Anspruch auf Anerkennung von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto nach dem ZRBG in der gesetzlichen Rentenversicherung
Anforderungen an den Begriff des Ghettos
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf eine Witwenrente. Dabei geht es wesentlich um die Voraussetzung
einer Beschäftigung in einem Ghetto, insbesondere darum, ob der verstorbene Ehemann der Klägerin (Versicherter) in einem Ghetto
gelebt hat.
Die 1921 geborene Klägerin ist die Witwe des am 1912 in P /Ka geborenen und am 2007 in den USA verstorbenen J K. Dieser war
jüdischen Glaubens und Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Nach der Befreiung lebte er 1945/1946 in
S , 1946 wanderte er in die USA aus, deren Staatsbürgerschaft er annahm.
Der Versicherte beantragte am 23. August 2002 bei der Landesversicherungsanstalt Freie und Hansestadt Hamburg als Rechtsvorgängerin
der Beklagten eine Altersrente und führte hierzu aus, er habe bis 1933 die Elementarschule und das Gymnasium besucht und von
1940 bis 1942 in P im Straßenbau gearbeitet ("road work"). Die Beklagte zog die über den Versicherten geführte Akte des Amtes
für Wiedergutmachung in Saarburg bei. In dem Antrag auf Entschädigung hatte der Kläger angegeben, er sei von März 1942 bis
Oktober 1943 im Zwangsarbeitslager (ZAL) Kb , von Oktober 1943 bis Dezember 1944 im ZAL M und von Dezember 1944 bis 9. Mai
1945 im Konzentrationslager (KZ) G /P inhaftiert gewesen. In einer eidesstattlichen Versicherung vom 6. Mai 1955 hatte er
angegeben, er sei nach dem Besuch der Volksschule (7 Jahre) in das Getreide- und Lebensmittelgeschäft seines Vaters eingetreten.
P sei 1939 von den Deutschen besetzt worden. Die Juden hätten den Davidstern und die Armbinde tragen müssen. Er habe ab Februar
1940 in einer Zwangskolonne arbeiten müssen und sei täglich unter deutscher Bewachung 16 km zum Arbeitseinsatz im Straßenbau
hin- und zurückgegangen. Er habe unter ständiger Bewachung gearbeitet. Nach der Rückkehr am Abend habe die jüdische Bevölkerung
nicht mehr auf die Straße gehen dürfen. Gearbeitet habe er bis März 1942. Danach seien alle neun jüdischen Familien des Ortes
nach B und anschließend in das ZAL Ba gekommen. Er habe dort wie auch alle anderen arbeitsfähigen Männer und Frauen unter
polnischer Bewachung bei der Firma F gearbeitet und Holzarbeiten verrichtet. In einer eidesstattlichen Versicherung vom 25.
Juni 1957 hatte der Versicherte erklärt, er sei vor dem Krieg Teilhaber und Geschäftsleiter des Kolonialwarengeschäfts seines
Vaters gewesen. Das Geschäft habe sich im eigenen Haus befunden. Sie hätten mit allem gehandelt, was die Bauern der Umgebung
gebraucht hätten. Sie hätten auch eigene Felder mit einer Fläche von 10 Joch bebaut. Er habe in der Umgebung Getreide aufgekauft,
habe es mahlen lassen und weiterverkauft. In einem ärztlichen Gutachten vom 10. Mai 1962 ist ausgeführt, der Versicherte habe
von 1930 bis 1940 im Geschäft der Eltern mitgearbeitet, von 1940 bis 1942 Zwangsarbeit verrichtet und sei von 1942 bis 1945
in einem KZ interniert gewesen.
In eidesstattlichen Versicherungen vom 17. Mai 1955 hatten die Zeugen Ja M und Z Jb Kc eidesstattlich ausgesagt, sie hätten
den Versicherten seit 1942 gekannt. Sie seien alle im ZAL Ba interniert gewesen. Von dort seien sie nach Kb verbracht worden
und hätten Holzarbeiten verrichtet. Im September 1943 seien sie in das KZ M verbracht worden, von dort im Juli/August 1944
in die KZs W , Ka -Pa und G , anschließend nach B , wo sie in einer Munitionsfabrik gearbeitet hätten. Dort seien sie am 8.
Mai 1945 von den russischen Truppen befreit worden.
Mit Bescheid vom 10. Dezember 2002 lehnte die Landesversicherungsanstalt Freie und Hansestadt Hamburg den Antrag des Versicherten
auf Altersrente ab und führte zur Begründung aus, die Wartezeit für eine Rente sei nicht erfüllt. Die Zeit vom 1. Februar
1940 bis März 1942 können nicht als Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto anerkannt werden, da der Ort nicht als Ghetto
ausgewiesen sei, die Zeit von März 1942 bis 8. Mai 1945 könne nicht anerkannt werden, weil der Versicherte sich in ZAL und
KZs aufgehalten habe. Den Widerspruch des Versicherten vom 15. Januar 2003, der nicht weitergehend begründet wurde, wies die
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2004 zurück. 2009 nahm die Beklagte im Hinblick auf die geänderte Rechtsprechung
des BSG eine Überprüfung der Entscheidung von Amts wegen vor; mit Bescheid vom 6. Oktober 2010 lehnte sie eine Altersrente mit gleichlautender
Begründung ab.
