Rente wegen Erwerbsminderung
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag
der im Jahr 1970 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 29.6.2017 und Widerspruchsbescheid vom 29.11.2017 ab.
Im Klageverfahren hat das SG Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie ein Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie B vom 18.4.2019 eingeholt.
Danach sei die Klägerin noch in der Lage, vollschichtig leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit qualitativen
Leistungseinschränkungen zu verrichten. Auf den Antrag der Klägerin ist der Neurologe und Psychiater K gutachtlich angehört
worden. Dieser hat in seinem Gutachten vom 17.8.2019 festgehalten, die Klägerin könne nur noch weniger als drei Stunden täglich
erwerbstätig sein. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28.5.2020). Das LSG hat nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie M vom 8.2.2021
und einer ergänzenden Stellungnahme vom 13.4.2021 ebenfalls einen Rentenanspruch verneint und die Berufung zurückgewiesen.
Das LSG hat der Klägerin wegen missbräuchlichen Prozessierens Gerichtskosten in Höhe von 500 Euro auferlegt (Beschluss vom 10.1.2022).
Gegen die Nichtzulassung der Revision hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie macht den Zulassungsgrund der Divergenz sowie verschiedene Verfahrensfehler geltend (§
160 Abs
2 Nr
2 und
3 SGG).
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, weil sie nicht in der nach §
160a Abs
2 Satz 3
SGG gebotenen Form begründet ist. Die Beschwerde ist daher gemäß §
160a Abs
4 Satz 1 iVm §
169 SGG zu verwerfen.
1. Soweit die Klägerin geltend macht, das Berufungsgericht sei in mehrfacher Hinsicht von der höchstrichterlichen Rechtsprechung
abgewichen, hat sie eine Divergenz iS von §
160 Abs
2 Nr
2 SGG nicht hinreichend dargelegt. Eine solche liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde
gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz
in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt nicht
schon dann vor, wenn die Entscheidung des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt hat.
Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies, dass die Beschwerdebegründung erkennen lassen muss, welcher abstrakte Rechtssatz
in der höchstrichterlichen Entscheidung enthalten ist und welcher in der Entscheidung des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im
Widerspruch steht (vgl BSG Beschluss vom 11.3.2021 - B 5 R 296/20 B - juris RdNr 9 mwN). Diese Darlegungserfordernisse erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
Die Klägerin bezieht sich zunächst auf die Rechtsprechung des BSG zum Recht der Beteiligten, Fragen an Sachverständige zu stellen, unabhängig davon, ob das Gericht ein Gutachten für erläuterungsbedürftig
hält. Die Klägerin zitiert dazu ua einen Beschluss vom 17.4.2012 (B 13 R 355/11 B - juris RdNr 14 mwN) und entnimmt dem Beschluss vom 14.3.2019 (B 5 R 22/18 B - juris RdNr 33) als abstrakten Rechtssatz: "Abgelehnt werden kann ein solcher Antrag prozessordnungsgemäß nur dann, wenn er rechtsmissbräuchlich
gestellt ist, wenn die an den Sachverständigen zu richtenden Fragen nicht hinreichend genau benannt oder nur beweisunerhebliche
Fragen angekündigt werden." Dem stellt sie jedoch keinen davon abweichenden abstrakten Rechtssatz des LSG gegenüber. Sie führt
vielmehr aus, das LSG habe "gegen diese Vorgaben" verstoßen, indem es ihren Anträgen auf mündliche Anhörung des Sachverständigen
M und des schriftlich befragten behandelnden Arztes P nicht gefolgt sei. Ungeachtet dessen, dass P schon kein Gutachten iS
der zitierten Rechtsprechung erstellt hat, ist es zur Begründung einer Divergenzrüge jedenfalls nicht ausreichend, wenn die
fehlerhafte Anwendung eines als solchen nicht in Frage gestellten höchstrichterlichen Rechtssatzes durch das Berufungsgericht
geltend gemacht wird (bloße Subsumtionsrüge), denn nicht die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall, sondern nur eine
Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen ermöglicht die Zulassung der Revision wegen Divergenz (stRspr; zB BSG Beschluss vom 10.8.2021 - B 5 R 108/21 B - juris RdNr 11 mwN).
