Feststellung eines Grades der Behinderung
Insulinpflichtige Diabetes-Erkrankung
Gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung
Tatbestand
Der am 00.00.1970 geborene Kläger begehrt einen Grad der Behinderung von 50 aufgrund seiner insulinpflichtigen Blutzuckererkrankung.
Am 21.10.2014 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Zuerkennung eines Grades der Behinderung aufgrund seiner Diabetes
Erkrankung. Er teilte mit, dass er selbst mindestens viermal pro Tag und zusätzlich abhängig von den Aktivitäten und Befunden
den Blutzucker messen müsse. Darüber hinaus setze er Insulin sowohl nach einem festen Plan als auch berechnet nach dem jeweiligen
Blutzuckerwert. Er habe Einschränkungen in seiner Lebensführung, etwa Einschränkungen bei der Nachtruhe, da er den Blutzucker
gegebenenfalls auch sehr spät noch einmal messen müsse, fehlenden Genuss bei Mahlzeiten, Angst vor Folgeerkrankungen, daher
häufiges Messen, aufwändig zu planende Geschäfts- und Urlaubsreisen, Unterbringung der Messungen im beruflichen Alltag, Empfindungsstörungen
sowie regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen.
Mit Bescheid vom 18.12.2014 stellte die Beklagte einen Grad der Behinderung von 40 aufgrund einer insulinpflichtigen Zuckerkrankheit
fest. Dagegen richtete sich der Widerspruch vom 20.12.2014. Der Kläger führte aus, der Grad der Behinderung sei zu niedrig
festgesetzt. Der therapeutische Aufwand, um den Blutzuckerspiegel stabil zu halten, bedeute eine extreme Behinderung. Angst
vor Folgeschäden sei ein täglicher Begleiter; sein Vater sei im Alter von 60 Jahren unter anderem an den Folgeschäden einer
Diabetes-Erkrankung verstorben. Um Folgeerkrankungen vorzubeugen, messe er häufig, mindestens viermal an normalen Tagen, im
Sommer oder beim Sport häufiger. Seine Fingerkuppen seien durch die Entnahme strapaziert. Im Alltag beschäftige er sich fast
ausschließlich mit der Erreichung guter Blutzuckerwerte. Er bevorzuge daher bekannte Gerichte und habe entsprechend Nachteile,
unbeschwert neue Gerichte zu probieren. Dies sei speziell auf Reisen ein großes Problem. Er müsse als Projektmanager häufig
reisen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 03.03.2015 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Bezirksregierung
wies darauf hin, dass bei der Beurteilung des Grades der Behinderung nicht berücksichtigt werde, ob die bestehende Beeinträchtigung
in einem bestimmten Beruf besonders hinderlich sei. Dies gelte auch für bevorzugte Freizeitaktivitäten.
Dagegen hat der Kläger am 31.03.2015 bei dem Sozialgericht Aachen Klage erhoben. Das Sozialgericht hat Befundberichte von
dem behandelnden Augenarzt Dr. L sowie dem behandelnden Hausarzt Dr. E eingeholt. Der Augenarzt kam zu der Einschätzung, dass
aus augenärztlicher Sicht ein Grad der Behinderung nicht zuzusprechen sei. Der Hausarzt berichtete, dass es weder zu Krankenhausaufenthalten
noch zu Arbeitsunfähigkeitstagen wegen Diabetes gekommen sei. Es bestehe ein Diabetes mellitus Typ I mit Augenkomplikationen,
der Diabetes sei nicht als entgleist zu bezeichnen. Der Patient messe selbst viermal täglich, zum Teil auch häufiger, den
Blutzucker. Die Spritzstellen seien ohne Befund. Die aktuell erhobenen Stoffwechselbefunde lägen im Normbereich.