Am 26. April 2012 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Witwenrente und begehrte hierzu die Anerkennung
von Ghettozeiten, die Anerkennung von Ersatzzeiten gemäß §
250 Abs.
1 Nr.
4 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) sowie die Berechtigung zur freiwilligen Weiterversicherung gemäß §
7 SGB VI.
Mit Bescheid vom 8. Mai 2012 lehnte die Beklagte mit gleicher Begründung wie gegenüber dem Versicherten den Antrag ab. Mit
ihrem Widerspruch vom 23. Mai 2012 führte die Klägerin aus, der Versicherte habe in P in einem Ghetto gelebt. Es sei unerheblich,
dass der Ort nicht in der sogenannten Ghetto-Liste eingetragen sei. Maßgeblich sei, ob die begrifflichen Voraussetzungen für
ein Ghetto erfüllt seien. Hierzu stützte sich die Klägerin auf Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 1. September
2006 - L 14 R 41/05 - Urteil vom 15. Dezember 2006 - L 13 R 112/04 - Urteil vom 31. März 2008 - L 3 (8,4) R 20/06 -). Im Übrigen müssten Ghettozeiten auch dann anerkannt werden, wenn ein Ghetto
im engeren Sinne nicht existiert habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2013 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Sie führte aus, in P bei Ka habe kein Ghetto existiert. Ein Ghetto im Sinne des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus
Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) müsse drei Merkmale aufweisen, nämlich die Absonderung, Konzentrierung und die internierungsähnliche
Unterbringung der jüdischen Bevölkerung. Dies beginne mit der Kennzeichnung durch den Davidsstern, regelmäßig vom Judenbann
gefolgt, also dem Verbot für die Juden, bestimmte Stadtbezirke zu betreten, verbunden mit strengen Wirtschafts- und Verkehrsbeschränkungen.
Schließlich sei die jüdische Bevölkerung in einem Stadtbezirk konzentriert worden, gegebenenfalls unter dessen Abriegelung.
Indizien für ein Ghetto seien die Beschränkung der Freizügigkeit, die Zuweisung eines Wohngebiets, wobei eine Zwangsumsiedlung
noch nicht zur Konzentration führe, die Zusammenziehung der jüdischen Bevölkerung des Umlands in bestimmten Ortschaften oder
Stadtvierteln, die Einrichtung einer Verwaltung, etwa dem Judenrat und einer Ghettopolizei, die Bildung einer spezifischen
jüdischen Arbeitsorganisation, die Reste einer urbanen Struktur sowie die überwiegende Unterbringung in einem Familienverband.
Nach den Angaben in der Entschädigungsakte habe der Versicherte täglich unter Bewachung im Straßenbau in einer Arbeitskolonne
Zwangsarbeiten verrichten müssen. Abends habe er nur bei Lebensgefahr auf die Straße gehen können. Alle anderen Angaben hätten
sich auf die Verfolgungszeit ab März 1942 in dem ZAL B sowie den KZs M , W , Ka -Pa und G bezogen. Eine Konzentration und
internierungsähnliche Unterbringung der jüdischen Bevölkerung sei nicht erwähnt. Das Tragen des Davidsterns und die Ausgangssperre
reichten nicht aus, um ein Ghetto anzunehmen. Es seien im Übrigen auch keine historischen Erkenntnisse über ein Ghetto in
P vorhanden. In dem benachbarten Ba habe die jüdische Bevölkerung bis 1941 unter "normalen" Verhältnissen leben können.
Dagegen hat die Klägerin am 21. März 2013 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Sie hat vorgetragen, die Begründung der
Beklagten berücksichtige nicht die Verhältnisse in den kleinen Landstädten Polens, in denen die Bevölkerungszahl für die Einrichtung
eines eigenen Ghettos und eines jüdischen Arbeitsamtes zu gering gewesen sei. Der Ort P habe in einem Gebiet gelegen, das
überwiegend - nach damaligem Sprachgebrauch - von sogenannten Volksdeutschen besiedelt gewesen sei und habe ungefähr 600 Familien
umfasst. Etwa 81 Juden hätten dort gelebt, die später nach Ba ausgesiedelt worden seien. Mit Ausbruch des Krieges sei in der
nahe gelegenen Stadt M ein Judenrat eingerichtet worden, der auch für P zuständig gewesen sei und dem Versicherten die Beschäftigung
in der Straßenausbesserung verschafft habe. Nach der damaligen Verordnungslage sei für die Juden auf dem Land der Judenrat
der nächsten Stadt zuständig gewesen. Wegen des Davidsterns habe der Versicherte nur über den Judenrat mit der übrigen Bevölkerung
in Kontakt treten können. Für ihn hätten die Aufenthaltsbeschränkungen des § 4 der 1. Durchführungsvorschrift vom 11. Dezember
1939 (VOBlGGB 1939, Seite 231) gegolten. Ohne Genehmigung habe er den Wohnort nicht verlassen dürfen und er habe die Sperrzeiten
einhalten müssen. Damit habe er in ghettoähnlichen Verhältnissen gelebt. Die Juden hätten in besonderen Häusern leben müssen,
die nur ihnen vorbehalten und mit dem Davidstern gekennzeichnet gewesen seien. Das Ghetto sei ein unbestimmter Rechtsbegriff,
dessen Auslegung sich am Zweck des ZRBG orientieren müsse. Das nationalsozialistische Unrecht solle dadurch wieder gutgemacht
werden, daher sei eine weite Auslegung des Begriffs erforderlich. Mit der gesetzlichen Regelung des ZRBG sollten die für ein
Ghetto typischen Beschäftigungen rentenrechtlich berücksichtigt werden.
Die Klägerin hat schriftlich beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 8. Mai 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2013
zu verurteilen, ihr unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten von Februar 1940 bis Februar 1942 eine Witwenrente aus
der Versicherung ihres am 23. März 2007 verstorbenen Ehemannes J K zu gewähren.
Die Beklagte hat schriftlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide bezogen und ausgeführt, es habe ein P kein institutionalisiertes Ghetto
und keinen entsprechenden Wohnbezirk gegeben.
Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Professors für osteuropäische Geschichte Dr. G vom 14. März 2016 beigezogen und eine
ergänzende Stellungnahme vom 15. März 2016 eingeholt. Nach Hinweis auf die beabsichtigte Verfahrensweise hat es die Klage
mit Gerichtsbescheid vom 8. September 2016 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Begriff des Ghettos
sei gesetzlich nicht definiert. Es handele sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung sich am Sinn und Zweck
des ZRBG orientieren müsse. Der rentenversicherungsrechtliche Entgeltbegriff habe unter den in den Ghettos herrschenden Bedingungen
seinen Sinn verloren. Maßgeblich komme es für die Definition eines Ghettos darauf an, ab wann für Verfolgte des Nationalsozialismus
Lebens- und Arbeitsbedingungen vorgelegen hätten, bei denen eine Beurteilung von Beschäftigungen nach rentenversicherungsrechtlichen
Maßstäben nicht mehr sinnvoll sei. Die Bildung der Ghettos habe verschiedene Stadien durchlaufen und die Zusammenfassung der
jüdischen Bevölkerung in abgetrennten Wohnbezirken sei nur der Abschluss dieser Entwicklung. Der Begriff des Ghettos sei weit
zu fassen. Ein Ghetto sei ein abgegrenztes Wohnviertel in einer Stadt oder einem städtischen Gefüge, das eine formale Selbstverwaltung
durch Judenräte oder Judenälteste gehabt habe und in dem in einem gewissen Rahmen der Schein eines selbstbestimmten Lebens
aufrechterhalten worden sei. Ein Zwangsaufenthalt in einem Ghetto sei anzunehmen, wenn die Kriterien der Konzentration, der
Absonderung und der internierungsähnlichen Unterbringung vorlägen, d.h. der Aufenthalt rechtlich oder tatsächlich auf dieses
bestimmte Wohngebiet beschränkt gewesen sei und die Aufenthaltsbeschränkungen durch die Androhung schwerster Strafen oder
durch Gewaltmaßnahmen erzwungen worden seien. Die Maßnahmen zur Absonderung und Einschränkung der Freizügigkeit müssten eine
Intensität erreicht haben, die in vergleichbarer Weise wie Mauern oder Zäune den Aufenthalt beschränkten. Dabei sei es nicht
notwendig, dass der Aufenthalt in dem Bezirk auf einer behördlichen Weisung beruhe. Es sei auch nicht entscheidend, ob in
dem Bezirk ausschließlich oder überwiegend Juden gewohnt hätten. Diese Merkmale hätten bei dem Versicherten nicht bestanden.
Vielmehr hätten die jüdischen Familien innerhalb des gesamten Dorfes in ihren Häusern gewohnt. Es sei nicht erkennbar, dass
der Versicherte in einem bestimmten und besonders gekennzeichneten Haus habe wohnen müssen. In dem kleinen Ort P habe allerdings
sowieso jeder gewusst, wo welche Familie gewohnt habe. Die jüdischen Familien hätten dort wie überall im Generalgouvernement
unter Unterdrückungsmaßnahmen wie Ausgangssperren, der Pflicht zum Tragen der Armbinde mit Davidstern, Wohnsitzbindung und
dem Verbot der Ausübung bisheriger Tätigkeiten gelitten. Eine Konzentration und Internierung sei nach Aussage des Sachverständigen
Prof. Dr. G nicht erfolgt. Zwar sei in dem Vorspann zur Ghettoliste der ZRBG-Lenkungsgruppe ausgeführt, dass unter anderem
für das Generalgouvernement ab 1. Januar 1940 auf den Beginn der Ghettobildung nach Verordnungslage abgestellt werden könne,
sofern eine Beschäftigung im Sinne des ZRBG schon vor dem angegebenen Eröffnungszeitpunkt eines jeweiligen Ghettos glaubhaft
gemacht worden sei. Jedoch habe der Versicherte im Entschädigungsverfahren angegeben, dass die neun jüdischen Familien von
P im März 1942 nach Ba umgesiedelt und von dort nach B verlegt worden seien. Dort hätten sie unter polnischer Aufsicht Holzarbeiten
ausführen müssen und in Baracken gewohnt. Das Verlassen des Lagers sei bei Todesstrafe verboten gewesen. In dem eingeholten
Gutachten sei ausgeführt, dass in Ba am 3. Juni 1942 ein Ghetto eingerichtet und im Juli 1942 wieder liquidiert worden sei.
Es sei daher möglich, dass der Versicherte nach Ba gekommen sei, um die Straßenbauarbeiten fortzusetzen und sich kurzzeitig
in dem dortigen Ghetto aufgehalten habe. Nur unter der Annahme dieses Geschehensablaufs wäre eine Arbeitstätigkeit aus einem
Ghetto heraus anzunehmen. Jedoch habe der Versicherte in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 6. Mai 1955 angegeben, er
sei im März 1942 von P nach Ba gebracht worden und nach wenigen Tagen in das zentrale Aufnahmelager B gekommen. Weder in seinem
eigenen Rentenverfahren noch im Verfahren der Klägerin sei vorgetragen, dass der Versicherte sich im Ghetto Ba aufgehalten
habe. Auch bei großzügiger Auslegung des Ghettobegriffs sei die Beitragszeit daher nicht glaubhaft.
