegriffenen Gerichtsbescheid in ihrer Rechtsauffassung bestätigt. Die Prozessvollmacht habe den
Rechtsanwalt des Klägers auch zur Prozessbeendigung legitimiert. Im Übrigen sage der Grad der Behinderung nichts über den
Grad der Pflegebedürftigkeit aus, so dass die ursprüngliche Klage auch in Kenntnis der Höherstufung durch das Versorgungsamt
keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Der Kläger unterliege insoweit einer Fehlvorstellung. Die von Dr. E festgestellten
20 Minuten Hilfebedarf in der Grundpflege lägen weit unter dem von Pflegestufe I vorausgesetzten Wert von 45 Minuten. Schließlich
habe der Kläger auch bei der Neubegutachtung im Januar 2018 nur die untere Grenze von Pflegegrad 1 erreicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte, sowie die Akten des beigezogenen
Verfahrens des Sozialgerichts Köln (S 9 P 211/16) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung des Klägers zulässig, sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt und auch statthaft im Sinne von §§
143,
144 Abs.
1 SGG.
Bei Berufungen, die sich gegen die Feststellung eines Sozialgerichts wenden, der Rechtsstreit sei erledigt, ist §
144 Abs.
1 SGG mit der Maßgabe zu prüfen, was Streitgegenstand des ursprünglichen Klageverfahrens war (vgl. BSG Urteil vom 10.10.2017, B 12 KR 3/16 R, juris; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30.01.2013, L 5 AS 347/12, juris). Dem Rechtsstreit, dessen Fortsetzung der Kläger begehrt, lag die Versagung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
wegen Pflegebedürftigkeit ab dem 25.04.2016 zu Grunde. Prüfungsmaßstab für dieses Verfahren war nach der Überzeugung und mittlerweile
gefestigten Rechtsprechung des erkennenden Senates (vgl. zuletzt Urteil vom 12.12.2019, L 5 P 2/20 R, juris, Rn. 33 m.w.N.) aufgrund Antragstellung aus April 2016 das bis zum 31.12.2016 geltende Recht. Dies folgt bereits
aus dem ausdrücklichen und eindeutigen Wortlaut der Überleitungsnorm des §
140 Abs.
1 SGB XI i.d.F. vom 21.12.2015: Danach erfolgt die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit oder einer erheblich eingeschränkten
Alltagskompetenz nach § 45a in der am 31.12.2016 geltenden Fassung jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts, und zwar auch dann, wenn der zu beurteilende Zeitraum - wie hier - über den 31.12.2016 hinausgeht (Urteil vom 08.06.2017,
a.a.O.; a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.05.2019, L 30 P 59/17, juris m.w.N.).
Auf den weiteren Antrag vom 11.10.2017 erhält der Kläger jedoch mittlerweile kraft bestandskräftigen Bescheides der Beklagten
vom 19.01.2018 rückwirkend ab dem 20.01.2017 Leistungen nach Pflegegrad 1. Dieser weitere Antrag stellt eine Zäsur dar: Die
hierauf erfolgte Bewilligung hat die ursprünglich streitige ablehnende Leistungsentscheidung abgelöst und im Sinne von § 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) erledigt (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2007, B 8/9b SO 12/06 R, juris, Rn. 8). Damit ist streitgegenständlich ein Zeitraum von rund 9 Monaten
(genauer: 25.04.2016 bis 19.01.2017). Unter weiterer Zugrundelegung der Pflegesätze 2016 (Pflegegeld: EUR 244,00 monatlich)
ist der Berufungsstreitwert von EUR 750,00 damit erreicht.
II.
Die Berufung ist jedoch unbegründet.
Das Sozialgericht Köln hat im Ergebnis zu Recht festgestellt, dass das unter dem Aktenzeichen S 9 P 211/16 geführte Verfahren durch Klagerücknahme wirksam beendet worden ist. Soweit das Sozialgericht diese rechtsgestaltende Feststellung
im lediglich klageabweisenden Tenor nicht ausdrücklich berücksichtigt hat, war dies durch das Rechtsmittelgericht von Amts
wegen durch einen entsprechenden Maßgabeausspruch klarzustellen (§
138 SGG; hierzu Keller in: Meyer-Ladewig u.a.,
SGG, 13. Aufl. 2020, §
138 Rn. 3c).
1.