Ferner hat das Sozialgericht ein Gutachten des internistischen Sachverständigen Dr. Q eingeholt. Dieser hat aufgrund einer
am 07.08.2015 durchgeführten ambulanten Untersuchung einen Diabetes mellitus Typ I diagnostiziert; die Blutzucker-Langzeitwerte
lägen im Normbereich. Es gebe an den unteren Gliedmaßen keine Störung der Oberflächensensibilität. Hinweise auf eine Polyneuropathie
seien nicht gegeben. Es liege eine stabile Stoffwechsellage vor. Es komme zu Unterzuckerungen, die jedesmal aber mit Traubenzucker
abgefangen werden könnten. Hinweise auf erhebliche Einschnitte, welche gravierend die Lebensführung beeinträchtigten, wie
etwa, dass sich trotz intensiver Bemühungen eine stabile Stoffwechsellage nicht realisieren lasse, lägen nicht vor.
Mit Urteil vom 27.10.2015 hat das Sozialgericht Aachen die Klage abgewiesen.
Das Sozialgericht hat erhebliche Einschnitte mit gravierender Beeinträchtigung der Lebensführung nicht gesehen. Zur Auslegung
hat es auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.12.2014, B 9 SB 2/13 R verwiesen. Zwar sei es zu Hypoglykämien gekommen, diese hätten allerdings durch die Gabe von Traubenzucker oder sonstige
Maßnahmen so abgefangen werden können, dass es nicht zu wesentlichen Auswirkungen gekommen sei. Akut notwendige Arzt- oder
Krankenhausaufenthalten habe es nicht gegeben. Über den - die Lebensführung einschränkenden - Therapieaufwand hinaus sei der
Kläger nicht noch zusätzlich durch eine schlechte Einstellungsqualität in seiner Teilhabefähigkeit am Leben in der Gesellschaft
erheblich beeinträchtigt.
Gegen das den Bevollmächtigten des Klägers am 05.11.2015 zugestellte Urteil haben diese am 10.11.2015 bei dem Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen Berufung eingelegt.
Der Kläger ist der Ansicht, die versorgungsmedizinischen Grundsätze seien so auszulegen, dass allein aufgrund des Therapieaufwandes
erhebliche Teilhabebeeinträchtigungen anzunehmen seien. Er fahre nicht unbeschwert in den Urlaub, weil er sich mit den fremden
Speisen nicht auskenne, er gehe auch nicht mehr zu Bekannten Essen. Sportliche Aktivitäten seien mit hohem planerischem Aufwand
verbunden. Aufgrund der Vorerfahrung mit der Erkrankung seines Vaters habe er nachts Panik vor einem Schock. Er lasse sich
deshalb zwischen 23:30 Uhr und 0:00 Uhr nochmals wecken, um den Blutzuckerspiegel zu messen. Das ständige Messen und die Injektionen
hätten zu Taubheit und Schmerzen geführt. Längere Besprechungen im beruflichen Alltag hätten eine Unregelmäßigkeit der Mahlzeiten
zur Folge.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 27.10.2015 zu ändern sowie den Bescheid der Beklagten vom 18.12.2014 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 03.03.2015 zu ändern und bei ihm einen Grad der Behinderung von 50 ab Antragstellung festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat den Sachverständigen Dr. Q sowie den behandelnden Hausarzt am 28.06.2016 ergänzend befragt. Der Sachverständige
Dr. Q hat berichtet, dass der Blutzucker sehr gut eingestellt sei. Der behandelnde Diabetologe habe bestätigt, dass schwere
Hypoglykämien nicht eingetreten seien. Es sei in Auswertung von 9,5 Monaten Aufzeichnungen aus dem Blutzuckermessgerät 42mal
zu Blutzuckerwerten unter 55 mg% gekommen. Es ergebe sich daher keine Notwendigkeit, um Mitternacht noch den Blutzucker zu
messen. Der Hausarzt hat berichtet, dass bei intensiver Insulintherapie Messungen bis zu sieben Mal pro Tag erfolgten, mindestens
allerdings viermal. Die Messungen seien zu den Mahlzeiten notwendig, vor der Autofahrt und bei möglichen Unterzuckerungen,
sowie am Abend. Einschnitte in die Lebensführung seien dann zu verzeichnen, wenn sich symptomatisch eine Unterzuckerung zeigte,
die Häufigkeit würde schwanken. Auch seien noch psychische Gesichtspunkte relevant.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist zulässig, in der Sache indes nicht begründet.