Gegen die ihrem Prozessbevollmächtigten am 13. September 2016 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin,
die am 19. September 2016 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Zur Begründung trägt die Klägerin
vor, der Versicherte habe in P in einem Ghetto gelebt. Nach der Rechtsprechung des BSG sei ein Ghetto anzunehmen, wenn die Freiheit intensiv beeinträchtigt worden sei mit Aufenthaltsbeschränkungen auf einen zugewiesenen
Wohnbezirk, mit vollständiger und nachhaltiger Absonderung von der Umwelt und abgesichert durch Androhung schwerster Strafe
bei Verletzung der Aufenthaltsbeschränkung. Das LSG Nordrhein-Westfalen verlange in seiner Rechtsprechung bei offenen Ghettos
eine aufgezwungene und kontrollierte Separierung in einem bestimmten Wohnbezirk. Die Merkmale der Konzentration, Absonderung
und Internierung seien für den Ghettobegriff zwar erforderlich. Dieser sei jedoch weit zu fassen und die drei Begriffsmerkmale
seien den individuellen Verhältnissen anzupassen. Ein erzwungener begrenzter Aufenthalt in einem einzelnen Haus sei dem Aufenthalt
in einem Wohnbezirk gleichzusetzen. Maßgeblich seien die entschädigungsrechtlichen Anwendungsgrundsätze des Bundesgerichtshofs
und des Bundessozialgerichts heranzuziehen. Selbst die Beklagte gehe bei einem Aufenthalt in den sogenannten Ghettohäusern
in Budapest von einem Aufenthalt in einem Ghetto aus. Die Juden seien in P abgesondert worden, da es ihnen nach Rückkehr von
ihrer Beschäftigung untersagt gewesen sei, ihre Häuser zu verlassen und mit der übrigen deutschen Bevölkerung, den sogenannten
Volksdeutschen, in Kontakt zu treten. Diese hätten eine ständige Beobachtung und Kontrolle der Juden ausgeübt und sie in ihren
eigenen Häusern überwacht. Die Juden seien in ihren Häusern zwangsuntergebracht gewesen, weil sie nicht mehr hätten entscheiden
können, wo sie hätten wohnen wollen. Auch der Versicherte habe sich täglich nach der Beschäftigung in der Wohnung seiner Eltern
aufhalten müssen. Eine Konzentration der jüdischen Bevölkerung sei in P schon wegen der geringen Zahl der Familien nicht möglich
gewesen. Eine Kennzeichnung des Hauses der Familie sei gar nicht erforderlich gewesen, weil dieses in dem Ort als Wohnhaus
von Juden bekannt gewesen sei und deshalb die sogenannten Volksdeutschen die Kontrolle hätten ausüben können. Die Isolierung
und Überwachung sei faktisch erfolgt. Die Verhältnisse seien denen in einem Ghetto ähnlich gewesen. Das Gutachten von Prof.
Dr. G sei insofern nicht eindeutig und widersprüchlich.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 8. September 2016 sowie den Bescheid vom 8. Mai 2012 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr aus der Versicherung des am 26.
Januar 1912 geborenen und am 23. März 2007 gestorbenen J K eine Hinterbliebenenrente nach Maßgabe der Bestimmungen des ZRBG
und der weiteren gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich weiterhin auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Dem Senat haben die den Versicherten und die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Prozessakte vorgelegen.
Zur Ergänzung der Einzelheiten wird darauf Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Sie ist auch insofern begründet, als die Klägerin gegenüber der Beklagten für die Zeit von Februar 1940 bis Februar 1942 einen
Anspruch auf Anerkennung von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto im Sinne des ZRBG in der Versicherung ihres verstorbenen
Ehemannes J K hat. Das Urteil des Sozialgerichts und die Bescheide der Beklagten verletzen die Klägerin in ihren Rechten und
waren daher aufzuheben. Ob die weiteren Voraussetzungen des §
46 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) für eine Hinterbliebenenrente, insbesondere die Wartezeit gemäß §
50 Abs.
1 SGB VI (§
46 Abs.
1 SGB VI), erfüllt sind, lässt sich den Akten nicht entnehmen und konnte in der mündlichen Verhandlung auch nicht geklärt werden.
Da die Beteiligten erkennbar allein darüber streiten, ob der Versicherte in einem Ghetto im Sinne des ZRBG beschäftigt war
und angesichts des fortgeschrittenen Alters der Klägerin im Interesse einer kurzfristigen Entscheidung hat der Senat jedoch
davon abgesehen, weitere Ermittlungen durchzuführen und die Entscheidung auf die Anerkennung der Beschäftigungszeiten beschränkt.
Es kann davon ausgegangen werden, dass die Beklagte das Urteil nach Eintritt der Rechtskraft leistungsrechtlich umsetzt.
§ 2 Abs. 1 ZRBG in der Fassung des Ersten Änderungsgesetzes vom 15. Juli 2014 (BGBl I S. 952) bestimmt, dass für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge als gezahlt gelten. Pflichtbeiträge,
die nach besonderen Bestimmungen als gezahlt gelten, begründen gemäß §
55 Abs.
1 Satz 2
SGB VI Pflichtbeitragszeiten, die wiederum gemäß §
51 Abs.
1 SGB VI auf die allgemeine Wartezeit angerechnet werden, deren Erfüllung gemäß §
46 Abs.
1 Satz 1
SGB VI Voraussetzung für den Anspruch auf eine Witwenrente ist. Gemäß §
1 Abs. 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten
haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto
in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag. Die Tatsachen, die den Anspruch auf Anerkennung von Beschäftigungszeiten
nach dem ZRBG begründen, müssen gemäß § 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) zumindest glaubhaft gemacht sein. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen,
die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Gefordert ist insoweit
mehr als die bloße Möglichkeit einer Tatsache, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es muss
aber die "gute Möglichkeit" bestehen, dass sich die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen so zugetragen haben, wie sie
von dem Betroffenen vorgetragen werden. Es muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Von verschiedenen
möglichen Geschehensabläufen muss der vorgetragene relativ gesehen am wahrscheinlichsten erscheinen (vgl. BSG, Urteile vom 17. April 2013 - B 9 V 1/12 R und B 9 V 3/12 R - jeweils juris). Diese Voraussetzungen erfüllte der Versicherte für die Anerkennung der Beitragszeiten.