Entsprechendes gilt auch, soweit die Klägerin ein Abweichen des LSG von der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei seiner
Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und beim Abfassen der Entscheidungsgründe rügt. Auch dazu gibt sie Ausführungen des
BSG wörtlich wieder (ua Beschluss vom 14.3.2019 - B 5 R 22/18 B - und Beschluss vom 30.3.2017 - B 2 U 181/16 B), macht aber ebenfalls nur eine fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall geltend, weil das Berufungsgericht trotz nicht geklärter
entscheidungserheblicher Tatsachenfragen von einer mündlichen Verhandlung abgesehen und in den Entscheidungsgründen nicht
die Mindestanforderungen an das Gutachten von B (Angaben zu Namen, Anschrift und fachlicher Qualifikation des bei der Begutachtung
anwesenden Dolmetschers) erörtert habe. Abstrakte Rechtssätze des LSG dazu benennt die Klägerin ebenfalls nicht und damit
auch keine Nichtübereinstimmung mit höchstrichterlicher Rechtsprechung im Grundsätzlichen.
2. Auch Verfahrensmängel iS von §
160 Abs
2 Nr
3 SGG hat die Klägerin nicht hinreichend bezeichnet.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung
beruhen könne (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG) zunächst die Umstände, aus denen sich der Verfahrensfehler ergeben soll, substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist
es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem
Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 Satz 1
SGG und auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist. Auch diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung der Klägerin nicht.
a) Wird ein Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht geltend gemacht, muss die Beschwerdebegründung hierzu
jeweils folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, bis zum Schluss
aufrechterhaltenen Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund derer
bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag berührten
Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen
Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme
beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt
aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (stRspr; vgl BSG Beschluss vom 15.6.2021 - B 5 R 52/21 B - juris RdNr 7 mwN).
Die Klägerin rügt einen Verstoß gegen §
103 SGG ohne darzulegen, prozessordnungsgemäße Beweisanträge vor dem LSG gestellt zu haben. Dazu muss aufgezeigt werden, über welche
im Einzelnen bezeichneten Punkte (vgl §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
403 bzw §
373 ZPO) und mit welchem Ziel Beweis erhoben werden sollte, und dass es sich damit seinem Inhalt nach nicht nur um eine Beweisanregung
gehandelt hat. Die Klägerin verweist auf verschiedene Schriftsätze, mit denen sie mündliche Einvernahmen des Zeugen I (mit Schriftsatz vom 10.5.2021), des Sachverständigen M und des behandelnden Arztes P (mit Schriftsätzen vom 10.5.2021 und vom 29.11.2021) beantragt habe. Aus der Beschwerdebegründung geht jedoch weder hervor, mit welchem Inhalt dies im Einzelnen beantragt worden
ist, noch, zu welchem Ergebnis eine weitere Beweisaufnahme voraussichtlich gekommen wäre. Nähere Ausführungen wären insbesondere
deshalb erforderlich gewesen, weil zu den Umständen der Begutachtung durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie M der
Dolmetscher I vom LSG schriftlich befragt sowie der Sachverständige M um eine ergänzende Stellungnahme gebeten worden ist.
Auch die schriftlichen Eingaben des P (zuletzt mit Schreiben vom 4.5.2021) sind bereits aktenkundig gewesen. Welche weiteren Erkenntnisse eine mündliche Befragung dieser Personen hätte bringen können,
erläutert die Klägerin nicht. Soweit sie darüber hinaus geltend macht, "denknotwendigerweise" sei die Einholung eines weiteren
Sachverständigengutachtens durch das LSG zu veranlassen gewesen, fehlt es ebenfalls an weiteren Ausführungen zu einem prozessordnungsgemäß
gestellten Beweisantrag.