1) Das Sozialgericht Aachen hat seine zulässig erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1, §
56 Sozialgerichtsgesetz -
SGG-) zu Recht und mit zutreffender Begründung als unbegründet abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 18.12.2014 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2015 ist rechtmäßig.
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte aufgrund seiner insulinpflichtigen Zuckerkrankheit einen höheren
Grad der Behinderung als 40 ab Antragstellung feststellt.
Nach §
2 Abs.
1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden
abgestuft von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden festgestellt, §
69 Abs.
1 Satz 1 und Satz 4
SGB IX. Die weitere Präzisierung ergibt sich aus dem in §
69 Abs.
1 Satz 5
SGB IX idF. bis zum 14.01.2015 (aF.) in Bezug genommenen versorgungsrechtlichen Bewertungssystem, der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (VersMedV, BGBl.I 2412) sowie insbesondere den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) gemäß der Anlage zu § 2 der VersMedV. Zwischenzeitlichen Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 07.01.2015
(BGBl.II 15) durch Schaffung einer nunmehr eigenständig in §
70 Abs.
2 SGB IX angesiedelten Ermächtigungsgrundlage Rechnung getragen. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung
verbleibt es indes bei der bisherigen Rechtslage (vgl. §
159 Abs.
7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/2953 und 18/3190, S. 5).
Die Voraussetzungen nach Teil B, Ziffer 15.1 VMG für die Zuerkennung eines Grades der Behinderung von 50 liegen nicht vor.
Demnach beträgt der GdB 50, wenn (1) die an Diabetes erkrankten Menschen eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier
Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und
der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss, und (2) diese erkrankten Menschen durch erhebliche Einschnitte
gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind. Sie erleiden aufgrund dieses Therapieaufwandes eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung.
Die unter (1) genannten Voraussetzungen liegen bei dem Kläger vor und sind zwischen den Beteiligten nicht streitig. Streitig
ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger durch erhebliche Einschnitte gravierend in seiner Lebensführung beeinträchtigt
ist. Dies ist zur Überzeugung des Senates nicht der Fall.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung muss es zusätzlich zu den unter (1) dargestellten Kriterien zu einer gravierenden
Beeinträchtigung in der Lebensführung kommen - sei es bedingt durch den konkreten Therapieaufwand oder durch die jeweilige
Stoffwechselqualität oder wegen sonstiger gravierender Auswirkungen der Erkrankungen (dazu Landessozialgericht Sachsen-Anhalt,
Urteil vom 21.02.2012 - L 7 SB 20/11 -, [...] Rn. 39 ff; Urteil vom 26.04.2012 - L 7 SB 84/10 -, [...] Rn. 36 ff.); der Betroffene muss zudem auch krankheitsbedingt erheblich in der Lebensführung beeinträchtigt sein
(BSG, Urteil vom 25.10.2012 - B 9 SB 2/12 R -, [...] Rn. 37 ff.; Urteil vom 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R -, [...] Rn. 39 ff.).
Die Auffassung des Klägerbevollmächtigten, dass allein aufgrund des Therapieaufwandes von täglich mindestens vier Insulininjektionen
mit einer Anpassung der Dosis ein GdB von 50 zuzuerkennen ist, erweist sich daher als nicht zutreffend. Dies ergibt sich,
wie das Bundessozialgericht entschieden hat, eindeutig aus der Verbindung der beiden Satzteile in Teil B, Ziffer 15.1 VMG
durch das Wort "und".
Der Kläger ist über den genannten Therapieaufwand hinaus nicht "durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung
beeinträchtigt".
Der Großteil der vom Kläger benannten Einschränkungen sind Einschnitte, die mit jeder Form einer insulinpflichtigen Diabetes-Erkrankung
verbunden sind. Es handelt sich dabei weder um "erhebliche" Einschnitte im Sinne von Teil B, Ziffer 15.1 Abs. 4 VMG noch beeinträchtigen
diese die Lebensführung gravierend; solche Einschränkungen können für sich keinen Grad der Behinderung von 50 begründen. Dazu
gehören das Stechen in Fingerkuppe und Bauchdecke, das Mitführen von Nadeln, Insulin und Messgerät und das Einschätzen der
Mahlzeiten, regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen, höherer Aufwand der Planung bei Reisen und im Berufsleben.