Er war von dem persönlichen Anwendungsbereich des ZRBG erfasst. Er war als Verfolgter im Sinne des § 1 BEG anerkannt. Insbesondere
lebte er in der Zeit von Februar 1940 bis Februar 1942 in P zwangsweise in einem Ghetto, das - wie unstreitig ist - im nationalsozialistischen
Einflussbereich lag. Dies entnimmt der Senat den Angaben des Versicherten, die er im Entschädigungsverfahren gemacht hat,
dem Vortrag der Klägerin und den Gutachten des Historikers Prof. Dr. G vom 14. März und 15. Mai 2016.
In seiner eidesstattlichen Versicherung vom 6. Mai 1955 führte der Versicherte aus, in P hätten lediglich 9 jüdische Familien
gelebt, die im März 1942 in das benachbarte Ba evakuiert worden seien. Gleich nach Ausbruch des Krieges sei die Stadt von
den deutschen Truppen besetzt worden. Die Juden hätten eine Armbinde mit dem Judenstern tragen müssen. Im Februar 1940 sei
er in eine Zwangsarbeitskolonne eingereiht worden, die unter deutscher Bewachung täglich zur Arbeit zu einer 16 km entfernten
Straßenbaustelle hin- und zurückgeführt worden sei. Die Arbeit sei unter Bewachung erfolgt. Nach der Rückkehr von der Arbeit
sei es für die Juden lebensgefährlich gewesen, noch einmal auf die Straße zu gehen. Wer dieses gewagt habe, sei erschossen
worden. Auch in seinem eigenen Rentenantrag hatte der Versicherte angegeben, er habe Straßenbauarbeiten verrichten müssen.
Diese Schilderungen des Versicherten entsprechen dem Vortrag der Klägerin. Sie führte aus, die Wohnhäuser der jüdischen Bevölkerung
seien durch den Davidstern als "Judenhäuser" gekennzeichnet worden. Dieser Vortrag wird durch die Gutachten von Prof. Dr.
G bestätigt. Der Senat geht daher davon aus, dass es sich bei den Tatsachen um derzeit gesicherte historische Erkenntnis handelt.
Der Gutachter führte aus, dass die Datenlage über den Ort P sehr unvollkommen sei, dass jedoch die Annahme gerechtfertigt
sei, die Verhältnisse dort hätten denen im gesamten Kreisgebiet M geglichen. Im gesamten Generalgouvernement habe ab 1939/1940
für die Juden die Kennzeichnungspflicht und die Wohnsitzbindung bestanden. Nach der Verordnung vom 1. Januar 1940 sei es den
Juden verboten gewesen, den Wohnsitz zu wechseln und ihn ohne Genehmigung auch kurzzeitig zu verlassen. Sie hätten dem Arbeitszwang
unterlegen. Die Zahl der jüdischen Bevölkerung in P sei historisch nicht belegt, jedoch seien die Angaben des Versicherten
anhand der Entwicklungszahlen der Bevölkerung in dem Ort aus dem 19. Jahrhundert nachvollziehbar. In P habe es keinen Judenrat
gegeben, vielmehr sei der Judenrat in der Kreisstadt M für die umliegenden Gemeinden des Kreisgebiets zuständig gewesen. Dieser
habe auch die Arbeiten vermittelt. Der Straßenbau, an dem der Versicherte eigenen Angaben zufolge gearbeitet hat, sei historisch
belegt. Es sei eine Straße zu der Stadt S und dem dort befindlichen Stahlwerk gebaut worden. Die Arbeiten seien auch bezahlt
worden, entweder direkt durch die Auftraggeber oder über den Judenrat. Der Arbeitszwang sei nicht ausnahmslos durchgesetzt
worden, jedoch hätten sich die Juden bereitwillig zur Arbeit gemeldet, da sie anderenfalls gerade in den Landgemeinden kaum
eine materielle Lebensgrundlage gehabt hätten. Hierbei bezieht sich der Gutachter auf Zeugenaussagen. Er weist darauf hin,
dass, wie auch der Versicherte, die Juden die Arbeiten als Zwangsarbeiten aufgefasst hätten; dies müsse aber vor dem Hintergrund
interpretiert werden, dass sie aus ihren angestammten Berufen herausgetrieben worden seien und zur Sicherung ihres Überlebens
gezwungen gewesen seien, irgendwelche Arbeiten zu verrichten. Der Sachverständige bestätigte, dass wegen der kleinen jüdischen
Bevölkerungszahl eine Zusammenfassung in einem bestimmten Distrikt nicht möglich gewesen sei. Die von dem Versicherten und
der Klägerin behauptete Kennzeichnung der Häuser, in denen Juden lebten, bestätigte der Sachverständige nicht; er führte jedoch
aus, dass die Häuser der Juden in den kleinen Gemeinden angesichts der überschaubaren Verhältnisse als solche auch ohnehin
bekannt gewesen seien. Er bestätigte die strenge Kontrolle der Juden durch die deutsche Bevölkerung. Die Aussagen der Klägerin
über die Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen des Versicherten hält der Senat wegen der gutachterlichen Bestätigung der
historischen Verhältnisse für glaubhaft im Sinne einer guten Möglichkeit.