Die vom Kläger mit seinem Hauptantrag erhobene Klage ist zulässig, aber unbegründet.
a. Der Kläger begehrt die Feststellung der Unwirksamkeit der Klagerücknahme und damit die Fortsetzung des ursprünglich unter
dem Aktenzeichen S 9 P 211/16 geführten Prozesses. Eine solche auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses gerichtete
Feststellungsklage (§
55 Abs.
1 Nr.
1 SGG) ist entgegen der Darstellung des Sozialgerichts zulässig, da sonst kein effektiver Rechtsschutz im Streit um die Fortsetzung
eines Rechtsstreits möglich wäre (vgl. BSG, Urteil vom 28.11.2002, B 7 AL 26/01 R, juris, Rn. 20; LSG NRW, Urteil vom 30.01.2019, L 12 AS 456/18, juris, Rn. 23; Schmidt in: Meyer-Ladewig u.a.,
SGG, a.a.O., §
102 Rn. 12 ff).
b. Diese Klage ist jedoch unbegründet. Es ist festzustellen, dass die von dem ehemaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers
im erstinstanzlichen Verhandlungstermin vom 11.10.2017 zu Protokoll erklärte Klagerücknahme das Verfahren mit dem Aktenzeichen
S 9 P 211/16 wirksam beendet hat.
Eine Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit nach §
102 Abs.
1 S. 2
SGG in der Hauptsache. Diese Voraussetzungen liegen vor.
Der vom Kläger mandatierte Rechtsanwalt F war laut vorliegender Prozessvollmacht (vom 16.3.2017) ausdrücklich zur Prozessführung
und dabei auch konkret zur Erledigung des Rechtsstreits befugt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung durfte er daher die Klage
zurücknehmen.
Soweit diese Erklärung nach der Sitzungsniederschrift entgegen §
122 SGG i.V.m. §§
160 Abs.
3 Nr.
8,
162 Abs.
1,
165 Zivilprozessordnung (
ZPO) nicht auch vorgespielt, sondern nur "laut diktiert und genehmigt" wurde, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Das fehlende
erneute Vorspielen hat nicht die Unwirksamkeit der einseitigen Prozesshandlung zur Folge, sondern führt nur dazu, dass dem
Protokoll die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde fehlt, sofern Abgabe und Inhalt der Erklärung anderweitig bewiesen werden
können (so grundlegend und ausdrücklich zur Klagerücknahme: BSG, Urteil vom 12.03.1981, 11 RA 52/80, juris). Hieraus wachsen aber im vorliegenden Fall keine Konsequenzen, da die Abgabe der prozessbeendenden Erklärung zwischen den Beteiligten unstreitig ist. Im Übrigen macht jedoch §
102 S. 1
SGG die Klagerücknahme von keiner Form abhängig, so dass auch die einfache Erklärung in der mündlichen Verhandlung gegenüber
dem Prozessgericht ausreichend ist (BSG, a.a.O.).
Eine etwaige Beschränkung der durch Vollmacht - uneingeschränkt - erteilten Prozessbefugnis ist nach Außen in keiner Weise
zu Tage getreten. Vereinbarungen im Innenverhältnis vermögen indes die Wirksamkeit der Klagerücknahme nicht zu beseitigen
(vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig, a.a.O., § 102 Rn. 7c).
Die Erklärung der Klagerücknahme unterliegt als Prozesserklärung weder unmittelbar noch in entsprechender Anwendung den Regelungen
des Bürgerlichen Gesetzbuch zur Anfechtung einer Willenserklärung (grundlegend: BSG, Urteil vom 06.04.1960, 11/9 RV 214/57; BSG, Beschluss vom 19.03.2002, B 9 V 75/01 B; BSG; Beschluss vom 24.04.2003, B 11 AL 33/03 B, jeweils juris). Weder das
SGG noch die
Zivilprozessordnung enthalten entsprechende Vorschriften. Prozesshandlungen können nur unter besonderen Umständen widerrufen werden. Dies kann
insbesondere in Betracht kommen, wenn die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß §
179 SGG i.V.m §§
578 ff.
ZPO bzw. §
180 SGG gegeben sind. Hierfür liegen weder Anhaltspunkte vor, noch werden diese vom Kläger geltend gemacht.
2.
Soweit der Kläger die rückwirkende Gewährung von Leistungen (für den auf die Zeit vom 25.04.2016 bis 19.01.2017 begrenzten
Zeitraum) im Rahmen einer Leistungsklage begehrt, ist bereits die innerprozessuale Bedingung für diesen (Hilfs-)antrag nicht
eingetreten, da der Antrag an die Bedingung der gerichtlichen Feststellung der Fortsetzung des ursprünglichen Rechtsstreits
geknüpft ist. Lediglich klarstellend weist der Senat darauf hin, dass der Kläger insoweit ohnehin nur eine Zurückverweisung
an das Sozialgericht hätte erreichen können, da die erste Instanz bisher keine rechtsmittelfähige Entscheidung zur Frage der
Leistungsvoraussetzungen getroffen hat und treffen musste (BSG, Urteil vom 28.11.2002, a.a.O.).
III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§
193,
183 SGG.
IV. Gründe für eine Zulassung der Revision nach Maßgabe des §
160 Abs.
2 SGG sind nicht ersichtlich.