Es liegen bei dem Kläger auch keine erheblichen Einschnitte aufgrund einer besonders instabilen Stoffwechsellage vor (dazu
BSG, Urteil vom 24.04.2008 - B 9/9a SB 10/06 R -, [...] Rn. 39, allerdings noch zu den "Anhaltspunkten fu&776;r die a&776;rztliche
Gutachterta&776;tigkeit im sozialen Entscha&776;digungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" -AHP-). Denn die Stoffwechsellage
des Klägers ist ausweislich des Sachverständigengutachtens und der Auskünfte des den Kläger behandelnden Diabetologen nicht
schwer einstellbar. Vor diesem Hintergrund ist die vom Kläger vorgetragene Einschränkung, er müsse immer die Anwesenden darüber
informieren, dass es zu Hypoglykämien kommen könne, nicht recht verständlich. Nach Ausführungen der Ärzte ist es bei ihm noch
nicht zu einer Hypoglykämie gekommen, welche nicht durch die Einnahme von Traubenzucker in ihren Folgen abgemildert werden
konnte.
Bei dem Kläger liegen auch keine schwerwiegenden Folgeerkrankungen, wie etwa eine Polyneuropathie, vor (zu diesem Aspekt:
Wendler/Schillings, VMG, 7. Aufl., S. 283). Die durch Diabetes ausgelöste Fehlsichtigkeit ist korrigierbar und korrigiert.
Es liegen auch keine Erkrankungen vor, welche dem Kläger das Messen oder die Therapie erschweren.
Zwar wurde in der Rechtsprechung ein Grad der Behinderung von 50 zuerkannt, wenn Messen, Dokumentation und Insulingabe des
Nachts erfolgen müssen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.12.2016 - L 13 SB 232/14 -, [...] Rn. 16). Dies ist allerdings bei dem Kläger objektiv nicht notwendig - und erfolgt darüber hinaus ausweislich der
Messprotokolle auch nicht in dem Maße, wie der Kläger dies angibt. Häufige Messungen, der eigenen Vorsicht um die Gesundheit
geschuldet, sind nicht medizinisch notwendig und müssen daher außer Betracht bleiben (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.11.2016
- L 13 SB 112/14 - [...] Rn. 17).
Darauf, ob das gute Niveau allein durch das Therapieverhalten erreicht wird und durch Vernachlässigen eine schlechtere Stoffwechsellage
herbeigeführt werden könnte, kommt es nicht an (BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R -, [...] Rn. 51).
Die Voraussetzungen für einen Grad der Behinderung von 50 gemäß Teil B, Ziffer 15.1 Abs. 4 VMG sind demzufolge nicht gegeben.
Weitere Erkrankungen, die den Kläger in seiner Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigen und welche zu einem höheren
Gesamt-Grad der Behinderung führen könnten, liegen bei dem Kläger nicht vor. Der Kläger ist durch seine Blutzuckererkrankung
nachvollziehbar psychisch belastet. Es ist aber weder vorgetragen noch erkennbar, dass dieser Belastung ein (eigener) Krankheitswert
zukommt.
Die Entscheidung des Sozialgerichts Aachen erweist sich damit als rechtmäßig, die Berufung konnte keinen Erfolg haben.
2) Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
3) Gründe, im Sinne von §
160 Abs.
2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor. Soweit der Klägerbevollmächtigte in der Berufungsschrift vorträgt, die Auslegung
von Teil B, Ziffer 15.1 Abs. 4 VMG durch das Bundessozialgericht in der genannten Entscheidung B 9 SB 2/13 R sei mit dem eindeutigen Wortlaut der VMG nicht zu vereinbaren, setzt er sich nicht weiter mit der umfangreichen Herleitung
durch das Bundessozialgericht, der sich der erkennende Senat angeschlossen hat, und durch die vorausgegangene LSG-Entscheidung
auseinander.