Diese Lebensverhältnisse erfüllen die Voraussetzungen für das Leben in einem Ghetto. Der Begriff des Ghettos ist im ZRBG oder
in der Gesetzesbegründung hierzu (vergleiche BT-Drs. 14/8583, Seite 1 ff) nicht definiert. Es ist ein unbestimmter Rechtsbegriff,
dessen Auslegung sich maßgeblich an dem Sinn und dem Zweck des ZRBG zu orientieren hat. Es kommt deshalb nicht entscheidend
darauf an, was historisch unter einem Ghetto zu verstehen ist oder von der Besatzungsmacht als solches bezeichnet wurde. Das
ZRBG soll Verfolgten für deren Beschäftigung während ihres Zwangsaufenthalts in einem vom Deutschen Reich zu verantwortenden
Ghetto eine Rente aus der Deutschen Rentenversicherung ermöglichen (BSG v. 2. Juni 2009 - B 13 R 81/08 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 5, Rn. 26; vergleiche Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion
DIE LINKE vom 8. Juni 2006, BT-Drs. 16/1955, Seite 1). Zwar ist das ZRBG als Reaktion auf die Ghetto-Rechtsprechung des BSG und in deren Akzeptanz verabschiedet worden (vergleiche BT-Drs. 14/8583, Seite 5; 14/8823, Seite 4; 15/1475, Seite 9; Antwort
der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 20. Juni 2007, BT-Drs. 16/5720, Seite 5).
Es erweitert jedoch in mehrfacher Hinsicht die Reichweite dieser Rechtsprechung, indem es eine unterschiedslose Regelung unabhängig
von lokal anwendbarem Recht, Größe und Struktur der Ghettos schafft (BSG vom 2. Juni 2009 - aaO und vom 3. Juni 2009 - B 5 R 26/08 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 8, Rn. 28).
Umgangssprachlich und unter historischem Bezug wurde unter einem Ghetto ein abgesondertes Wohnviertel verstanden, das ab dem
Spätmittelalter vor allem der Separierung der jüdischen Bevölkerung diente (vgl. Eintrag "Ghetto" bei Wikipedia). Es konnte
sich um einen Stadtteil oder eine Straße handeln, in der ausschließlich Juden wohnten. Es war ein eingegrenzter und von den
anderen Teilen der Stadt abgetrennter Bezirk. Während Ghettos aus historischer Sicht reguläre Wohnbezirke der jüdischen Bevölkerung
waren, dienten die Ghettos in den von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten anderen Zwecken; sie waren nicht
als getrennte Wohngebiete für Juden geplant, sondern stellten ein Übergangsstadium im Verlauf der "Endlösung der Judenfrage"
dar. Es gab verschiedene Formen von Ghettos, geschlossene oder offene (Amsterdam) oder einzelne bestimmte Häuser wie in Budapest
(Gutman u.a., Enzyklopädie des Holocaust, S. 535). Die Rechtsprechung zum ZRBG hat unter dem Blickwinkel der Zielrichtung
des Gesetzes einen weiten Ghetto- Begriff vertreten und es ausreichen lassen, dass der Aufenthalt der Juden rechtlich und
tatsächlich auf ein bestimmtes Wohngebiet beschränkt wurde und diese Beschränkung durch die Androhung schwerster Strafen bis
hin zur Todesstrafe durchgesetzt wurde. Die Aufenthaltsbeschränkung hatte eine Abtrennung der jüdischen von der übrigen Bevölkerung
zum Zweck (BSG vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 3, Rn. 84; LSG Baden-Württemberg vom 26. Januar 2010 - L 11 R 2534/09 - juris, Rn. 44). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat Kriterien herausgearbeitet, die für ein Ghetto kennzeichnend sind. Danach
zeichnet sich dieses durch die Absonderung, Konzentration und Internierung der jüdischen Bevölkerung aus. Die Absonderung
wird durch die Kennzeichnung mit dem Davidstern erzielt, die Konzentration erfolgt durch die Zusammenfassung der jüdischen
Bevölkerung der Stadt oder der weiteren Umgebung in einem Wohnbezirk, die Internierung durch die Zuweisung bestimmter zwingender
Wohnbezirke (LSG Nordrhein-Westfalen vom 15. Dezember 2006 - L 13 RJ 112/04 - juris, Rn. 32 ff; Urteil vom 13. Februar 2008 - L 8 R 153/06 - juris, Rn. 35). Das zwingende Merkmal der Konzentration in einem begrenzten Wohnbezirk hatte der 4. Senat des BSG aus § 43 Abs. 2 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgeleitet (BSG vom 14. Dezember 2006, aaO). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat jedoch bereits darauf hingewiesen (Urteil vom 1. September 2006
- L 14 41/05 - juris, Rn. 27), dass die NS-Machthaber eine vollständige und hermetische Abriegelung der jüdischen Bevölkerung
aus verschiedenen Gründen nicht realisieren konnten. Daraus folgte die große Zahl verschiedener offener Ghettos. (vgl. zu
den verschiedenen äußeren Verhältnissen in den Ghettos: Röhl, Vom historischen zum rechtlichen Ghettobegriff, NZS 2018, S.
514). Gemeinsam war allen Ghettos jedoch die fehlende Freizügigkeit der jüdischen Menschen. Das LSG Nordrhein-Westfalen hielt
es für maßgeblich, dass die Tätigkeit in einem Zeitraum ausgeübt wurde, in dem bereits eine aufgezwungene und kontrollierte
Separierung der jüdischen Bevölkerung in bestimmten Wohnbezirken faktisch realisiert und als Ausdruck behördlicher Beschränkungen
der Bewegungsfreiheit im Zusammenhang mit zunehmenden Verdrängungsmaßnahmen und in dem Zustrom weiterer Juden aufgrund von
Vertreibungsaktionen umgesetzt worden war (LSG Nordrhein-Westfalen vom 1. September 2006 - aaO).