Mit ihrem weiteren Vorbringen, das LSG habe sich zu den Umständen der Begutachtung durch den Sachverständigen M auf eine der
schriftlich erteilten Auskunft des Dolmetschers I "diametral entgegenstehende Annahme" gestützt und den Angaben des behandelnden
Arztes P sowie des Sachverständigen M überraschend keine Entscheidungsrelevanz beigemessen, sich dagegen auf das erstinstanzlich
eingeholte Gutachten von B gestützt, rügt sie eine fehlerhafte Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht. Auf eine Verletzung
des §
128 Abs
1 Satz 1
SGG kann eine Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein nicht gestützt werden (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG). Die in Bezug genommenen Ausführungen des LSG verhalten sich im Übrigen nicht zu materiellen Fragen der Erwerbsminderung,
sondern zur Notwendigkeit weiterer Ermittlungen und zu den Voraussetzungen des §
192 Abs
1 SGG.
b) Auch eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§
62 SGG) hat die Klägerin nicht hinreichend bezeichnet. Von einer Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich
das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger
Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr; vgl BSG Beschluss vom 13.4.2022 - B 5 R 291/21 B - juris RdNr 21 mwN). Der Verfahrensmangel einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen
wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen
musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt. Daran fehlt es hier.
Die Klägerin macht geltend, erstmalig werde in den Entscheidungsgründen der Berufungsentscheidung ausgeführt, dass dem Gutachten
des Sachverständigen M keine Entscheidungserheblichkeit beigemessen werde. Das LSG habe dazu im Widerspruch eine Rücknahme
der Berufung ausdrücklich aufgrund der von Herrn M festgestellten Aggravationstendenzen der Klägerin angeregt. Aus welchen
Gründen die Klägerin angesichts des bisherigen Verfahrensablaufs, insbesondere ihres selbst angeführten umfangreichen Vorbringens
gegen die Umstände der abgebrochenen Begutachtung durch den Sachverständigen M und ihres gegen diesen gestellten Befangenheitsgesuchs,
nicht damit rechnen musste, dass sich das LSG letztlich nicht auf dessen Feststellungen stützen wird, legt die Beschwerdebegründung
nicht dar. Mit ihrem weiteren Vorbringen, das LSG sei einzig den Angaben des Sachverständigen B gefolgt, macht sie im Ergebnis
eine fehlerhafte Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht geltend. Dies kann nach §
160 Abs
2 Nr
3 SGG mit einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht gerügt werden.
c) Die Klägerin rügt zudem eine Verletzung der Begründungspflicht, indem sich das LSG auf das Gutachten von B gestützt habe,
ohne hinreichend zu erörtern, dass dieses ohne Angaben zur Person des beigezogenen Dolmetschers abgefasst worden war. Nach
§
128 Abs
1 Satz 2
SGG und §
136 Abs
1 Nr
6 SGG sind im Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das Gericht muss nicht jeden
Gesichtspunkt, der erwähnt werden könnte, ausdrücklich abhandeln. Aus den Entscheidungsgründen muss aber ersichtlich sein,
auf welchen Erwägungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht die Entscheidung beruht (stRspr; vgl BSG Beschluss vom 22.12.2021 - B 5 R 175/21 B - juris RdNr 7 mwN). Dass diesen Erfordernissen nicht genügt sein könnte, hat die Klägerin nicht aufgezeigt. Inwiefern die Berufungsentscheidung
darauf beruhen kann, dass Angaben zur Person des bei der Begutachtung durch B anwesenden Dolmetschers in den Entscheidungsgründen
fehlen, geht aus der Beschwerdebegründung ebenfalls nicht hervor.
d) Schließlich hat die Klägerin auch keinen Verfahrensmangel anforderungsgerecht bezeichnet mit ihrem Vorbringen, auch das
LSG habe nicht über ihren bereits vor dem SG gestellten Antrag entschieden, den Sachverständigen B wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Ungeachtet der Frage,
ob und ggf in welchen Fällen dies im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich gerügt werden kann (zur Zurückweisung der Sache im Revisionsverfahren vgl die Nachweise bei BSG Beschluss vom 22.4.2022 - B 5 R 314/21 B - juris RdNr 10), zeigt die Klägerin bereits nicht auf, die Ablehnung des Sachverständigen tatsächlich beantragt und einen solchen Antrag
im Berufungsverfahren weiter aufrechterhalten zu haben. Der Verweis auf einen in der Gerichtsakte des SG befindlichen Schriftsatz vom 5.2.2019 reicht insoweit nicht aus (vgl zur ohnehin nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässigen Bezugnahme auf vorinstanzlich eingereichte Schriftsätze zB
BSG Beschluss vom 15.2.2011 - B 12 KR 53/10 B - juris RdNr 5 mwN; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
160a RdNr 13a).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§
160a Abs
4 Satz 2 Halbsatz 2
SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.