Der Senat ist der Auffassung, dass an der "3-Elementen-Theorie" des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen als Grundsatz
festgehalten werden soll, weil diese im großen und ganzen die Lebensumstände widerspiegelt, die in den Ghettos im Generalgouvernement
in der Zeit der deutschen Besatzung während des Nationalsozialismus geherrscht haben. Das Merkmal der Absonderung war auch
bei dem Versicherten erfüllt, denn nach den Feststellungen des Senats war auch er nach dem Einmarsch der deutschen Truppen
sofort gezwungen, die Armbinde mit dem Davidstern zu tragen und sich als Jude kenntlich zu machen. Die jüdischen Familien
in P waren auch im oben bezeichneten Sinne interniert. Denn sie mussten in ihren Wohnungen verbleiben und durften aus ihnen
ohne Genehmigung nicht wegziehen. Sie waren in ihrer Bewegungsfreiheit auf die Wohnungen bzw. Häuser beschränkt und durften
diese nicht verlassen, es sei denn, dass sie zur Arbeit gingen und - dies unterstellt der Senat - zum Zwecke unerlässlicher
Besorgungen. Dabei standen sie auch unter Kontrolle entweder der deutschen Besatzungstruppen oder der volksdeutschen Bevölkerung.
Hierzu hat der Gutachter G ausgeführt, dass diese als im Ausland lebende Deutsche gelegentlich strenger auf die Einhaltung
der Vorschriften durch die jüdische Bevölkerung achteten als die reichsdeutsche Bevölkerung. Er hat ferner ausgeführt, dass
die "Volksdeutschen" sich häufig die Zwangslage der jüdischen Bevölkerung zu Nutze machten und diese zu ihren eigenen Zwecken
wirtschaftlich ausbeutete. Dieses hat der Gutachter durch Zeugenaussagen belegt.
Allerdings waren die Juden in P nicht konzentriert. Allein die Zahl von 50 bis 100 Juden ließ eine Konzentration in einem
bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk nicht zu und die Überschaubarkeit der örtlichen Verhältnisse erforderte diese auch nicht.
Vielmehr verblieben die Juden in ihren angestammten Häusern oder es wurden ihnen andere einzelne Häuser zugewiesen, in denen
sie leben mussten und die sie mit den oben genannten Ausnahmen nicht verlassen durften. Dies hindert jedoch nicht die Annahme,
dass die Juden in P gleichwohl in einem Ghetto gelebt haben. Denn wenn man an dem Erfordernis der Konzentration unter allen
Bedingungen festhalten würde, wären die Juden in den kleinen Landgemeinden, in denen eine sofortige Konzentration der jüdischen
Bevölkerung nach der Besetzung der polnischen Gebiete kurzfristig gar nicht möglich war, von der Anwendung des ZRBG ausgeschlossen.
Es ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der "Ghettoisierung" der Juden um einen längerfristig gestreckten Vorgang handelte,
der die verschiedenen Zwischenformen der Ghettobildung hervorrief. Dies belegt die Tatsache, dass auch der Versicherte wie
die übrige jüdische Bevölkerung von P und der anderen umliegenden Gemeinden im Februar/März 1942 kurzfristig nach Ba und anschließend
in das Zwangsarbeitslager B kam. Diese Umsiedlungen dienten der Konzentration der gesamten jüdischen Bevölkerung des Kreises
M. Ein Ausschluss der Bevölkerung der Landgemeinden von der Anwendung des ZRBG würde jedoch dem Gesetzeszweck nicht entsprechen.
Zweck des ZRBG soll es sein, im Rentenrecht den Rest an (Vertrags-)Freiheit der jüdischen Bevölkerung bei der Ausübung von
Tätigkeiten zu berücksichtigen, der diese einerseits von Zwangsarbeiten in Zwangsarbeitslagern und Konzentrationslagern abgrenzt
und andererseits nicht die erforderlichen Merkmale der freien Willensbetätigung und des Entgelts für eine Beschäftigung im
Sinne des §
7 Abs.
1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IV) aufweist ( vgl. BSG vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95 - SozR 3-5050 § 14 Nr. 1, Rn. 17; BSG vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 3, Rn. 104; vgl. auch BSG vom 3. Juni 2009 - aaO, Rn. 20 bis 22). Maßgeblicher Hintergrund für die Gesetzesregelung ist die Ausübung einer Beschäftigung
jenseits einer Zwangsarbeit unter weitestgehender Einschränkung der Freizügigkeit im Übrigen. Die Abgrenzung eines Ghettos
von einem Zwangslager oder Konzentrationslager ist bereits aufgrund deren struktureller Organisationsform hinreichend möglich,
jedoch ist eine Abgrenzung von einer freien Lebensform ohne obrigkeitlichen Ordnungszwang nur schwer vorzunehmen, in der Beschäftigungen
im Sinne des §
7 Abs.
1 SGB IV ausgeübt werden können. Sie muss sich an der Zielbestimmung des ZRBG ausrichten (Röhl, aaO, S. 16). Das bedeutet, dass es
auf die Einschränkung der Freizügigkeit, nicht jedoch auf die äußeren Organisationsmerkmale ankommt, mit denen diese Einschränkung
verbunden ist. Diese Merkmale gleichen bei dem Versicherten denjenigen, bei denen das Ghetto mit "Mauer und Stacheldraht"
(vgl. LSG Nordrhein-Westfalen vom 31. März 2008 - L 3 R 20/06 - juris, Rn. 37) abgegrenzt war. Die jüdische Bevölkerung im Kreis M war in der Lebensführung nach der insgesamt glaubhaften
Darstellung der Klägerin auf die bewohnten Häuser beschränkt und durfte sich abgesehen vom Weg zur Arbeit nicht daraus fortbewegen.
Damit war sie in weitaus stärkerem Maß in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt als in einem Ghetto im Sinne eines weitläufigeren
Wohnbezirkes (vgl. Ghetto Warschau). Denn dort stand es der jüdischen Bevölkerung frei, sich wenigstens innerhalb des Wohnbezirks
auf der Straße zu bewegen. Diese Möglichkeit hatte der Versicherte nicht. Wie oben ausgeführt, verlangt die Zielrichtung des
ZRBG, auf die Freiheitsbeschränkung als Grundlage für die Anerkennung der Beschäftigungszeiten abzustellen. Diese Beschränkung
war unter den Lebensverhältnissen in den kleinen Gemeinden des Kreises M - hier P - in gleicher Weise gegeben, wie in großen
Ghettos mit einer Konzentration der Juden der Stadt oder des Umlands. Allerdings muss diese Einschränkung der Freizügigkeit
auch tatsächlich gegeben sein, um die Beschäftigung in einem Ghetto im Sinne des § 2 Abs. 1 ZRBG von allen anderen Beschäftigungs-
und Lebensformen abzugrenzen und den Begriff des Ghettos nicht in Beliebigkeit ausufern zu lassen. Diese Voraussetzungen sind
dann gegeben, wenn die entsprechenden Teile der Bevölkerung als solche gekennzeichnet waren, ihre Freizügigkeit, der Wohn-
und ihr Lebensbereich eng begrenzt waren und sie keine oder allenfalls eine aufs Äußerste eingeschränkte Wahlmöglichkeit hinsichtlich
ihres Lebensbereichs hatten. Der Senat gelangt daher zu dem Schluss, dass es sich bei dem Merkmal der Konzentration der Juden
um einen historisch typischen Wesensbestandteil eines Ghettos handelt, der im Sinne des ZRBG weit auszulegen ist und in kleinen
Gemeinden auch Wohnformen umfasst, in denen das Leben der Juden auf ihre Häuser oder Wohnungen beschränkt ist.
Der Versicherte hat in der Zeit von Februar 1940 bis Februar 1942 eine Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 1 ZRBG ausgeübt.
Der Begriff der Beschäftigung in diesem Sinne erfasst jegliche Beschäftigung, die von Verfolgten ausgeübt wurde, während sie
sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben. Ist diese Voraussetzung erfüllt, bedarf es keiner besonderen Prüfung mehr,
ob Dienstleistungen oder Arbeiten, die außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos verrichtet wurden, Ausfluss der Beschäftigung
im Ghetto waren (BSG vom 2. Juni 2009 - B 13 R 139/08 R - aaO, Rn. 15; BSG vom 3. Juni 2009 - B 5 R 26/08 R - aaO, Rn. 18). Der Sachverständige G bestätigte den Straßenbau, an dem der Versicherte eigenen Angaben zufolge täglich
tätig war. Diese Arbeit verrichtete er auch aus eigenem Willensentschluss im Sinne des § 2 Abs. 1 ZRBG. Die Frage, ob ein
eigener Willensentschluss vorliegt, ist vor dem Hintergrund der wirklichen Lebenslage im Ghetto zu beurteilen. Danach liegt
eine aus eigenem Willensentschluss aufgenommene Beschäftigung vor, wenn der Ghettobewohner hinsichtlich des Zustandekommens
oder der Durchführung der Arbeit noch eine Dispositionsbefugnis zumindest dergestalt hatte, dass er die Annahme oder Ausführung
der Arbeit auch ohne Gefahr für Leib, Leben oder seine Restfreiheit ablehnen konnte (BSG vom 2. Juni 2009 - aaO, Rn. 20). Eine allgemein bestehende Arbeitsverpflichtung aufgrund gesetzlicher oder verwaltungsrechtlicher
Bestimmungen führt nicht dazu, von einer Zwangsarbeit auszugehen. Es ist nichts dafür erkennbar, dass der Versicherte gezwungen
wurde, in dem Straßenbau zu arbeiten. Der Sachverständige G führte hierzu aus, dass die Arbeitsverpflichtung für die jüdische
Bevölkerung gerade am Anfang der deutschen Besatzung noch nicht unmittelbar umgesetzt wurde oder werden konnte, dass jedoch
gerade die Juden in der ländlichen Umgebung sich "freiwillig" zu allen möglichen Arbeiten meldeten, um ihr materielles Überleben
zu sichern. Der Senat hält es daher für glaubhaft, dass der Versicherte nicht gezwungen wurde, im Straßenbau zu arbeiten,
sondern dass er auch die Möglichkeit gehabt hätte, entweder die Arbeit zu verweigern oder eine andere Arbeit auszuüben. Aus
dem Sachverständigengutachten geht hervor, dass in der Umgebung von M auch noch andere Arbeitsmöglichkeiten bestanden ( -Werke,
einzelne deutsche Arbeitgeber). Die freiwillige Arbeit hält der Senat daher für gut möglich. Diese erfolgte auch entgeltlich.
Hierzu hat der Sachverständige ausgeführt, dass die Arbeiten tatsächlich bezahlt worden seien, wobei unbekannt sei, ob dies
direkt durch die Arbeitgeber oder über den Judenrat erfolgte. Dieses ist jedoch unerheblich, denn Entgelt im Sinne des §§
1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b ZRBG umfasst jegliche Entlohnung in Geld oder Naturalform, ohne dass weitere Erfordernisse
erfüllt sein müssen (BSG vom 2. Juni 2009 - aaO, Rn. 25).
Nach alledem kommt der Senat zu der Überzeugung, dass in der Versicherung des J K die Voraussetzungen für die Anerkennung
von Beschäftigungszeiten für die Zeit von Februar 1940 bis Februar 1942 erfüllt sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Der Senat hat gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, da für den Ghettobegriff des ZRBG höchstrichterlich
eine weitergehende Abklärung erforderlich ist.